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KAPITEL ZWEI

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Sie wußte nicht mehr, wie sie das Frühstück hinter sich gebracht hatte, nur noch, daß sie es irgendwie geschafft hatte, Sams anfängliche Fragen zu unterbinden und seine Aufmerksamkeit zurück auf das Tennisspiel nach der Schule zu lenken. Sie schaute auf die Uhr; immer noch vor acht, also viel zu früh, um jemanden anzurufen, selbst wenn sie gewußt hätte, wen sie hätte anrufen sollen. Als sie Sam an der Schule ablieferte, wartete sie so lange, bis er im Gebäude war, ehe sie zur Arbeit weiterfuhr; früher hätte sie so etwas nicht getan.

Eigentlich dachte sie den ganzen Vormittag über an nichts anderes. Aber erst nach der dritten Unterrichtsstunde, ihrer ersten Freistunde an diesem Tag, eilte Angela zum Telefon im Lehrerzimmer, um von dort aus Cynthia Shearer anzurufen, die Staatsanwältin von Suffolk County, die Dexters Fall damals verhandelt hatte. Die hochbegabte, dynamische und begeisterungsfähige Cynthia hatte Angela damals anvertraut, daß auch sie einmal Opfer eines Mißbrauchs gewesen war. Als Ergebnis davon hatte sie sich zu einer tatkräftigen Verfechterin für härtere Strafen im Fall von Vergewaltigung in der Ehe und bei Kindesmißbrauch entwickelt.

Als Angela sie nun am Apparat hatte und ihr erzählte, daß Dexter entlassen worden war – was sie offensichtlich nicht gewußt hatte –, mußte sie überrascht feststellen, daß die Reaktion der Staatsanwältin etwas zurückhaltend ausfiel. »Ich weiß, das kostet Nerven, Angela«, erklärte diese ihr. »Aber er hat fast fünf Jahre abgesessen. Das ist länger, als die meisten anderen drin sind.«

»Aber was soll ich jetzt tun? Das macht ihn nicht weniger gefährlich. Ich kenne Dexter.«

Nach einer Pause fuhr Cynthia fort: »Wir sollten es vielleicht besser so formulieren – Sie kannten Dexter einmal. Wenn wir wirklich einen Sinn in den Rehabilitationsmaßnahmen unseres Rechtssystems sehen wollen, dann müssen wir auch einem verurteilten Verbrecher eine Chance geben, sobald er seine Zeit abgesessen hat.«

Das klang vernünftig, war ihr aber kein Trost.

»Hat er Sie auf irgendeine Weise bedroht?« wollte Cynthia wissen.

»Nein. Er sagt, er will Sam sehen.«

»Das Gericht hat doch eine einstweilige Verfügung für Sie und Ihren Sohn erlassen ... oder nicht?«

Ja, sicher, aber hätte ihn damals, als Dexter in jener grauenvollen Nacht in ihre Wohnung eingedrungen war, eine einstweilige Verfügung davon abgehalten? Höchstwahrscheinlich nicht. Sie seufzte. »Okay, ich soll mich also erst mal wieder abregen, das wollen Sie mir damit doch zu verstehen geben. Aber was ist, wenn er etwas macht?«

»Was?«

»Ich weiß nicht ... mich belästigt, Sam gegenüber zudringlich wird.«

»Dann rufen Sie die Polizei und zeigen denen Ihre gerichtliche Verfügung. Aber vergessen Sie nicht, daß er auf Bewährung draußen ist. Das bedeutet für ihn, daß er sich besser zurückhält, wenn er nicht will, daß er gleich wieder ins Gefängnis zurückverfrachtet wird. Und Sie können sicher sein, daß er das auch weiß.«

Es war diese Bemerkung, die ihr dann doch so etwas wie Sicherheit gab. Das heißt, bis Cynthia vorsichtig das Thema ad acta legte und verkündete, daß sie das Büro der Staatsanwaltschaft verlassen und in Zukunft für eine private Anwaltskanzlei arbeiten würde.

»Sie wollen auf die Seite der Verteidiger überwechseln?« fragte Angela, die ihre Überraschung nicht verbergen konnte. Cynthia Shearer, die unerbittliche Kämpferin für Gerechtigkeit, wollte zum Feind überlaufen.

Sie hatte fast noch den größten Teil ihrer Freistunde übrig. Hillary Stone, die mit ein paar anderen Lehrern zusammensaß, winkte sie zu sich herüber, aber sie war nicht in der Stimmung für oberflächliches Geplauder. So deutete sie auf ihre Uhr, als sei sie in Eile, holte Kaffee aus der Maschine und verabschiedete sich mit einem Winken von Hillary, als sie mit dem Pappbecher hinausging.

Draußen setzte sie sich auf einen Sims, der um das gesamte Gebäude herumlief, und dachte darüber nach, was es für sie bedeutete, daß Dexter wieder zurück war: Im besten Falle eine empfindliche Störung ihres wohlgeordneten Lebens, für das sie um Sams willen so hart gearbeitet hatte. Als Victor neben ihr Platz nahm, blickte sie überrascht hoch. »Was treibst du hier?«

»Ich habe dich gesucht«, antwortete er.

Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee, ehe sie in seine grauen Augen blickte, die so manches Mal viel zu traurig wirkten.

»Ja ... wieso?«

»Hillary hat gemeint, du würdest zum Kotzen aussehen.«

»Genauso fühle ich mich auch«, erwiderte sie. Automatisch wanderte ihre Hand zu ihrem Haar hoch, wichtigstes Stimmungsbarometer von Frauen seit Jahrhunderten. Hatte sie es überhaupt gekämmt, ehe sie aus dem Haus ging? Sie stellte den Pappbecher auf den Sims, stand auf und kramte nach einem Spiegel... aber Victor legte eine Hand auf ihre Schulter und unterbrach sie.

»Was ist denn passiert?« fragte er.

»Dexter ist zurück. Er will Sam sehen.«

Der Name war ihm nicht unbekannt. Sie sprach zwar nur selten über diese Zeit ihres Lebens, aber irgendwann im Laufe ihrer Freundschaft hatte sie ihm ihre Geschichte anvertraut.

»Aber ich dachte –«

»Er ist vorzeitig entlassen worden.«

Er seufzte, schüttelte den Kopf. »Wie hast du es erfahren?«

»Wie wohl? Er stand plötzlich vor meiner Haustür und hat geläutet – er war noch nie besonders zurückhaltend. Und ehe du auf die gerichtliche Verfügung zu sprechen kommst... ja, es gibt eine, und ich habe ihn auch darauf aufmerksam gemacht. Aber ich habe trotzdem keine Ahnung, ob sie etwas nützt.«

»Du hast ihm gesagt, er soll gehen, und er ist gegangen.«

»Mir fehlt nur der Glaube, daß er auch wegbleiben wird. Wenn du Dexter kennen würdest...«

»Ich weiß, was er dir und Sam angetan hat, und das reicht mir.«

»Was soll ich jetzt tun?«

»Tja, zunächst einmal würde ich sagen, daß du schleunigst diese gerichtliche Verfügung und ein Foto von Dexter herauskramst und zu Sams Schule bringst. Zeig beides dem Direktor, der soll es Sams Lehrern zeigen, den Pausenaufsichten, allen, die dafür in Frage kommen. Bitte sie, die Polizei zu verständigen, sobald sie diesen Typen im Umkreis von hundert Metern in der Nähe der Schule auftauchen sehen.«

Sie nickte. »Victor, das ist eine gute Idee. Ich habe bereits die Staatsanwältin angerufen und um Rat gefragt, warum hat sie mir das nicht vorgeschlagen?«

Er zuckte seine breiten Schultern. »Das kannst du dir doch denken ... Und ich möchte wetten, daß sie sich ziemlich doof angestellt hat, als Sam im vergangenen Sommer zu Hause bei euch diese alberne Rennmaus losgelassen hat.«

»Da hast du recht, das hat sie«, entgegnete Angela und dachte an das Verschwinden von Sams Rennmaus und an das Chaos, das auf ihren zwar wohlüberlegten, aber letztendlich doch erfolglosen Versuch, die Maus wieder einzufangen, gefolgt war. Eine Woche später hatte Victor Sam dadurch aufgeheitert, daß er ihm Ollie geschenkt hatte; laut Victor der Allerschönste aus einem Wurf junger Katzen. Angela lächelte, das erstemal seit Dexter auf ihrer Türschwelle aufgetaucht war ... Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Victor, was hältst du davon, mit mir zusammen die Aufsicht beim Schülerball zu übernehmen?«

Vielleicht war es nicht ganz fair von ihr, daß sie an sein Verantwortungsgefühl für die jungen Leute appellierte, denn er stimmte sofort zu – wie sie genau gewußt hatte. Als sie sah, daß ihr bis zum Beginn ihrer nächsten Unterrichtsstunde nicht mehr viel Zeit blieb, begab sie sich rasch zum nächsten Waschraum, der, wie es sich herausstellte, nur für Schülerinnen gedacht war.

»Falls hier jemand rauchen sollte, dann macht die Kippen besser aus«, sagte sie, ehe sie den Geruch sozusagen offiziell wahrnahm. Alles eilte in die Kabinen, und ein paar Minuten später kamen Caroline Clancy und ein Mädchen, das sie nicht kannte, wieder heraus und begrüßten sie, als ob nichts vorgefallen wäre. »Mann, Sie sehen aber nicht so toll aus, Mrs. King«, bemerkte Caroline im Hinausgehen.

Angela betrachtete ihr Spiegelbild über der langen Reihe von Waschbecken; sie hatte eine zarte, weiße Haut und tief dunkelblaue Augen, ein reizender Kontrast, der oft genug bewundernde Kommentare hervorrief. Sie holte erst eine Bürste und dann einen Lippenstift aus ihrer Schminktasche ...

»Sie will Sie doch nur aufziehen«, sagte das andere Mädchen zu ihr und beeilte sich, ihrer Freundin zur Tür hinaus zu folgen. »Sie wünscht sich, sie würde so gut aussehen wie Sie.« Angela wußte den Versuch des Mädchens durchaus zu schätzen, den Schlag abzumildern, aber sie mußte Caroline und auch Hillary zustimmen. Es war die reine Anspannung, die ihr aus dem Spiegel entgegensah, als sie näher trat und den dunklen Strich am unteren Lid nachzog – sie hockte in ihren Augen und prägte ihre Gesichtszüge. Mit Make-up war da nicht mehr viel zu machen.

Angela bemühte sich zwar, Dexter und alles, was mit ihm zusammenhing, völlig aus ihren Gedanken zu verbannen, aber so einfach war das nicht. Gelegentlich gelang es ihr allerdings doch, ihn zu vergessen, was es ihr immerhin ermöglichte, den Tag halbwegs über die Runden zu bringen, ohne daß sie ständig jemand darauf ansprach, wie schlecht sie doch aussah oder wie merkwürdig sie sich benahm. Irgendwie schaffte sie es auch, daß ihre Schüler nicht über die Stränge schlugen, während sie Satzstrukturen und Diagramme besprach, aus den Werken von Elizabeth Barrett Browning und Kipling vorlas und eine animierte Diskussion des Cyrano mit einer neunten Englischklasse führte. Sie entlockte sogar Germaine Eldridge ein strahlendes Lächeln, als sie ihre Zustimmung gab, die Aufsicht über den Tanzabend zu führen.

Erst als sie an diesem Nachmittag in ihren Wagen stieg, um Sam abzuholen, gestattete sie es sich wieder, an Dexter zu denken, zumindest an ihre allererste Begegnung ...

Eigentlich war es von Anfang an eine chaotische Geschichte gewesen. Allein in einer fremden Umgebung, hatte sie die Rebellin gespielt, wenngleich sie nicht einmal wußte, wogegen sie eigentlich rebellierte. Vielleicht steckte einfach nur das Bedürfnis dahinter, es allein zu schaffen, alle Restriktionen hinter sich zu lassen. Dabei waren ihre Eltern gar nicht so anmaßend oder autoritär oder übermäßig politisch gewesen – ganz im Gegensatz zu Dexter, der sich darin sehr von ihrer Familie unterschied. Doch ihre Eltern mochten ihn von Anfang an, was vor allem daran lag, wie sie vermutete, daß sie in ihm jemanden sahen, dem sie ihre Tochter ruhigen Gewissens anvertrauen konnten.

Dexter war damals dreiunddreißig gewesen und hatte einen Harvard-Abschluß in Philosophie und politischen Wissenschaften vorzuweisen gehabt. Sie war gerade mal zwanzig, hatte die High School abgeschlossen und arbeitete dreißig Stunden die Woche als Bedienung in Jack & Marion’s Spezialitätenrestaurant. Den Rest der Zeit brachte sie damit zu, Kurzgeschichten und Gedichte in einen gebrauchten IBM-kompatiblen Computer zu hacken, der in ihrem schabenbefallenen Eineinhalbzimmerapartment im zweiten Stock eines Mietshauses ohne Aufzug in der Back Bay stand.

Und als er in ihr Restaurant kam, in ihrem Servicebereich Platz nahm (später erfuhr sie, daß er sich erkundigt hatte, an welchen Tischen sie bediente) und heiße Pastrami auf Pumpernickel bestellte, da hatte sie nicht die leiseste Ahnung, wer Dexter King war; außerdem war es ihr egal. Aber da war sie so ziemlich die einzige. Die meisten anderen Mitarbeiterinnen in dem Restaurant wußten genau, daß er der kommende Star der lokalen Moderatorenszene war, und waren seinem Charme hoffnungslos verfallen.

Nach einigem Druck von seiten der anderen Mädchen mußte auch sie schließlich zugeben, daß er ein toller Typ war, doch weiter ging ihr Interesse zunächst nicht. Als sie mit seinem Sandwich und dem Getränk an seinen Tisch zurückkam, las er ihren Namen von ihrem Schild ab und sagte zu ihr: »Sie sind unglaublich schön, Angela Carpenter. Wollen Sie mich heiraten?« Vor lauter Überraschung fiel ihr nichts ein, was sie darauf hätte antworten können, und so lachte sie nur verlegen. Obwohl sie an der High School durchaus Verehrer gehabt hatte und man sich oft mit ihr hatte verabreden wollen, hatte sie es immer vorgezogen, in großen Gruppen auszugehen; das machte mehr Spaß und war weitaus lockerer, da sie sich in Gegenwart von Jungen noch nie so hatte gehenlassen können, wie es bei ihren Freundinnen der Fall war.

»Was? Habe ich etwas Lustiges gesagt?« fragte er und lächelte sie an.

Sie zuckte die Achseln und versuchte es mit einer witzigen Entgegnung: »Tut mir leid, ich werde Ihren Antrag leider nicht annehmen können, Mr. King. Ich fürchte, Sie sind zu alt für mich.« Das brachte ihn nicht im mindesten aus dem Gleichgewicht; er schüttelte nur den Kopf, neigte ihn zur Seite und schaute sie von unten her grinsend an. »Angela, Engelchen, da hast du irgend etwas durcheinandergebracht. Von uns beiden bist eindeutig du die ältere, und das meine ich durchaus schmeichelhaft und als Kompliment. Du magst mein Angebot jetzt zwar zurückweisen, aber ich werde dich schon noch dazu bringen, deine Meinung zu ändern.«

Er gab wirklich nicht auf, damals nicht und später auch nicht, als er jeden Tag ins Restaurant kam und sie als seinen Engel bezeichnete. Auf diese Idee war bisher keiner ihrer Freunde gekommen. Er setzte sich über Mittag immer an einen ihrer Tische, plauderte mit ihr, neckte sie und probierte alles mögliche aus, um sie von sich zu überzeugen. Doch selbst als sie eines Tages feststellte, daß sie sich tatsächlich darauf freute, ihn zu sehen, hielt sie weiter an ihrer Position fest. Seine Hartnäckigkeit und Entschlossenheit beeindruckten sie zwar, aber es machte ihr auch angst, daß er dazu fähig war.

Sie hörte seine Talk-Sendung erst, als eine ihrer Arbeitskolleginnen sie zwei Monate nach ihrem ersten Treffen fast dazu zwang, doch endlich einmal Radio WBZY um acht Uhr abends einzuschalten. Sie war sich nicht sicher, was sie von seinen radikalen Ansichten halten sollte – über viele seiner Themen hatte sie zuvor noch kein einziges Mal nachgedacht –, aber seine Intelligenz, seine Gewandtheit und die Art, wie er mit den Anrufern umging, faszinierten sie doch.

Und fast wäre sie tatsächlich vom Hocker gefallen, als sie hörte, wie er seine Sendung mit einem »Gute Nacht, mein Engel!« schloß.

»Mom, die Tür!« Verwirrt blickte sie hoch: Sie stand auf dem Parkplatz der Pinegrove Elementary School, und Sam hämmerte auf der Beifahrerseite gegen das Wagenfenster und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, damit sie ihm endlich die Tür öffnete ...

Überall hielt sie Ausschau nach ihm, an jeder Straße, die sie entlangfuhr, an jeder Ecke, um die sie bog, an jedem Stoppschild, an dem sie zum Anhalten gezwungen war; er hätte am Gehweg stehen oder ihr in einem Wagen folgen können, doch zum Glück war nichts davon der Fall. Selbst als sie im Montgomery Park Tennis spielte, hielt sie ab und zu inne und sah sich suchend um, ob Dexter in der Nähe war. Doch dabei benahm sie sich auffälliger, als sie meinte. Als sie mit Sam hinterher zu der Imbißbude neben dem Spielplatz joggte, um sich etwas Kaltes zu trinken zu besorgen, wollte er nämlich von ihr wissen: »Hast du Angst vor ihm, Mommy?«

»Vor wem?« fragte sie, obwohl sie genau wußte, wen er damit meinte, und sie ihm nur ungern eine ausweichende Antwort gab. Ohne eine Reaktion von ihm abzuwarten, fuhr sie fort: »Wenn du den Mann damit meinst, der heute morgen bei uns an der Tür war, der war mir einfach unsympathisch. Er ist kein netter Mensch, und ich will nicht, daß er zu uns kommt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Ihr Tonfall war schärfer, als sie beabsichtigt hatte; sie wollte eigentlich nur, daß er sich Dexter aus dem Kopf schlug, doch statt dessen sah sie, wie seine Augen sich verdunkelten und wie seine breite Stirn sich in Falten legte, als gäbe es noch vieles, worüber er nachdenken mußte. O bitte, Sam, nimm es doch einfach so hin, wie ich es dir jetzt sage ...

Aber sie erkannte durchaus, daß sie der Wahrheit nur für kurze Zeit ausweichen konnte. Wie hätte es anders sein sollen? Dexter war wieder in der Stadt, und er war nicht der Typ für einen friedlichen Rückzug. »Tja, also, nach dem, was du mir erzählt hast, ist Dexter doch gegangen, als du ihn darum gebeten hattest«, stellte ihre Mutter, die ewige Optimistin, klar, als Angela sie nach dem Essen anrief, um mit ihr die Sache zu besprechen. Barbara und Malcolm Carpenter hatten zwar nie an Angelas Darstellung der Ereignisse gezweifelt, als die ganze häßliche Geschichte in jener langen Nacht im Shriner-Institut für Brandverletzungen aus ihr herausgesprudelt war, während sie darauf warteten, Neuigkeiten über Sams Zustand zu erfahren, aber eine derartige charakterliche Widersprüchlichkeit lag dann doch außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Wie konnte ein Mensch, der in ihrer Gegenwart immer so intelligent, erfolgreich und liebevoll wie Dexter aufgetreten war, eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad machen, sobald sie ihm den Rücken zuwandten?

Nicht daß Angela die Psyche ihres Mannes besser verstanden hätte. Doch sie hatte den Vorteil, oder auch Nachteil, die größten Intimitäten mit ihm geteilt zu haben. Als sie versuchte, ihren Eltern Dexters Bedürfnis zu schildern, sie und Sam und alles, was in seinem Leben von Bedeutung war, zu kontrollieren und zu beherrschen, schüttelten diese nur ungläubig den Kopf.

»Mutter, er wird es nicht dabei bewenden lassen«, erwiderte Angela schließlich. »Er wird zurückkommen.«

»Du mußt nicht immer gleich mit dem Schlimmsten rechnen. Vergiß nicht, schließlich hat er fünf Jahre im Gefängnis geschmort. Das ist eine lange Zeit, die dürfte ausreichen, das Verhalten eines Menschen zu ändern. Aber ich denke, du solltest dich hinsetzen und Sam in aller Ruhe von Dexter erzählen; der Junge hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer sein Vater ist.«

Angela teilte die Bedenken ihrer Mutter im Hinblick auf etwaige Ungerechtigkeiten nicht... ihre einzige Sorge war im Moment die, daß Dexter es ihrem Sohn sagen könnte, wenn sie es nicht tat. Sie benötigte nur eine kleine Verschnaufpause, ein wenig Zeit, um sich zu entscheiden, wie sie es Sam sagen wollte – und, was noch wichtiger war, was sie ihm sagen wollte.

Ihre Fotoalben waren alle in dem Feuer verbrannt. Als Angela nun den kleinen Speicher nach Fotos für Sams Schule absuchte, fand sie nichts mehr außer einem halben Dutzend offizieller Hochglanzfotos, die in Verbindung mit einem Zeitungsartikel Anwendung gefunden hatten. Aus irgendeinem ihr nicht mehr nachvollziehbaren Grund hatte sie diesen Artikel ausgeschnitten und aufgehoben: Bekannter Radiomoderator attackiert Frau und fügt seinem Sohn schwere Brandverletzungen zu.

Den Zeitungsausschnitt zerriß sie und warf ihn fort, nur den gelben Umschlag mit den Fotos nahm sie mit nach unten. Auf dem Weg zur Schule am nächsten Morgen hielt sie kurz an einem Copyshop an, machte Kopien von der gerichtlichen Verfügung, steckte diese in den Umschlag zu den Fotos und kehrte dann wieder zu Sam zurück, der draußen im Wagen auf sie gewartet hatte.

»Wieso fährst du heute mit rein?« fragte Sam, als er sah, daß sie auf den Parkplatz fuhr, statt ihn, wie üblich, vor der Schule abzusetzen.

»Weil ich heute morgen noch etwas Zeit habe und gerne eine Sache mit Mr. Healy besprechen würde.« Raymond Healy war ein Handtuch von einem Mann mit einem erstaunlichen Organ. Der Erfolg war jedesmal wieder durchschlagend, wenn er seine mächtige Stimme bei widerspenstigen Schülern, Lehrern oder gelegentlich auch Eltern in voller Lautstärke ertönen ließ.

»Habe ich denn etwas angestellt?«

»Wenn es so wäre, meinst du nicht, daß ich dann zuerst mit dir darüber reden würde?«

Er nickte und nahm ein Buch, das er sich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte, und seinen Rucksack von der Rückbank. »Ja, wahrscheinlich schon.«

Mr. Healy erkannte sie sofort wieder und redete sie spontan mit ihrem Vornamen an. Eingehend erkundigte er sich dann bei ihr, wieso man in diesem Jahr so wenig von ihr gesehen hätte. Als Teilnehmerin eines auf Elterninitiative zurückgehenden Programmes, das im Anschluß an die Schule stattfand, hatte sie im Jahr zuvor mit den Kindern Fußball trainiert. Eigentlich hatte sie diese Arbeit auch in diesem Jahr fortsetzen wollen, sich aber dann doch nicht mehr dafür gemeldet. Mit Sam einerseits, ihrer Beraterfunktion für die vierteljährlich erscheinende Zeitung der Junior High School andererseits, ihrem sonstigen Engagement für die Kinder, ihrem normalen Unterricht und den vielen Korrekturen, die zu Hause noch zu erledigen waren, blieb ihr ohnehin kaum Zeit übrig. Doch Mr. Healy schien weder das eine noch das andere sonderlich zu überzeugen.

»Mir ist durchaus klar, daß Sie an der Woodland unterrichten«, sagte er, »aber Ihr Sohn geht hier zur Schule. Ich verlange schon sehr viel von meinen Lehrern, aber zusätzlich erwarte ich auch, daß sich unsere Eltern als kooperativ erweisen. Vor allem die Eltern, die etwas zu geben haben.«

»Ihre Einstellung ist mit Sicherheit die richtige, vielleicht könnte ich ja versuchen –«, setzte sie an, obwohl sie wußte, daß er ihr gleich ziemlich unsanft über den Mund fahren würde. Sie schaute auf ihre Uhr; sie hätte gerne das Thema gewechselt und wäre auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen gekommen.

Doch noch bevor sie sorgfältig ihre Worte wählen konnte, bemerkte er: »Fein. Dann wird sich so bald wie möglich Connie Banks, unsere Vorsitzende, mit Ihnen in Verbindung setzen.« Und ehe sie sich versah, nickte sie bereits, während er sich eine Notiz auf seinem Block machte. Erst dann blickte er wieder zu ihr hoch, lächelte sie an und rieb sich seine kleinen, weißen Hände. »Also, was kann ich für Sie tun, Angela?«

Sie sah keine Notwendigkeit, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, nur daß sie und Dexter geschieden waren und daß das Gericht eine Verfügung erlassen hatte, um jeglichen Kontakt seinerseits mit Sam zu unterbinden. Zuerst zeigte sie ihm die Kopie des amtlichen Dokuments und holte dann ein Foto heraus. »Das können Sie für Ihre Unterlagen behalten. Es wäre mir auch lieb, wenn Sie das Foto der Pausenaufsicht und Sams Lehrerin zeigen könnten ... oder jedem anderen, der in irgendeiner Weise –«

Der Direktor hatte seine Drahtgestellbrille abgenommen, beugte sich zu ihr vor und hob die Hand in einer beschwichtigenden Geste. »Selbstverständlich. Aber ich muß Ihnen gleich sagen, daß er erst gestern hier war.«

Ihr stockte kurz der Atem. »Ich weiß«, erwiderte sie hastig in der Annahme, er meinte den Tag zuvor, als Dexter an der Schule vorbeigefahren war und versucht hatte, einen Blick auf Sam zu erhaschen. »Wer hat ihn denn gesehen? Ich meine, wer hat ihn gemeldet?«

»Ihn gemeldet? Niemand. Er kam in mein Büro und bat um eine Unterredung mit mir. Und da er der Vater einer meiner Schüler ist –«

»So? Was hat er denn genau gewollt?«

Mr. Healy zuckte die Achseln, lächelte. »Nichts – zumindest nichts Schlimmes. Er wollte sich nur vorstellen. Und er hat sich nach Sam, nach seinen Noten erkundigt. Ich habe ihm Sams Zeugnis vom letzten Jahr gezeigt. Natürlich hatte ich für dieses Jahr noch keine Noten, es ist ja noch recht früh, aber wie es sich herausstellte, war Donna Lucas, Sams Lehrerin, noch im Haus. Ich habe sie also gebeten, zu mir zu kommen und mit ihm zu reden – was sie dann auch getan hat.«

Der Schock auf Angelas Gesicht war ihm bestimmt nicht entgangen, aber er hielt es nicht für notwendig, sie darauf anzusprechen. Statt dessen lehnte er sich mit geblähter Brust auf seinem hohen Drehstuhl zurück, in dem er beinahe zu verschwinden drohte. »Ich muß Ihnen auch sagen, Angela, daß Mr. King so offen zu mir war, mir einige Hintergrundinformationen zu geben. So hat er mich über die unglücklichen Umstände aufgeklärt, die zu dem Unglücksfall führten ... auch über seine Gefängnisstrafe. Ich kann also nur vermuten, daß die gerichtliche Verfügung damit zu tun hat. Was mich selbstverständlich nichts angeht.«

Nein, es ging ihn wirklich nichts an, aber sie sagte es nicht. Sie brachte überhaupt kein Wort mehr heraus, so wütend war sie darüber, von Dexter dermaßen ausgetrickst worden zu sein. Und so saß sie einfach nur da, während ihr die unmöglichsten Dinge durch den Kopf gingen, und hörte sich an, was der Direktor ihr weiter zu sagen hatte. »Ich habe mich fast eine Dreiviertelstunde lang mit Mr. King unterhalten, Angela, und ich muß schon sagen, das ist ein intelligenter und faszinierender Mann. Aber ich bin mir sicher, daß Sie seine Stärken kennen. Es kommt wirklich nicht oft vor, daß wir einen Vater zu sehen bekommen, der ein Interesse daran hat oder gar die Initiative ergreift und sich erkundigt, wie sein Kind sich in der Schule so macht. Vor allem in diesem Grundschulalter, das die meisten Männer irrtümlicherweise als unwichtig abtun. Um ganz offen zu sein, er hat mich ziemlich beeindruckt, und es würde mich nicht überraschen, wenn Miß Lucas nicht ebenso dächte.«

Er hatte beide mit einem Handstreich in die Tasche gesteckt, dachte Angela. Als sie aufstand, zitterten ihre Hände, und ihre Haut fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. »Mr. Healy, ich habe Ihnen eben die Kopie eines Gerichtsbeschlusses gezeigt. Muß ich denn noch erklären –«

Er hob eine Hand. »Es ist nicht nötig, daß Sie in meinem Büro laut werden ... Ich bin mir durchaus der Tatsache bewußt, was das zu bedeuten hat. Doch Mr. King scheint sich in diesem Fall an die Regeln gehalten zu haben – er hat weder darum gebeten, seinen Jungen zu sehen, noch hat er sich unnötig lange auf dem Schulgrundstück aufgehalten. Ich habe mich von meinem Fenster aus persönlich überzeugt, daß er nach unserem Gespräch sofort das Gebäude verließ. Sie sehen also, Angela, er hat nicht gegen die gerichtliche Verfügung verstoßen ... Sie machen sich unnötige Sorgen.«

Und als letztes sagte er noch, während er Angela zur Tür begleitete: »Seien Sie versichert, ich werde mich strikt an den Gerichtsbeschluß halten. Aber einen Rat würde ich Ihnen gerne noch mit auf den Weg geben, Angela: Kleine Jungen brauchen ihre Väter. Sie sollten sich wirklich lange und gründlich überlegen, was Sie machen wollen.«

Die Umstände, die zu dem Unglücksfall führten ... Selbst als sie die Schule schon weit hinter sich gelassen hatte, hallte die Stimme des Direktors immer noch in ihren Ohren. Was hatte Dexter ihm nur erzählt? Daß es ihre Schuld gewesen war, daß er aufgrund der Umstände durch ihre Trennung so gestreßt gewesen war ... daß er zu keiner Zeit die Absicht gehabt hatte, ihr oder Sam weh zu tun? Oder gar, daß er seinem Sohn niemals weh getan hätte, hätte Angela nicht eingegriffen und versucht, Sam von ihm fortzureißen?

Sie hatte das Gefühl, die Gerichtsverhandlung noch einmal zu durchleben, und damit auch alle Arten von Selbstzweifeln, die sie damals geplagt hatten. Dexters flehende Worte an sie und an die Geschworenen, doch seiner Sicht der Dinge Glauben zu schenken, wollten ihr nicht mehr aus dem Kopf. Bestand vielleicht doch die vage Möglichkeit, daß er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, daß er Sam nicht hatte weh tun wollen oder daß es irgendwie doch ihre Schuld gewesen war? Selbstverständlich nicht, das wußte sie. »Warum verfalle ich dann immer wieder in dasselbe Verhalten?« hatte sie Janice Adler gefragt, ihre psychologische Beraterin am Boston College. »Wieso lasse ich dann immer wieder zu, daß er es schafft, diese Selbstzweifel in mir zu wecken?« »Weil Sie ihn geliebt, ihm vertraut haben, weil Sie ihm alles überlassen haben: Ihre Kraft, Ihr Leben, Ihren Verstand. Sobald eine Frau einmal in diesem Mechanismus gefangen ist und wie in einer dieser Venusfliegenfallen hockt, wird es teuflisch schwer, sich wieder herauszuziehen«, erklärte Janice. »Ein mit allen Wassern gewaschener, unter Kontrollzwang leidender Mensch, wie Dexter zweifellos einer ist, wird Ihnen immer das Wort im Mund umdrehen und etwas anderes daraus machen. Er wird Sie immer glauben machen, daß Sie es falsch gesehen oder aufgefaßt haben oder sonst irgendwie falsch lagen ... Oder vielleicht haben Sie auch etwas von ihm erwartet, das zu erwarten Sie kein Recht hatten.«

Janice seufzte. »Aber machen Sie sich deswegen keine allzu heftigen Vorwürfe, Angela – Sie waren das Opfer einer bewußten und mit großer Erfahrung vorbereiteten Abhängigkeit.«

Heute bestand diese Abhängigkeit nicht mehr ... Sie hatte lange und hart darum gekämpft, sie loszuwerden. Aber irgendwo unter der Oberfläche ihrer neuen Sicherheit lauerte immer noch die Angst... Angela schaffte es zwar einigermaßen, sich auf ihren Unterricht zu konzentrieren, aber ganz hatte sie ihre Gedanken doch nicht im Griff. Gleich nach der zweiten Englischstunde eilte sie auf die Damentoilette. Froh, daß dort niemand war, der ihr irgendwelche Fragen gestellt hätte, blieb sie zehn Minuten in einer der Kabinen sitzen und versuchte die Spannung abzuschütteln, die ihren Körper lähmte. Als sie schließlich nicht länger mehr so tun konnte, als ob, spritzte sie sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, kämmte sich das Haar und ging ins Büro, um sich für den Tag krank zu melden.

Da Freitag war, hatte sie das ganze freie Wochenende vor sich. Sie würde also nach Hause gehen und sich die Angelegenheit kühl und in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Dexter wollte sie aus dem Gleichgewicht bringen, und er hatte Erfolg damit, aber nur, weil sie es zuließ. Sie mußte sich zusammenreißen und die Kontrolle über ihr Leben wieder zurückgewinnen. Und am besten begann sie damit, daß sie Sam über die Situation aufklärte.

Nur der Tod soll uns scheiden

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