Читать книгу Stimme des Blutes - Gloria Murphy - Страница 6

Kapitel 3

Оглавление

David durchschaute Erins Katz-und-Maus-Spiel sofort. Schließlich war es ein Spiel, das er nur zu gut kannte, denn Fletcher hatte es oft genug mit ihm getrieben. Natürlich war David für Fletcher stets die Maus, die jedesmal erschrocken zusammenzuckte, wenn die Katze die Pfoten mit den scharfen Krallen hob. Manchmal tat Fletcher es, um sein Gesicht zu zerkratzen, manchmal aber nicht. Der Sinn des Spiels bestand darin, daß die Maus es nie genau wußte. So war es in jedem Fall besser, zusammenzuzucken. Mit Erin war es das gleiche Verhaltensmuster. Hatte sie ihrer Mutter schon von der Zeitschrift erzählt, die sie bei ihm auf der Kommode entdeckt hatte? Er bemühte sich, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben: hätte Chris in diesem Fall beim Frühstück nicht etwas zu ihm gesagt, statt ihm den Schlüssel zur Dunkelkammer zu geben?

Aber Sorgen hin oder her, er hatte einiges zu erledigen, und so machte er sich auf den Weg. Als erstes kaufte er die BOSTON GLOBE, las die Stellenangebote durch und kreuzte einige an. Nach zwei erfolglosen Vorstellungsgesprächen betrat er einen heruntergekommenen Laden für gebrauchte Elektrogeräte im hinteren Hafengebiet Bostons. Er stand einem Mann namens Tony Stellano gegenüber.

Der Mann reichte ihm seine dicke, kantige Pranke, die in keinem Verhältnis zu seinem schmächtigen Körperbau stand. »Man nennt mich Steel«, sagte er. Als David seine Hand ergriff, wußte er, warum. Er war sich nicht ganz sicher, ob Steel ihm absichtlich weh tat. Ein dumpfer Schmerz schlich in seinem Arm empor, und er hatte große Mühe, ihm die Hand nicht sofort zu entziehen.

»David Crane«, erwiderte er. »Ich bin wegen der Stelle hier.«

Steel ließ endlich seine Hand los, und David versteckte sie hinter seinem Rücken, damit er seine Finger entkrampfen konnte.

»Hast du schon Erfahrung?« fragte Steel.

»Ein bißchen. Ich habe zwei Jahre lang nach der Schule in einer Wäscherei gearbeitet – Waschmaschinen und Trockner repariert, wenn sie ausfielen.«

»Schon mal einen Fernseher repariert?«

David schüttelte den Kopf. »Aber ich habe schon mal eine Stereoanlage aus lauter Einzelteilen zusammengebaut.« Er hatte sein Geld gespart – drei Dollar die Woche, die ihm Fletcher von seinem Lohn übrigließ –, davon alle Teile gekauft und eine verdammt gute Stereoanlage gebaut. Sie war so gut, daß Fletcher sie nahm und für fünfhundert Dollar verkaufte. Einen Teil des Gewinns steckte er in einen neuen Vergrößerungsapparat für das Fotolabor. »Ein Geschenk für uns beide«, erklärte Fletcher. Allein der Gedanke daran ließ ihn kraftlos werden, so als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Er fixierte Steels Gesicht und versuchte, sich daran festzuhalten.

Dieses Gesicht war jetzt so nahe, daß David die Pockennarben zählen konnte, die in die Haut eingestanzt schienen. »Was ist los, Junge. Bist du überhaupt noch da?«

»Verzeihung. Ich habe nur nachgedacht.«

»Bei mir gibt es eine feste Regel. Keine Drogen während der Arbeit. Was du in deiner Freizeit machst, geht mich nichts an.«

»Ich nehme keine Drogen.«

Der Mann musterte ihn von Kopf bis Fuß mit einem strengen Blick, als wollte er seine Maße nehmen. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs fettige, schwarze Haar und kratzte sich. »Ich brauche dich nur halbtags, verstehst du? Montags bis freitags von zehn bis drei.«

David nickte.

»Ich bezahle nur das Minimum.«

»Geht in Ordnung.«

»Komm morgen um zehn und wir werden sehen, was du kannst.«

Als David den Laden verlassen hatte, ging er über die Straße in eine Telefonzelle, wo er die gelben Seiten durchblätterte, bis er den Eintrag ›Fotozubehör‹ fand. Er notierte eine Adresse auf ein Stück Papier und wollte gerade gehen, als er plötzlich innehielt. Ein Polizist kam gerade vorbei, er schwang spielerisch seinen Schlagstock. David machte die Tür zur Telefonzelle wieder zu, nahm den Hörer in die Hand und tat so, als führte er ein Gespräch. Als er erneut aufsah, war der Polizist verschwunden. Er stieß die Tür auf, rannte zu seinem Wagen und hockte sich hinters Steuer. Kaum zwanzig Minuten später befand er sich auf dem Heimweg. Der Kofferraum war vollgeladen mit Fotozubehör: Papier, Entwickler, Stopp- und Fixierbad.

Erst als er in die leere Einfahrt einbog, fiel ihm ein, daß er keinen Haustürschlüssel besaß. Ihm blieb nichts anderes übrig, als auf Chris zu warten, oder auf Erin. In dem Moment mußte er wieder an Erins Drohungen denken. Er begann, mit den Fingern auf das Armaturenbrett zu trommeln. Je mehr er darüber nachdachte, um so weniger konnte er verstehen, warum sie dieses Spiel überhaupt begonnen hatte. Nicht, daß ihre Gründe so wichtig waren, aber die Tatsache, daß sie ihn als Gegner ausgemacht hatte, war schon von Bedeutung.

Er nahm die Hände vom Armaturenbrett und schaltete das Radio ein. Ein ruhiges Instrumentalstück ertönte. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und ließ sich sein Gesicht durch die Windschutzscheibe von der Sonne erwärmen. Kurz darauf hatte er das Gefühl, in einem völlig dunklen, verschlossenen Raum zu sein ... und er ließ sich treiben. Er fühlte sich sicher.

David vernahm das Kichern, bevor er erkennen konnte, woher es kam. Als er es bemerkte, zuckte sein Körper zusammen, so daß er mit dem Kopf ans Lenkrad stieß. Jetzt war er ganz aufgewacht und rieb sich die Stirn.

Erin machte die Tür auf. »Habe ich dich erschreckt?«

Er antwortete nicht, sondern rieb sich weiter die Stirn. Sie zuckte die Achseln. »Bist du ausgesperrt?«

Er schaltete das Radio ab, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Sie kam hinterher.

»Was hast du da?«

Er nahm die Flaschen und das Papier heraus und stellte alles auf den Kiesweg.

»Das Zubehör für die Dunkelkammer!« rief sie. »Ausgezeichnet. Ich dachte schon, du hättest es vergessen, aber das hast du nicht. Jetzt können wir dein Fotolabor einrichten, und du kannst mir alles beibringen ...«

»Ich würde dir gerne beibringen, wie du deinen Motor abstellst.«

»Was soll das denn heißen?«

»Das weißt du ganz genau, Erin. Es würde überhaupt nichts schaden, wenn du lernen würdest, dein Mundwerk zu bremsen und wie ein normaler Mensch zu reden. Vielleicht brauchst du dafür Nachhilfe. Oder vielleicht kann ich für dich die Batterien rausnehmen.«

Sie starrte ihn an, dann beugte sie sich vor. »Ich helfe dir, die Sachen reintragen«, sagte sie, indem sie zwei Literflaschen nahm und zusammen mit ihren Schulbüchern zu tragen versuchte. Er übernahm den Rest.

»Komm mit«, sagte sie. »Ich habe einen Schlüssel.«

»Darauf wäre ich auch von selbst bekommen.«

Als sie im Haus waren, folgte Erin David bis vor seine Zimmertür. Dort ließ er sie nicht weiter. »Du kannst alles hier abstellen«, sagte er.

»Hast du Angst, ich könnte noch mehr von deinen ekelhaften Geheimnissen entdecken?«

»Ich mag einfach keine Schnüffler, und ich habe den Verdacht, daß du ein sehr guter bist.«

Sie stellte die Chemikalien auf den Boden. »Ich bringe nur die Bücher in mein Zimmer, dann helfe ich dir beim Einräumen.«

»Wer sagt, daß ich das zulasse?«

Sie seufzte. »Vielleicht sollten wir lieber mit diesen Spielen aufhören, David. Wie ich die Sache sehe, hast du gar keine andere Wahl. Meine Mutter und mein Vater sind zwar recht aufgeschlossen, aber nicht, wenn es um schmutzige Bilder geht. Mich persönlich läßt das völlig kalt, aber um mich geht’s ja nicht. Wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

Er beschloß, es darauf ankommen zu lassen: »Über was habt ihr euch heute morgen unterhalten, du und deine Mutter?«

Sie grinste neckisch und klimperte vielsagend mit den Augendeckeln. Er hob seine Hand und legte sie auf ihren Hinterkopf. Mit einer schnellen Bewegung nahm er eine Handvoll Haare, ballte seine Faust ... und zog fest. Sie versuchte nicht, sich loszureißen, denn sein Griff war sehr kräftig, und ein Widerstand wäre sinnlos gewesen.

»Sag’s mir«, verlangte er.

»Laß mich los!«

»Sag’s mir erst.«

»Meine Mutter hat mich gebeten, zu versuchen, mit dir auszukommen. Das war alles.«

»Und was hast du gesagt?«

»Laß los, und dann sag’ ich’s dir.«

Er lockerte seinen Griff und ließ dann ganz los.

»Ich sagte, ich würde es versuchen.«

»Und was noch, Erin?«

»Gar nichts. Noch nichts.«

Sie standen sich gegenüber und starrten sich gegenseitig an, um zu testen, wer als erster ausweichen würde. Es war David. Erblickte auf seine Schuhe hinunter. »Wenn du wirklich helfen möchtest, dann beweg dich. Ich fange gleich an.« Erin rannte den Flur entlang, um ihre Bücher wegzubringen. David schaute ihr hinterher, als sie in ihrem Zimmer verschwand, und fragte sich, was sie davon abhalten würde, ihrer Mutter alles auszuplaudern und somit auch alles zu zerstören.

Er wußte, es klang verrückt – immerhin kannte er Chris erst vierundzwanzig Stunden –, aber er konnte nicht zulassen, daß so etwas passierte.

Erin reichte David ein Brett, das sie im Keller gefunden hatte, und er legte es auf die Winkel. Es paßt genau. Eine lange Arbeitsplatte zog sich über die ganze Länge des Zimmers bis zum Spülbecken in der hinteren rechten Ecke. Er betrachtete die Regale darüber. Sie hatten von oben bis unten alles geputzt; das Zimmer begann langsam, Gestalt anzunehmen.

»Können wir jetzt die Ausrüstung reinbringen?« Erin war schon unterwegs, eine Kiste im Flur zu holen.

»Mach mal langsam. Das Zeug ist teuer.«

»Hab doch ein bißchen Vertrauen«, sagte sie, als sie das Teuerste von allem hereintrug.

David nahm ihr den Vergrößerungsapparat ab und stellte ihn am linken Ende der Arbeitsfläche auf. »Geh und hol die Schalen.«

In Sekundenschnelle war sie wieder da und hielt die drei Plastikschalen in der Hand. »Wo möchtest du sie hin haben?«

»Stell sie in eine Reihe neben das Becken.« Er brachte die Chemikalien herein und stellte sie oben auf das Regal. »Wir werden ein paar größere Flaschen brauchen, zwei Liter oder so.«

»Wofür denn?«

»Um die Lösungen zu lagern.«

»Wie wäre es mit den Milchflaschen aus Plastik?«

Er zuckte die Achseln. »Wenn sie sauber sind, okay.«

Während Erin losrannte, um die Flaschen zu suchen, stellte David die restlichen Geräte auf. Bis sie zurückkam, war alles an seinem Platz. Chris war Erin gefolgt.

»Darf ich einen Blick reinwerfen?« fragte sie.

David ging zur Seite, um sie hereinzulassen. »Sicher. Komm rein.«

Sie trat ein, ihre Arme vor der Brust verschränkt. Aber als sie sich umgesehen hatte, ließ sie die Arme fallen und sah David mit einem Lächeln an. »Ich bin sehr beeindruckt. Es sieht so professionell aus.«

»David ist ein richtiger Putzteufel«, warf Erin ein. »Kannst du glauben, daß er sogar die Decke geschrubbt hat?«

David merkte, wie er errötete.

Chris’ Lächeln verschwand. »Vielleicht könntest du dir eine Scheibe davon abschneiden«, sagte sie. »Nicht jeder sieht Sauberkeit und gewissenhaftes Arbeiten als schlechte Eigenschaften an.«

»So habe ich es nicht gemeint«, erwiderte Erin.

»Es hat sich aber so angehört.«

Totenstille.

Endlich brach Chris das Schweigen. »Das Essen ist in zwanzig Minuten fertig. Wenn ihr euch losreißen könnt, sehen wir uns um sechs Uhr im Eßzimmer.« Sie ging hinaus, drehte sich aber noch einmal um. Vielleicht war es nur die Reflexion des Lichtes auf ihr – David war sich nicht sicher –, aber in dem Moment wirkte ihr Gesicht fast so, als existierte es wieder nur in seinem Traum. Er wollte die Hand ausstrecken und das Gesicht berühren, um sich zu vergewissern, daß es auch wirklich da war. Aber er tat es natürlich nicht. Statt dessen stand er einfach da und wartete, bis sie etwas sagte.

»David, ich habe es Erin heute schon erzählt. Die Ärzte werden Neil am kommenden Montag entlassen.«

»Das ist eine gute Nachricht«, sagte er, obwohl er nicht ganz sicher war, ob er es ehrlich meinte.

Sie lächelte wieder. »Vielleicht setzen wir uns nach dem Essen zusammen und sprechen darüber. Ich möchte ganz gerne, daß ihr beide wißt, was auf euch zukommt.«

Er nickte. Aus seinen Augenwinkeln konnte er beobachten, wie Erins Blick zwischen seinem Gesicht und dem ihrer Mutter hin und her wanderte, so als wäre sie ein Eindringling, der ein privates Gespräch belauschte. Chris drehte sich um und verschwand. Aber sein Blick blieb an der Stelle haften, an der sie in der Tür gestanden hatte.

»Du magst meine Mutter wirklich gerne, nicht wahr?« Eine Behauptung, keine Frage. Er wollte nicht darauf antworten.

»Warum?« fragte sie schließlich.

David zuckte die Achseln. »Sie erinnert mich an jemanden, den ich kannte.«

Erin sah ihn an, und ihre dunklen Augen wurden dabei ganz schmal. Winzige Falten bildeten sich auf ihrer Stirn, und sie verschränkte die Arme. Dies waren ein Ausdruck und eine Haltung, die ihm schon an Chris aufgefallen waren, aber bei Erin sah es bei weitem nicht so gut aus. Er drehte sich um und begann mit dem Abmessen des Pulvers für die Entwicklerlösung. Erin schaute ihm über die Schulter. »Weißt du, ich habe mir wirklich nichts Böses dabei gedacht, als ich dich einen Putzteufel genannt habe. Das war nur ein Scherz.«

Er steckte den Trichter in die Milchflasche und goß das Pulver hinein. »Vergiß es.«

»Hast du das schon gemacht, als du klein warst?«

»Was gemacht?«

»Bilder gemacht und entwickelt.«

Er mußte einen Augenblick überlegen. »Ja, als ich sehr klein war, sogar. Wenn ich darüber nachdenke ... solange ich mich erinnern kann.«

»Und wie lang ist das?«

Er sah sie verdutzt an.

»Du weißt, was ich meine. Wie lang kannst du dich zurückerinnern? Mein Vater und ich haben einmal ein Spiel erfunden. Es bestand darin, sich an Dinge zu erinnern, die man glaubte, vergessen zu haben.«

»Das klingt ein bißchen blöd.«

»Vielleicht. Aber es hat Spaß gemacht. Mein Vater sagt, daß wir jede Menge Erinnerungen in uns haben, und wenn man sein Gehirn trainiert und sich richtig konzentriert, werden allerhand Erinnerungen wach.«

»Und für was soll das gut sein?«

Erin zuckte die Achseln. »Vielleicht ist es nur eine angenehme Weise, etwas über einen anderen Menschen zu erfahren. Zum Beispiel hat mein Vater mir viele Geschichten von seiner Kindheit erzählt. Und einmal erinnerte ich mich an etwas, was passierte, als ich erst vier Jahre alt war.«

»Was war das?«

»Na ja ... es war nicht ganz klar. Ich war von der Treppe vor der Haustür gefallen, und meine Lippe mußte genäht werden. Eigentlich habe ich mich an diesen Teil der Geschichte nicht mehr erinnern können. Erinnern konnte ich mich aber an meinen Vater im Aufnahmeraum, wie er versuchte, mich mit allerlei komischen Fratzen zum Lachen zu bringen.«

»Und hast du gelacht?«

»Nein, da noch nicht. Aber bestimmt später.« Sie lächelte. »Wie weit kannst du dich zurückerinnern, David? Laß uns spielen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Ich glaube, es würde mir keinen Spaß machen.« Nach kurzem Schweigen fragte er: »An was hat sich dein Vater denn erinnert?«

»An eine ganze Menge. Seine Eltern waren sehr streng. So mußte er sich aus dem Haus durch sein Schlafzimmerfenster schleichen, um mit seinen Freunden spielen zu können.«

»Haben ihn seine Eltern jemals dabei erwischt?«

»Nein, nie. Und jetzt sind sie tot.« Sie lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und schaute an die Decke. »Weißt du, eine Zeitlang nahm ich auch an, daß mein Vater gestorben sei.«

»Du meinst, als er krank wurde?«

»Ja ...«

»Aber du hast erfahren, daß er nicht tot war.«

»Nun... meine Mutter sagte, er sei nicht gestorben. Aber niemand hat mir erlaubt, ihn zu sehen. So dachte ich, daß sie mich vielleicht anlügt, und er in Wirklichkeit doch tot ist.«

»Vermutlich war er zu krank, um dich zu sehen.«

»Er war aber nicht zu krank, um meine Mutter zu sehen. Sie ist jeden Tag hingegangen. Und Craig auch. Craig ist sein Assistent – aber ich bin doch seine Tochter!«

»In vielen Krankenhäusern dürfen Kinder niemanden besuchen. Vielleicht war das der Grund.«

»Man muß nur zwölf sein, und ich bin schon dreizehn.« Wie immer hatte Erin das letzte Wort. Aber im Gegensatz zu sonst, dachte David, triumphierte sie dieses Mal nicht. Dieses Mal blickte sie erwartungsvoll zu ihm auf, so als wollte sie, daß jetzt er einen Punkt gewinnt. »Ein Schlaganfall kann manchmal schlimme Folgen haben«, erklärte er nach kurzer Pause. »Leute reden komisch, oder sie vergessen Sachen. Manchmal bleibt auch eine Lähmung zurück. Vielleicht war sein Zustand sehr schlecht.«

»Das hätte mir alles nichts ausgemacht, wie er aussah oder wie er redete. Ich hätte das alles verkraftet.« David drehte sich noch einmal um und schüttelte die Lösung. »Naja, aber er vielleicht nicht?«

Eine ganze Weile blieb sie still, dann sagte sie: »Kann ich dir beim Mischen der Chemikalien helfen?«

»Ich sag’ dir, was du machen kannst. Hör vor allem auf, so viel zu reden. Und dann hol Deckel für die Flaschen.«

David und Erin halfen Chris nach dem Essen den Tisch abzuräumen. Dann schickte Chris die beiden ins Wohnzimmer, während sie das Geschirr in die Spülmaschine räumte. Erin ging schnurstracks auf das Klavier zu, hob den Deckel des Sitzes und nahm einige Notenblätter heraus. Sie stellte die Blätter auf den Ständer, setzte sich und fing an zu spielen. David stellte sich neben das Klavier und schaute zu. Er war fasziniert von der Art, wie ihre Finger leicht und flink über die schwarzen und weißen Tasten hüpften, wie sie mit dem kleinen Finger eine Taste herunterdrückte und ihre zierliche Hand, als wäre sie aus Gummi, über die Tastatur spreizte, um eine weitere Taste mit dem Daumen zu drücken.

Als sie fertig war, ließ sie die Hände in den Schoß fallen und schaute zu ihm hinüber. »Hat es dir gefallen?«

David nickte. »Was war das?«

»Die ›synkopierte Uhr‹.«

»Wo hast du gelernt, so gut zu spielen?«

»Von meiner Mutter. Sie hat am Bostoner Konservatorium Musik studiert. Es ist Jahre her, lange bevor ich geboren wurde. Sie hat sogar Konzerte gegeben.«

»Warum hat sie aufgehört?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich glaube, es hatte etwas mit meinem Bruder zu tun. Wahrscheinlich, als er starb ...« Erins Blick wandte sich von ihm ab. Er drehte sich um und sah, daß Chris im Türrahmen stand und zuhörte.

»Ich habe David gerade erzählt ...« begann Erin.

»Wir wollen jetzt über deinen Vater reden.«

Chris ging zu einem Sessel und setzte sich. Erin folgte ihr und ließ sich auf dem Boden vor ihren Füßen nieder. David setzte sich aufs Sofa. Chris beugte sich vor und strich mit ihren Fingern einige dunkle Haarsträhnen aus Erins Gesicht. »Daddy war außer sich vor Freude, als ich ihm erzählte, daß er nach Hause kommen wird. Am meisten, weil er kaum erwarten kann, dich zu sehen, Fräulein.«

»Aber er hätte ja eigentlich nicht warten müssen.«

Chris seufzte. »Wichtig ist jetzt, daß er auf dem besten Wege ist, sich zu erholen. Er hat noch Schwierigkeiten, sich auszudrücken, aber seine Sprache hat sich schon erheblich gebessert. Ab und zu, wenn ein Satz zu kompliziert ist, muß man ihn für ihn einfacher formulieren. Und auch das Lesen bereitet ihm immer noch Mühe.«

»Ich könnte ihm vorlesen.«

»Das würde ihm bestimmt gefallen.« Chris schaute zu David, als wollte sie ihn in das Gespräch einbeziehen. »David, du hast Neil natürlich vor seinem Anfall nicht gekannt ... Er war immer sehr stolz, sehr stark. Und er war auf seine Stärke sehr stolz. Sein jetziger Zustand, diese Schwäche, macht ihn rasend. Ihm ist durchaus mal ein Wutanfall zuzutrauen.«

In Davids Kopf zerbrach ein Glas. Nein, es war nicht in seinem Kopf, sondern auf dem Boden. Fletcher hatte es geworfen – nach ihm geworfen. Er wollte weglaufen, doch Fletcher packte ihn am Kragen. »Mach die Sauerei weg, Davie.« Er kauerte auf dem Fußboden und versuchte, die Scherben aufzusammeln. »Nicht so!« schrie Fletcher, der seine Hände packte und sie in die Scherben drückte, sie immer wieder durch die Scherben hin und her zog...

Seine Aufmerksamkeit galt plötzlich wieder Chris. Seine Augen waren schon die ganze Zeit auf ihr Gesicht gerichtet, aber er hatte ihre Worte nicht mehr wahrgenommen. Jetzt schaute sie ihn abwartend an.

»Du kannst auf mich zählen«, sagte er in der Hoffnung, trotz allem die richtigen Worte gefunden zu haben. Er atmete wieder normal, als er ihr Lächeln bemerkte.

Aber Erin war auch noch da, und wie immer ließ sie sich keine Chance entgehen. »Du brauchst keine Angst zu haben, David«, sagte sie. »Mein Vater tut keiner Fliege was zuleide. Es hört sich manchmal nur so an.«

»Wer hat gesagt, daß ich Angst habe?«

»Oh, niemand. Du hast nur gerade so ausgesehen, als würdest du Dr. Frankenstein erwarten.«

»Genug jetzt«, sagte Chris und schaute zu Erin. »Ich bin sicher, daß David damit umgehen kann. Daddy freut sich schon darauf, ihn kennenzulernen, und die beiden werden bestimmt bald gute Freunde sein.«

Erin wandte sich von David und Chris ab, aber vorher ließ sie David noch merken, wie Chris’ Worte auf sie gewirkt hatten. Nur eine kleine Falte auf ihrer Stirn, ein leichtes Zusammenziehen der Mundwinkel. Aber er wußte sofort Bescheid. Diese Idee begeisterte sie nicht gerade.

Stimme des Blutes

Подняться наверх