Читать книгу Nur der Tod soll uns scheiden - Gloria Murphy - Страница 7

KAPITEL VIER

Оглавление

Sie schützte Kopfschmerzen vor, als Sam unbedingt wissen wollte, weshalb sie so überstürzt aufgebrochen wären. Angela hatte keine Lust, ihm von dem Streit mit seiner Großmutter zu erzählen, vor allem nicht vor dem Hintergrund, daß er sie im Augenblick mit sehr kritischen Augen sah. Das Telefon läutete, als sie den Schlüssel ins Schloß der Eingangstür steckte, und es läutete immer noch, während sie nach oben stürmte, um abzunehmen.

»Hier ist dein Vater«, meldete sich Malcolm, als hätte sie ihn nicht an seiner Stimme erkannt.

»Hör mal, Dad, ich habe wirklich keine Lust, darüber zu reden –«

»Ich weiß, ich verstehe dich ja. Hör mir nur einen Moment lang zu. Deine Mutter war nicht der Meinung, daß wir etwas Falsches tun, wenn wir Dexter ins Haus lassen ... ich übrigens auch nicht. Er hat sich wirklich so angehört, als würde es ihm leid tun. Aber er war ja immer schon sehr geschickt darin, uns an der Nase herumzuführen, oder?«

»Tja«, erwiderte sie gedehnt, während ihr Ärger bereits wieder am Verrauchen war; sie hatte es immer schon gehaßt, ihrem Vater weh zu tun. »Ist schon in Ordnung ... Ich wollte nicht auf dich und Mom losgehen. Woher weißt du das übrigens?«

»Vielleicht wußte ich es immer schon, aber bei allem, was passiert ist, sollten wir jetzt wirklich besser auf der Hut sein.«

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich glaube, er ist gefährlich, Daddy. Die Vorstellung, daß er allein mit Sam sein könnte, macht mir angst.«

»Dann tu, was du für deinen Sohn für richtig hältst. Mutter und ich werden immer hinter dir stehen.«

Nach langem Zureden gelang es ihr endlich, Sam ins Bett zu bringen. Seit sie allein waren, schmollte er wieder mit ihr. Es war zwar schon ein Jahr her, seit er nicht mehr auf einem eigenen Nachtlicht bestand, aber die Tür zu seinem Zimmer mußte immer noch offenstehen und das Licht auf dem Gang brennen. Anschließend setzte sich Angela an den Schreibtisch, korrigierte Arbeiten und entwarf Unterrichtspläne; gegen halb elf war sie müde und reif fürs Bett. Als sie ihre Nachttischlampe löschte und sich hinlegte, läutete das Telefon. Verblüfft tastete sie in der Dunkelheit über den Nachttisch und nahm schließlich den Hörer ab.

»Ich hoffe, es ist nicht zu spät«, sagte Dexter.

Sie spürte, wie es ihr plötzlich kalt über den Rücken lief, und sie zog ihre Decke enger um sich. »Ich habe dir doch gesagt, daß du mich nicht anrufen sollst.«

»Soll ich das so verstehen, daß es zu spät ist?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Und, haben Sam die Stiefel gefallen?«

Auch auf diese Frage gab sie ihm keine Antwort. War es ihm wirklich wichtig, ob sie Sam gefielen, oder wollte er sie mit seinem Anruf und seiner Frage nur ärgern? »Morgen werde ich zur Polizei gehen«, kündigte sie statt dessen an. »Ich werde ihnen ein Bild von dir und eine Kopie der gerichtlichen Verfügung übergeben. Falls du dich hier in der Gegend wieder blicken lassen solltest, wird man dich aufgreifen, und ich werde dich anzeigen. Es ist dein Leben, Dexter, deine Zukunft – das heißt, falls du eine haben möchtest.«

»Ich wollte nicht, daß es so kommt, Angela. Aber du läßt mir keine andere Wahl.«

»Was soll das heißen?« fragte sie, aber er hatte bereits aufgelegt.

Was hatte seine letzte Bemerkung zu bedeuten? War das nur so dahingesagt gewesen, oder hatte er etwas Besonderes damit ausdrücken wollen? Victor schlug vor, sie solle sich doch mal überlegen, sich eine Waffe zu besorgen. »Man weiß nie, manchmal nützt es schon, wenn man nur eine in der Nähe hat. Nur für den Fall –«

»Nein, nie, ich hasse Schußwaffen.«

»Du kannst doch ein paar Schießstunden nehmen.«

»Vergiß es, Victor. Mein Vater ging auf die Jagd, als ich ein Kind war. Einmal hat er mich mitgenommen und aus Zufall eine Hirschkuh erlegt; sie hatte gerade zwei Junge bekommen. Seitdem hasse ich Gewehre, ich fürchte mich zu Tode vor ihnen.« Zu einer Waffe konnte Angela sich zwar nicht durchringen, aber am nächsten Tag, als Sam nachmittags beim Fußball war, ging sie zur Polizei, wie sie Dexter angedroht hatte.

Sie wurde an einen Lieutenant Morton Fergerson verwiesen, der bereits ziemlich lichtes Haar und eine Knollennase hatte; aber er war ruhig und gelassen und hörte sich ihre Geschichte mit den entsprechenden Mißfallensbekundungen an. Sie holte erst Dexters Foto und anschließend die gerichtliche Verfügung heraus, die der Lieutenant in einen Umschlag schob. »Ich werde dafür sorgen, daß der für Ihr Viertel zuständige Officer das auch zu sehen bekommt.«

»Das wäre wunderbar«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer.

Er zuckte nur die Achseln. »Ist doch keine große Sache. Falls er sich je wieder Ihrem Haus nähert, rufen Sie uns an und sagen Sie dem Beamten am Telefon, daß eine Kopie der Verfügung hier bei den Akten liegt.«

»Und was ist mit seinen sonstigen Einmischungen in mein Leben? Wenn er wieder an der Schule vorbeifährt oder meine Eltern aufsucht?«

»Na, ich würde vorschlagen, daß Sie Ihre Eltern bitten, ihn nicht mehr ins Haus zu lassen. Und was die Schule angeht, tja, da zweifle ich, daß irgendein Gericht etwas dagegen unternehmen würde, wenn er sich legitimerweise nach dem Wohlergehen seines Sohnes erkundigt.«

Offensichtlich kannte Dexter seine Rechte genau. »Und daß er uns mit dem Wagen verfolgt?«

Der Lieutenant setzte sich auf seinen Stuhl zurück und zuckte die Schultern. »Wissen Sie, ich möchte nicht, daß Sie denken, ich sei unsensibel, ich sehe ja, wie sehr Sie die Sache belastet, und das ist auch ganz verständlich angesichts der Vorgeschichte. Aber Sie müssen versuchen, sich zu beruhigen und die Sache nicht unnötig aufzubauschen. Vertrauen Sie mir, wenn Sie meine Tochter wären, würde ich Ihnen dasselbe raten. Bisher hat Ihr Exmann noch nicht mehr verbrochen, als Sie damit zu nerven, daß er endlich seinen Sohn sehen will. Er ist weder ausfallend geworden, noch hat er jemanden bedroht, er ist Ihnen gegenüber weder laut geworden, noch hat er sich dem Jungen aufgedrängt...« Es stimmte ja alles, was er sagte, aber wenn er das so Punkt für Punkt aufführte, dann hörte sich das an, als hätte sie überhaupt keinen Grund zur Klage. »Aber er hat doch bestimmt nicht das Recht, uns zu verfolgen«, bemerkte sie schließlich.

»Da haben Sie natürlich recht... das heißt, falls er es tatsächlich getan hat. Aber wir können nicht einfach hergehen und jemanden verhaften nur auf den bloßen Verdacht hin, er könnte jemanden verfolgt haben. So weit sind wir noch nicht. Da müssen wir ihn schon auf frischer Tat ertappen.«

Lieutenant Fergersons Bemerkung, daß Dexter sie vielleicht gar nicht verfolgt hatte, daß ihr Vorwurf auf reiner Angst und nicht so sehr auf Realität begründet war, gab ihr doch zu denken. Aber trotz der Panik, die Dexter in der kurzen Zeit in ihr ausgelöst hatte, seit er vor ihrer Tür erschienen war, mochte sie sein überraschendes Geschenk, die Reitstiefel, doch nicht als Zufall abtun.

Aber sie war erleichtert, daß sie mit der Polizei gesprochen hatte, was ihr ein zusätzliches Gefühl der Sicherheit verlieh. Für den Fall, daß sie sich an die Polizei wenden mußte, war man dort wenigstens vorbereitet und wußte, worum es ging. Als sie danach zu Sams Schule fuhr, bemühte sie sich, Dexter und seine Gegenwart gelassener zu sehen; das war am späten Nachmittag, und der Feierabendverkehr setzte bereits ein. Bis sie dann Sam, der sofort wieder seine beleidigte Miene aufsetzte, in den Wagen verfrachtet hatte, funktionierte das auch.

Dennoch versuchte sie unbeirrt weiterhin, die emotionale Mauer zu durchbrechen, hinter der sich ihr Sohn verschanzt hatte, und eine Unterhaltung zu beginnen – sie erkundigte sich nach der Schule, nach dem Fußballtraining –, erhielt aber nur einsilbige Antworten. Ein erster Fortschritt schien erreicht zu sein, als er sie fragte: »Darf ich in den Schachklub eintreten?«

Das war eines der wenigen Brettspiele, die sie nie gespielt hatte, aber soweit sie wußte, war es eine gute Schulung in Sachen Strategie und Wettbewerb. »Ich wüßte nicht, was dagegen sprechen sollte. An welchem Tag trifft sich denn der Klub?«

»Donnerstags nach der Schule. Heute haben sie über Lautsprecher eine Durchsage gemacht. Brian und Gary gehen hin. Andy auch.«

»Natürlich, in Ordnung, ich könnte mir vorstellen, daß es dir dort gefällt. Ach, übrigens, das Herbstfest in Woodland steht auch wieder an. Soweit ich gehört habe, soll es sogar noch besser werden als letztes Jahr«, sagte sie in Erinnerung an den Riesenspaß, den sie zusammen beim Sackhüpfen gehabt hatten, beim dem sie als Zweite durchs Ziel gegangen waren. »Kann ich mit dir wieder als Partner bei den Spielen rechnen, oder muß ich mir einen neuen suchen?«

»Klar kannst du mein Partner sein, Mommy«, erwiderte er, aber ohne die übliche Begeisterung.

Als sie am Einkaufszentrum in der Piedmont Street vorbeikamen, gab sie Sam zu verstehen, daß sie parken und kurz im Supermarkt vorbeischauen wolle, um Milch und Salatsaucen fürs Abendessen zu kaufen. Gerade als sie nach rechts abbiegen wollte, war sie sicher, Dexter im Rückspiegel entdeckt zu haben. Aber es herrschte reger Verkehr, und auch auf dem Parkplatz waren Autos vor und hinter ihr, so daß sie zum Weiterfahren gezwungen war. Und als sie sich endlich auf einen freien Parkplatz stellen konnte, aus dem Wagen stieg und auf die Straße zurücksah, war Dexter verschwunden.

»Was suchst du denn?« wollte Sam wissen.

Mit aller Gewalt zwang sie sich, die Augen wieder von der Straße zu nehmen und statt dessen Sam anzusehen. Kopfschüttelnd meinte sie: »Nichts. Gar nichts.« Eigentlich hatte sie ihn bitten wollen, im Wagen zu warten, während sie rasch die Lebensmittel einkaufte, aber jetzt änderte sie ihre Meinung. »Komm mit rein. Ich brauche dich, um die Nachspeise auszusuchen.«

Ein schwarzer Lexus, Baujahr ’95.

Während ihrer Freistunde am nächsten Tag saß Hillary Stone ganz allein im Lehrerzimmer und bat Angela, sich mit ihrem Kaffee doch zu ihr zu setzen und ihr Gesellschaft zu leisten. Einige der Lehrer waren Angela gegenüber recht abweisend gewesen, als sie im Jahr zuvor an die Schule gekommen war – warum, war ihr nie ganz klargeworden –, aber Hillary hatte nicht dazugehört.

Angela hatte die Kunstlehrerin immer sympathisch gefunden, auch wenn sie bisher noch kaum über ein gelegentliches Gespräch in den Pausen hinausgekommen waren. Einmal im vergangenen Frühjahr hatte sich Angela Hillarys erbarmt, als sie sah, daß ihre Kollegin ohne Erfolg versuchte, ihren Wagen auf dem Parkplatz der Schule bei strömendem Regen zu starten. Da sie noch zehn Minuten Zeit hatte, ehe sie Sam abholen mußte, blieb sie stehen, machte sich an einer der Zündkerzen zu schaffen und brachte damit den Wagen kurzzeitig wieder zum Laufen, so daß Hillary wenigstens zu einer Werkstatt fahren konnte.

»Himmel, die letzten Tage ist es wirklich schwierig, sich mal in Ruhe mit dir zu unterhalten«, sagte Hillary zu ihr.

»Entweder bist du auf dem Weg zum oder vom Büro des Lookout ... oder du bist mit Victor unterwegs.« Die letzte Bemerkung wurde von einem leicht anzüglichen, aber nicht bösartigen Lächeln begleitet, wobei ein Strahlen über ihr rundliches Gesicht glitt.

»Ich weiß nicht, ob ich es schon mal erwähnt habe, aber Victor und ich sind nur gute Freunde.«

»Na klar ... wenn du das sagst.«

»Nein, ich meine es wirklich ernst.«

Sie mußte sich schärfer angehört haben, als sie die Absicht gehabt hatte, denn plötzlich wich sämtliche Farbe aus Hillarys Gesicht, und sie schob den Steg ihrer Brille ihre schmale Nase hoch. »Uh-uh, tut mir leid, falls ich ein heikles Thema erwischt haben sollte. Ich habe nur Spaß gemacht.«

»Vergiß es, bitte.«

Langsam kehrte das Lächeln wieder in ihr Gesicht zurück. »In Ordnung. Soll das heißen, daß ich dich verkuppeln kann? Ich hätte da nämlich einen Bruder anzubieten, einen eingefleischten Jungesellen, dessen einziges Problem darin besteht, daß er einfach noch nicht die richtige Frau getroffen hat. Ich kann dir versprechen, daß er mir überhaupt nicht ähnlich sieht.«

»Mit deinem Aussehen ist alles in Ordnung, Hillary, mach dich nicht schlechter, als du bist. Und was deinen Bruder betrifft, nein danke, ich bin im Augenblick nicht sehr an Verabredungen interessiert.« Da Hillary sie ansah, als könnte sie eine solche Bemerkung überhaupt nicht begreifen, fügte sie rasch hinzu: »Du weißt doch, daß ich einen Sohn habe?« Und als Hillary nickte, fuhr sie, immer lauter werdend, fort: »Tja, im Gegensatz zu dem, was man so sagt, ist es nämlich überhaupt nicht einfach, ein Kind allein zu erziehen. Ständig werden einem dabei Steine in den Weg gelegt. Man muß sich mit Leuten auseinandersetzen, von denen man nie und nimmer gedacht hätte, daß man mit ihnen etwas zu tun haben würde, geschweige denn, daß man sich auch noch mit ihnen herumstreiten und sich von ihnen in Zweifel ziehen lassen müßte. Deswegen stehen irgendwelche Treffen mit Männern nun wirklich an letzter Stelle auf meiner Prioritätenliste –«

Hillary streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf Angelas Oberarm, die sonst bestimmt noch endlos so weitergemacht und sich noch mehr in Rage geredet hätte. »Ist schon gut, Angela, hörst du. Ich habe begriffen.«

Angela stand auf. »Himmel, ich muß los, das hätte ich ja fast vergessen. Ich muß noch ein Gedicht für meine Schüler der dritten Stunde abziehen. ›Little Orphan Annie‹ von Riley ... Schon mal was davon gehört? Es ist eines meiner Lieblingsgedichte, es vermittelt genau das richtige Gefühl für Halloween, das ja bald vor der Tür steht.« Mit diesen Worten war sie auch schon verschwunden. Sie spürte noch lange Hillarys Blick auf ihrem Rücken.

Sie traf Hillary an diesem Tag zwar nicht mehr – ihr Raum für den Zeichenunterricht lag am anderen Ende des Gebäudes –, aber als Angela an diesem Nachmittag nach einer Reihe von Erledigungen endlich nach Hause kam, war eine Nachricht von ihr auf dem Anrufbeantworter: »Hallo, Angela, hier ist Hillary. Wollte nur mal hören, wie es dir geht, ob alles in Ordnung ist. Tut mir leid wegen heute morgen; ich scheine ja nicht bloß einmal, sondern gleich zweimal ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Vergiß die Sache mit meinem Bruder, ist nicht so wichtig. Aber wenn du mich anrufen möchtest, ich bin jetzt da. Meine Nummer ist 555-4235.«

Hillary verdiente wirklich, daß sie sich bei ihr entschuldigte. Für einen Moment war sie wohl tatsächlich über das Ziel hinausgeschossen. Und Angela hätte Hillary auch sofort zurückgerufen, hätte es nicht an der Tür geläutet und wäre Sam, der am nächsten stand, nicht an die Haustür gestürzt, um zu öffnen. Sie eilte ihm hinterher, in der Gewißheit, Dexter dort stehen zu sehen und somit endlich Grund zu haben, die Polizei zu verständigen. Aber als sie Sam eingeholt hatte, drehte sich dieser mit einem verwunderten Gesichtsausdruck zu ihr um. »Mommy, es ist die Polizei.«

Woraufhin ihre Besorgnis schlagartig ihrem Vater galt, in der festen Überzeugung, daß etwas passiert sein mußte; bis sie jedoch näher kam, die Unterschiede in der Polizeiuniform bemerkte und schließlich die Fliegengittertür öffnete. »Angela King?« fragte der Mann mit dem roten Gesicht und dem windzerzausten Haar.

»Ja, das bin ich.«

»Büro des County-Sheriffs. Das ist für Sie, Ma’am.« Er reichte ihr einen dicken, gelben Umschlag.

Sie starrte dem Mann hinterher, wie er den Gehweg hinunterjoggte, in seinen grauen Sedan stieg und davonfuhr, ehe sie die Geistesgegenwart besaß, sich endlich den Umschlag näher anzusehen, den sie in der Hand hielt. Dann trug sie ihn nach oben in die Küche, setzte sich damit an den Tisch, riß langsam und mit zitternden Fingern den Klebestreifen ab, entfernte die Klammern und holte die im Umschlag befindlichen Papiere heraus: Darunter war eine gerichtliche Vorladung, die ihr Erscheinen im Berufungsgerichtshof von Suffolk County acht Tage später anordnete, und eine vierzehnseitige Klage, in der, unter anderem, auch das Sorgerecht für Sam eingefordert wurde.

Sie hatte das Gefühl, als hätte man ihr einen Holzpflock mitten durch die Brust getrieben, so daß sie kaum mehr atmen konnte ... Aber sie durfte jetzt nicht in Panik ausbrechen, sie mußte bei klarem Verstand bleiben und durfte sich von dem ungeheuerlichen Ansinnen nicht unterkriegen lassen. Sie schlug die letzte Seite einer ebenso dicken, von Dexter unterschriebenen eidesstattlichen Erklärung auf, die eine Anwältin namens Daphne Shotten verfaßt hatte, deren Kanzlei sich in der Milk Street in Boston befand. Dexter hatte nicht den geringsten Respekt vor Frauen, auch nicht vor Anwältinnen – die Vorstellung, daß er sich jetzt von einer vertreten ließ, wäre lustig gewesen, hätte sie nur darüber lachen können ...

»Ist was passiert, Mommy?« fragte Sam jetzt schon zum drittenmal, wie ihr plötzlich klar wurde, als sie seine Stimme vernahm. »Was hat der Polizist dir da gegeben?«

Das war also seine Drohung von Sonntag abend gewesen. Angela konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob das gerichtliche Verfahren nicht bereits vor ihrem Gespräch eingeleitet worden war. Trotzdem kam ihr das alles wie ein schlechter Scherz vor. Wie prinzipienlos oder schlecht beraten mußte ein Anwalt – in diesem Fall eine Anwältin – nur sein, um für einen Mann zu arbeiten oder ihn gar zu ermutigen, das Sorgerecht für einen Sohn anzustreben, den er mit Absicht in Brand gesetzt hatte? Ein Mann, der seine Frau geschlagen und vergewaltigt hatte, ein Mann, der eine Haftstrafe hinter sich hatte, ein Mann, der auf Bewährung frei war?

Er hatte nicht die geringste Chance ... Mutter und Dad kamen zu demselben Schluß, als sie später mit ihnen telefonierte, um sie darüber zu informieren; auch Victor verständigte sie sofort. Der erste jedoch, den sie anzurufen versuchte, war Max Lazarus, ihr Scheidungsanwalt, aber er hatte erst am folgenden Nachmittag einen Termin für sie frei. So brütete Angela die ganze Nacht vor sich hin und fiel erst im Morgengrauen in einen unruhigen Schlaf. Sie war wütend über Dexters Arroganz und seinen anmaßenden Versuch, selbst das Gesetz zu manipulieren, so wie er es von Menschen gewöhnt war. Nur die feste Überzeugung, daß er wirklich nicht die geringste Chance hatte, ließ sie nicht völlig durchdrehen.

Der nächste Tag war trübe, hin und wieder nieselte es, was so recht zu Angelas geistiger Verfassung paßte. Victor hatte sich bereit erklärt, Sam von der Schule abzuholen und mit zu sich zu nehmen, während Angela ihren Vier-Uhr-Termin bei Max Lazarus wahrnahm. Max war freundlich und voller Anteilnahme, keiner von denen, die nur aufs Geld aus waren, wie man es Anwälten oft zum Vorwurf machen konnte. Die Erfahrung hatte sie vor fünf Jahren gemacht, als sie einfach zu ihm ins Büro spaziert war und ihn gefragt hatte, ob er ihre Scheidung übernehmen würde.

Sie mußte schrecklich ausgesehen haben an diesem Tag, mit blauen Flecken am ganzen Körper, die zwar schon verblaßt, aber immer noch sichtbar waren; dazu abgehetzt und müde von ihrer Ausbildung und ihrer Dreißig-Stunden-Woche als Kellnerin, während sie nebenbei noch ständig ins Krankenhaus zu Sam rannte. Als sie ihn danach fragen wollte, ob sie sein Honorar in Raten abstottern könne, hatte er ihr das Wort abgeschnitten mit der Bemerkung: »Machen Sie sich keine Gedanken wegen meines Honorars. Wenn Sie das Geld haben, dann geben Sie es mir.« Angela war erst in dem Jahr, bevor sie zu unterrichten begonnen hatte, mit ihrer Abzahlung fertig geworden.

Aus seinen spärlichen Kommentaren und ihren sonstigen Beobachtungen hatte sie geschlossen, daß er keine Familie besaß. Max lebte allein in einer Wohnung unweit seines Büros, und abgesehen von seiner Leidenschaft für das Gesetz, das er nun schon seit dreißig Jahren vertrat, bestand sein einziges Vergnügen aus seiner allabendlichen Partie Kontrakt-Bridge in einem Bridgeklub in der Nähe.

Seine Anwaltskanzlei lag auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber von Boston, in Cambridge, in einem renovierten Lagerhaus; sein Büro war schlicht und unauffällig, offensichtlich genau so, wie er es mochte.

Sie hatte ihn seit ihrer Scheidung nicht mehr gesehen. Jetzt fielen ihr um so stärker sein schütter gewordenes Haar und das zusätzliche Gewicht auf, was ihn älter und müder erscheinen ließ ... Dennoch hatte sie das Gefühl, als nähme man ihr eine enorme Last von den Schultern, als sie ihm nun gegenübersaß und er die Papiere durchlas. Schließlich lehnte er sich zurück, verschränkte seine Hände mit den blassen Sommersprossen vor der Brust und musterte sie von oben bis unten.

»Sie sehen wirklich um einiges besser aus als beim letztenmal, junge Frau.«

»Na ja, im Augenblick fühle ich mich allerdings nicht so gut.« Sie deutete auf die Papiere. »Das Sorgerecht, Max, er versucht, mir meinen Sohn wegzunehmen ...«

»Ganz ruhig«, erwiderte er und hob beschwichtigend die Hand.

»Er meint das nicht ernst, das ist pure Strategie, sonst nichts. Das soll Ihnen Angst einjagen und den Richter psychologisch richtig einstimmen. Je mehr er von dem Kuchen verlangt, desto größer ist das Stück, das er letztendlich dann auch bekommt.«

»Aber die Gründe, die er in seiner Klageschrift angibt ... Entfremdung von einem Elternteil. Ich begreife das nicht...«

»Was haben Sie Sam über seinen Vater erzählt?«

»Tja, bis vor kurzem nicht sehr viel. Nur daß er weg ist und nicht mehr wiederkommen wird.«

»Hat Dexter je zuvor versucht, mit dem Jungen Kontakt aufzunehmen?«

Sie nickte. »Ja, also, er hat ihm ein paar Briefe geschrieben, in den ersten Jahren ... Sie waren an Sam adressiert, aber ich habe sie natürlich erhalten. Ich meine, Sam konnte sie ja noch nicht lesen.«

»Und?«

»Ich habe wenig Sinn darin gesehen, sie ihm zu geben. Selbst wenn er es verstanden hätte, es hätte ihn nur unnötig verwirrt.«

»Ich verstehe. Was haben Sie damit gemacht?«

»Mit den Briefen? Ich habe sie ungeöffnet zurückgeschickt.«

Er seufzte. »Sie hätten sie besser verbrennen sollen, so hätte jetzt keiner was davon. Aber das ist schon in Ordnung, damit werden wir schon fertig. Was war in letzter Zeit, was haben Sie da dem Jungen über seinen Vater erzählt?«

»Nur die Wahrheit, daß Dexter ihm und mir sehr weh getan hat.« Dem nicht eben erfreuten Ausdruck auf dem Gesicht des Anwalts konnte sie entnehmen, daß ihm ihre Antwort nicht sehr gefiel. »Was soll das werden, Max?« fragte sie. »Ich habe das Gefühl, als würde ich hier vor Gericht stehen. Was hätte ich ihm denn sagen sollen, daß sein Vater ein echt netter Kerl ist, der sich ein Jahr lang Auszeit genommen hat? Also, diese Lüge werde ich nicht verbreiten, darin sehe ich keinen Sinn. Im Gegenteil, je eher Sam versteht, warum ich seinen Vater nicht in seiner Nähe haben will, desto besser. Und ich will es wirklich nicht, Max, Dexter hat keinerlei Rechte, er hat sie damals alle aufgegeben, als er –«

Beschwichtigend hob der Anwalt beide Hände und unterbrach sie mitten im Satz. »Hören Sie, Angela, mich müssen Sie nicht davon überzeugen. Meine einzige Sorge gilt dem Richter, dem wir das verkaufen müssen. Meiner Meinung nach hätte man Ihren Exgatten teeren und federn sollen. Er versucht doch jetzt nichts anderes, als Ihnen den Schwarzen Peter zuzuschieben, indem er anklingen läßt, daß Sie diejenige seien, die für seine nicht existierende Beziehung zu seinem Sohn verantwortlich ist.«

Angela ließ sich seufzend auf ihrem Stuhl zurückfallen. »Max, am schlimmsten und am skrupellosesten an der Sache ist diese Verlogenheit – in dem Verfahren geht es eigentlich um mich und nicht um Sam. Dexter hat die ersten beiden Jahre seines Lebens seinen Sohn kaum wahrgenommen, nur insofern, als er meine Zeit ungebührlich in Anspruch nahm, Zeit, die eigentlich ihm zustand, wie Dexter meinte.«

»Hat er Ihnen denn irgendwelche Avancen gemacht, irgendwelche sentimentalen Annäherungsversuche, um die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen?«

»Nein, aber das würde er auch nie tun. Ich meine, dafür ist er viel zu schlau, zumindest würde er es nicht so offensichtlich anstellen.«

Max fuhr sich mit der Hand über die rauhen Bartstoppeln auf seinem vollen Gesicht. »Nehmen wir einmal an, daß das wirklich dahintersteckt, und ich will damit nicht sagen, daß Sie sich täuschen ... Es kann jedoch sein, daß uns das Gericht das nicht abkauft. Daß ein Mann eine Beziehung zu seinem Sohn haben möchte, ist weder ungewöhnlich noch schwer vorstellbar. Und wenn er wirklich so schlau ist, wie Sie immer behaupten, dann wird er von seiner Position auch kaum abrücken: Diese Papiere zeichnen das Bild eines Mannes, der bereut, der aus den Sünden seiner Vergangenheit lernen und ein neues Leben beginnen will. Das klingt äußerst vernünftig ...«

»Tut es das?«

»Sie meinen für mich?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich bin auch ein Zyniker, Angela. Meiner Ansicht nach bringt es nur wenig, Menschen mit Vernunft zu begegnen, die sich nicht innerhalb ihrer Grenzen bewegen. Ich würde mir immer die Frage stellen: Was ist mit diesem Menschen passiert, das mich glauben macht, er habe sich tatsächlich geändert? Ich weiß nur, daß er fünf Jahre weggesperrt war, zusammen mit anderen kranken und gewalttätigen Männern, von denen manche vielleicht viel schlimmer waren als er. Ich bin kein großer Verteidiger der Gefängnisreform; im großen und ganzen ist die Entwicklung eines Menschen bereits abgeschlossen, wenn er das erstemal dorthin kommt.«

Sie nickte; sein letzter Satz hatte großen Eindruck auf sie gemacht. Sie stand der Gefängnisreform und der Rehabilitation auch eher skeptisch gegenüber, zumindest in Dexters Fall, dessen dunkle Seite sie bestens kannte; bei ihm würde so etwas nie wirken. »Max, sagen Sie es mir geradeheraus. Wie stehen seine Chancen?« fragte sie schließlich.

»Das Sorgerecht zu bekommen? Da können Sie völlig beruhigt sein, Angela. Das ist für mich kein Thema.«

Ihr war gar nicht bewußt gewesen, daß sie die Luft angehalten hatte, bis sie endlich mit einem Seufzer ausatmete. »Aber einen Punkt gibt es«, fuhr er fort, »beim Umgangsrecht, da sieht die Sache schon wieder anders aus.«

»Ich will nicht, daß er auch nur in Sams Nähe kommt.«

»Dann müssen wir eben das Gericht davon überzeugen, daß Dexter einen schlechten Einfluß auf das Leben des Kindes hätte und eine physische und emotionale Bedrohung darstellen würde. Ich werde verlangen, daß ein psychologischer Gutachter hinzugezogen wird, der Dexter beurteilen soll.«

»Ist er denn im Gefängnis nicht in Behandlung eines Arztes gewesen?«

»Könnte ich mir denken. Aber wahrscheinlich war das auch der Arzt, der seiner vorzeitigen Entlassung auf Bewährung zugestimmt hat.«

Auf diese Idee war sie bisher noch gar nicht gekommen ... Und nun gefiel ihr der Gedanke nicht besonders. Konnte das nicht auch bedeuten, daß der Gefängnispsychologe bei einer Sorgerechtsverhandlung zu Dexters Gunsten aussagen und daß seiner Aussage auch großes Gewicht beigemessen werden würde? Aber sie stellte die Frage nicht... Max hatte ja schon gesagt, daß Dexters Antrag auf Sorgerecht keinerlei Aussicht auf Erfolg beschieden war, und sie wollte das Thema jetzt nicht noch einmal zur Sprache bringen. Statt dessen konzentrierte sie sich auf die Wahrscheinlichkeit einer Umgangsregelung, eine Vorstellung, die schon schrecklich genug war. »Max, wie stehen unsere Chancen, ihn völlig von Sam fernzuhalten?«

»Meiner Ansicht nach haben wir durchaus aussagekräftige Argumente, und den gesunden Menschenverstand haben wir auch auf unsere Seite«, erwiderte er. Doch gerade als sie aufatmen wollte, schob er einen Einwand nach. »Aber seien Sie gewarnt, Angela, beim Familienrecht läuft alles nach Gefühl... aus diesem Grund ziehe ich andere Rechtsgebiete vor.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß es hier keine Jury aus Geschworenen gibt, nur einen Richter. Und es gibt auch nicht sehr viele Fallurteile, auf die man zurückgreifen könnte, um diesen Richter anzuleiten oder in die Schranken zu weisen. Dadurch verfügt er über eine ziemlich große Macht und hat einen Handlungsspielraum, der größer ist, als es für einen einzelnen, unvollkommenen Menschen gesund sein kann.«

»Wollen Sie mir damit sagen, daß die Entscheidung mehr oder weniger von der Laune des Richters abhängt?«

»Nun, so weit würde ich nun nicht gehen. Aber sie hängt oft genug von seiner Lebenseinstellung ab.«

»Mit anderen Worten, sind elterliche Rechte von Natur aus angeboren und dürfen unter keinen Umständen angetastet werden? Soll ein Vater, der sich als gewalttätig und grausam erwiesen hat, einfach so aus dem Gefängnis herausspazieren und behaupten dürfen, daß er immer noch Rechte auf sein Kind hat? Bitte, Max, sagen Sie mir, daß das lächerlich ist, daß kein Richter so etwas denken wird!«

Im wesentlichen tat er das, aber er gab ihr auch noch einmal deutlich zu verstehen, daß das Familienrecht eigentlich nicht seine Sache war. Er habe zwar schon einige Scheidungsfälle mit Sorgerechtsregelungen erfolgreich bestritten, aber es gebe doch jede Menge Topanwälte in Boston, die sich mit nichts anderem beschäftigten ... unter anderem auch Dexters Anwältin. »Wenn Sie möchten, könnte ich Ihnen jemand empfehlen, Angela ...«, fügte er hinzu, aber sie ließ ihn nicht ausreden. Sie hatte Vertrauen in ihn, in seine Integrität und seine Intelligenz – und, was genauso wichtig war, für Max war das kein Fall unter vielen, er wußte, was Dexter auf dem Kerbholz hatte.

Nur der Tod soll uns scheiden

Подняться наверх