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Kapitel 4

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Chris klopfte an die Tür. Da keine Antwort kam, drückte sie leise die Klinke herunter und schaute ins Zimmer. Obwohl die Nachttischlampe noch brannte, war Erin schon fest eingeschlafen. Chris ging auf Zehenspitzen an ihr Bett, nahm das schwere Buch mit Leineneinband von ihrer Brust weg und markierte die Stelle, an der Erin beim Lesen stehengeblieben war. Erst als sie das Buch auf den Nachttisch legte, fiel ihr der Titel auf: Fotografieren und das Hobby-Labor. Ein Kurs für Anfänger.

Chris schüttelte den Kopf und spürte eine große Erleichterung. Offenbar wollte Erin David imponieren, ausgerechnet David! Jedesmal wenn Chris glaubte zu verstehen, was in dem regen, jungen Geist ihrer Tochter vorging, machte Erin ihr einen Strich durch die Rechnung und erinnerte sie von neuem wieder daran, wie sehr sie ihrem Vater glich. Bei Neil konnte man nie genau wissen, was sich unter der Oberfläche abspielte – ganz im Gegensatz zu Chris, die es nie gelernt hatte, ihre Gefühle zu verbergen.

Sie beugte sich vor, zog Erin die Bettdecke bis zum Kinn hoch und berührte sanft ihre Wange mit den Lippen.

»Nacht, Mutti«, summte Erins schläfrige Stimme in ihrem Ohr.

»Nacht, mein Engel.« Chris knipste die Lampe aus und ging in den Flur. Sie wollte eigentlich direkt in ihr Zimmer gehen, aber statt dessen ging sie automatisch weiter. Aus Davids Zimmer vernahm sie ein leises Husten, und ehe sie sich versah, stand sie schon vor seiner Tür, ohne genau zu wissen, was sie dorthin gebracht hatte. Sie wollte zurückgehen, doch ihre Beine schienen ihr nicht zu gehorchen. Sie lehnte sich an die Tür, schloß die Augen und fühlte das kühle, dunkle Holz an ihrer Wange. Es war still im Haus, so still, daß sie fast das Atmen des Jungen hören konnte.

Sie schaute hinunter und merkte, daß sie den Türgriff fest in der Hand hielt. Blitzschnell, als hätte sie sich an einem glühenden Eisen verbrannt, zog sie die Hand zurück und flüchtete so schnell und so leise wie möglich in ihr Schlafzimmer.

Chris konnte in dieser Nacht kaum schlafen; es gelang ihr einfach nicht, ihren kleinen Ausflug zu Davids Zimmer zu vergessen. Wie konnte sie nur so etwas tun? Klar, sie hatte nichts weiter gewollt, sie wollte nur mal bei ihm reinschauen, nur für einen Moment, um ihn anzusehen. Aber trotzdem, woher nahm sie das Recht, die Privatsphäre des jungen Mannes zu verletzen? Es handelte sich immerhin nur um David – einen Untermieter. Und nicht um Kevin. Sie brauchte keinen Psychiater mehr, um das zu erkennen.

Als Erin am nächsten Morgen in der Küche erschien, war Chris schon seit einigen Stunden auf. Die Kanne mit frischem Kaffee war schon fast leer. Doch trotz ihrer Müdigkeit spürte sie bald, wie Sie langsam Energien bekam und wie sie sich Erins heiterer Stimmung anpaßte.

»Ich sterbe vor Hunger!« verkündete Erin. »Heute morgen gibt’s aber kein Luxusfrühstück«, erwiderte Chris, während sie ein Päckchen Müsli auf den Tisch stellte und zwei Scheiben Weißbrot in den Toaster steckte.

»Kann ich dich eigentlich feuern?«

»Keine Chance. Du mußt dich mit mir abfinden.« Sie hatte beschlossen, das Buch nicht zu erwähnen, denn es wäre Erin sicher peinlich gewesen. »Weißt du«, sagte sie, »ich glaube, ich muß mich bei dir entschuldigen.«

»Du, bei mir?«

»Ja, und zwar was dein Verhalten David gegenüber betrifft. Ich habe dich ein bißchen zu hart angepackt, meine ich.« Erin sah sie nur schweigend an.

»Es ist nur so, Erin, daß David ein besonders sensibler junger Mann ist. Manchmal versteht er deine flapsigen Bemerkungen nicht, und er weiß nicht, daß du ihn damit nicht kränken willst.«

»Woher weißt du, daß ich das nicht will?«

»Na ja, willst du’s denn?«

Erin zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht.«

Chris seufzte. »Auf jeden Fall wollte ich gestern nicht sagen, daß du nicht gewissenhaft bist.«

»Ist doch egal.«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Dad sagt immer, daß das einzig wichtige ist, was man von sich selbst weiß, und nicht, was andere von einem zu wissen glauben. Da ich weiß, wie gewissenhaft ich bin, ist alles andere gar nicht so wichtig.«

Chris sah ihre Tochter mit Verwunderung an und fragte sich, wieso sie in der Lage war, Erins Philosophie so zu bewundern, wo ihr doch gerade erst mitgeteilt worden war, daß ihre eigene Meinung unwichtig war.

»Aber ich will damit nicht sagen, daß deine Meinung nichts zählt, Mutti.«

»Erin, sag bloß, du kannst meine Gedanken lesen?«

»Nein, kann ich nicht. Ich weiß einfach, wie du denkst, das ist alles.«

Chris saß da, vollkommen sprachlos, und fühlte sich ein wenig lächerlich. Wäre Neil dabeigewesen, so hätte er bestimmt ein Gelächter angestimmt, aber er war nicht da, und ihr war nicht nach Lachen zumute, besonders nicht, weil es ihr gegolten hätte.

Schließlich brach Erin das Schweigen. »Du magst David wirklich gern, nicht wahr?«

»Warum? Du etwa nicht?«

»Ich habe zuerst gefragt.«

»Ja gut. Es stimmt, ich mag ihn. Sehr sogar. Die meisten Jungen in seinem Alter leben mehr oder weniger ausschließlich in ihrer eigenen Welt. Parties und Vergnügen haben absoluten Vorrang. David ist anders. Ich habe das Gefühl, daß in ihm viel mehr steckt, als er zugeben möchte. Als hätte er Angst davor, es rauszulassen.«

»Wovor sollte er denn Angst haben?«

»Das weiß ich nicht genau. Aber ich weiß, daß er es bisher nicht leichtgehabt hat. Anscheinend hat ihn sein Vater, den er erst vor kurzem verloren hat, allein aufgezogen. Dieser Verlust muß ein schwerer Schlag für ihn gewesen sein. Jemanden zu verlieren, den man liebt, kann niederschmetternd wirken.«

Der Toast war fertig. Erin zog die Scheiben aus dem Toaster und ließ sie auf ihren Teller fallen, dann schnitt sie mit dem Messer ein riesiges Stück Butter ab.

»Mutti, hast du schon daran gedacht, seine Vergangenheit zu erforschen?«

»Wie meinst du das?«

»Ach, du weißt schon. Einen Detektiv engagieren.«

Chris schluckte einen Mundvoll Kaffee hinunter und stellte langsam ihre Tasse ab. »Wie kommst du auf eine solche Idee? Und vor allem warum

»Manchmal erfährt man eben wichtige Dinge über jemanden. Dinge, die man wissen sollte. Dad macht es doch immer.«

»Das macht dein Vater im Rahmen seiner Ermittlungen, Erin. David ist doch etwas anderes als ein Fall in Dads Büro. Man geht nicht einfach her und schnüffelt in den Angelegenheiten anderer Leute herum, nur weil’s einem Spaß macht. Abgesehen davon, daß es kaum durchführbar wäre, finde ich die Idee einfach widerlich.«

Nachdem sie jeden Millimeter ihrer Toastscheiben mit Butter beschmiert hatte, nahm Erin eine Scheibe und biß kräftig hinein. Die Reaktion auf Chris’ Worte war in ihren Augen zu sehen. Erin war betroffen und nachdenklich. »Willst du damit sagen, daß du David nicht magst, Erin?«

»Nein, das meine ich nicht.«

»Was meinst du denn damit?«

»Nichts. Es war nur ein blöder Gedanke von mir.«

»Erin, ich möchte, daß du David eine Chance gibst. Das ist doch nicht zuviel verlangt, oder?«

Erin rollte die Augen und seufzte. »Nein«, antwortete sie, »ist es nicht. Und ich gebe ihm schon eine Chance, Mutti. Das tue ich, ganz ehrlich.«

Chris steckte den neuen Schlüssel in einen Umschlag, auf den sie »David« geschrieben hatte, und legte ihn auf den Küchentisch, wo er ihn bestimmt bemerken würde. Dann machte sie sich auf den Weg, Neil zu besuchen. Als sie das Krankenhaus betrat, begegnete ihr Craig Phillips, der schon auf Neil wartete. Craig hatte gerade ein Jahr zuvor sein Jurastudium abgeschlossen, als Neil ihn zum stellvertretenden Staatsanwalt ernannte. Laut Aussage ihres Mannes gehörte Craig zu den brillantesten jungen Anwälten der Region, ein richtiger Volltreffer. Was ihm an Gerichtserfahrung noch fehlte, machte er durch seine Intelligenz und sein Geschick bei der Fallanalyse mehr als wert. »Und außerdem«, hatte Neil betont, »wenn man Idealismus erwartet, muß man junge Talente rechtzeitig anwerben, bevor die Verlockungen des großen Geldes unwiderstehlich geworden sind.«

»Neil ist gerade bei einer Behandlung, Mrs. Mathews«, sagte Craig, der aufgestanden war, um sie zu begrüßen. Obwohl sie ihn mehrmals aufgefordert hatte, sie »Chris« zu nennen, tat er es nie. Jetzt stand er ihr gegenüber in seinem tadellosen, blauen Zweireiher; sein blondes, gelocktes Haar reichte gerade ein bißchen über die Ohren, seine Gesichtshaut war makellos und glatt, bis auf den kaum sichtbaren Ansatz eines Bartes. Craig hätte man eher für einen Chorknaben als für einen Anwalt gehalten. Aber seit Neils Anfall war Chris klargeworden, wie sehr in diesem Fall der äußere Schein trog.

Craig begegnete der Presse mit der Gelassenheit eines Diplomaten und der Gerissenheit eines Schrotthändlers. Als ein Mann des öffentlichen Lebens war Neils Krankheit für die Medien von großem Interesse. Um Neils wichtige Position nicht ins Wanken geraten zu lassen, veranstaltete Craig Pressekonferenzen und gab regelmäßige Stellungnahmen der Staatsanwaltschaft ab, wobei er stets Neils Ansichten zu den wichtigsten Tagesereignissen geschickt einzuflechten wußte. Soweit die Öffentlichkeit informiert war, hatte Neil einen leichten Schlaganfall erlitten, infolgedessen er gezwungen war, die Geschäfte der Staatsanwaltschaft von seinem Krankenbett aus zu führen. Natürlich hatte das in den ersten Wochen nach seiner Erkrankung nichts mit der Wahrheit zu tun. Und danach war es auch nur teilweise wahr. Eine großzügige, doch umsichtige Auslegung der Tatsachen, wie Neil es interpretiert hätte.

»Hat Neil dir die gute Nachricht schon mitgeteilt?« fragte Chris. »Er hat doch gestern im Büro angerufen.« Craig setzte sich wieder und schüttelte den Kopf. »Eine Zeitlang habe ich befürchtet, wir würden ihn nie wiedersehen. Ich gebe es offen zu. Ich hatte Angst.«

»Aber du hast ihn glänzend vertreten, Craig. Ich habe es in den Zeitungen verfolgt.«

»Ausreichend, nur ausreichend. Ich kann ihm nicht das Wasser reichen, noch immer nicht. Es gibt Fälle, die wir auf Eis gelegt haben, bis er zurückkommt, Fälle, die ich ohne seine Hilfe nicht anfassen würde.«

»Aber du mußt verstehen, Craig ... Er kommt zwar nach Hause, aber es ist viel zu früh, um an Arbeit zu ...«

»Hör nicht auf sie, Craig.« Chris blickte auf und sah Neil in der Tür stehen. Trotz seiner kräftigen Statur wirkte er zerbrechlich, wie er seine ganze Größe von einmeterneunzig auf den Aluminiumstangen des Gehbocks abstützte. Er hob seine rechte Hand und deutete auf Chris: »Die Urmutter.«

Craig wartete Chris’ Reaktion ab. Als sie anfing zu lächeln, tat er es auch.

»Schon in Ordnung, Craig. An die Beleidigungen dieses Mannes habe ich mich längst gewöhnt. Du weißt schon, wie es heißt: in das eine Ohr rein und aus dem anderen raus.«

Neil, nun vor ihr aufgebaut, beugte sich hinab und gab ihr einen Kuß, erst auf das linke, dann auf das rechte Ohr. Schließlich setzte er sich und schob den Gehwagen zur Seite, während er sie noch immer anschaute. »Ein Kompromiß«, sagte er schließlich.

»Was meinst du damit?«

»Wir treffen einen Kompromiß. Ich arbeite nur zu Hause.«

»Aber jetzt noch nicht, Neil!«

Neils Gesichtsmuskeln zogen sich zusammen.

»Neil, bitte. Der Arzt meint, du solltest dich noch nicht überfordern. Das ist wichtig.«

»Zum Teufel mit den Ärzten.«

»Neil –«

Er holte mit seiner gesunden Hand aus und versetzte dem Gehbock einen Schlag, so daß er durch das Zimmer flog. Chris stand auf, holte ihn und stellte ihn wieder vor Neil auf. Dann kniete sie sich vor ihn hin und fuhr mit ihren Fingern durch sein dickes, graumeliertes Haar.

»Mein Gott, du bist unmöglich.«

»Ein Kompromiß?« Dieses Mal war es eine Frage.

»Drei Stunden am Tag – Maximum!«

Aus den Augenwinkeln konnte sie Craig sehen, der aus dem Fenster starrte und so tat, als ob er nichts mitbekommen hätte. Aber sie hätte blind sein müssen, um nicht zu sehen, wie seine Augen vor Erleichterung über Neils Triumph strahlten.

Stimme des Blutes

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