Читать книгу Nur der Tod soll uns scheiden - Gloria Murphy - Страница 8
KAPITEL FÜNF
ОглавлениеEs hatte zu regnen aufgehört, war aber immer noch naß, als Angela zu Victor kam und ihn dabei antraf, wie er in der kleinen Gasse hinter seinem zweistöckigen Haus Sam Übungsbälle zuwarf. Sam war immer noch wütend auf sie und ließ sie nur auf Armeslänge an sich heran; so dauerte es eine Weile, bis Sam endlich auftaute. »Was ist denn mit dir passiert?« fragte sie, als sie den frischen Kratzer auf seiner Wange bemerkte.
Er zuckte gleichgültig die Achseln. »Ach, das ist nichts, ich bin im Dreck ausgerutscht und gegen den Zaun geknallt.«
Sie sah Victor fragend an, der ebenfalls die Achseln zuckte. »Der Kratzer und dann noch ein paar am Knie. Wir haben sie gesäubert und dick mit Jod bepinselt, du mußt dir keine Sorgen machen. Da wir gerade dabei waren, haben wir seine Jeans auch noch gleich in die Waschmaschine und anschließend in den Trockner gesteckt – aus lauter Angst, du würdest uns den Kopf abreißen, wenn du den ganzen Dreck siehst.« Als keine Reaktion auf seine flapsige Bemerkung erfolgte, warf Victor Sam den Ball zu. »Warum übst du nicht eine Weile den Kurvenball, den ich dir gezeigt habe? Wirf doch ein paarmal gegen die Garagenwand«, schlug er vor, und während Sam mit dem Ball verschwand, lehnte sich Angela an den Zaun und erzählte Victor fast wortwörtlich, was Max zu ihr gesagt hatte.
»Na, das ist doch eine Erleichterung ... zumindest, was das Sorgerecht betrifft. Und was passiert jetzt als nächstes?«
Natürlich war es eine Erleichterung, sie war nur sehr müde; sie hatte es satt, sich Dexters wegen Sorgen machen zu müssen, sie hatte keine Lust mehr auf die Schmollkampagne ihres Sohnes zugunsten eines Vaters, den er gar nicht kannte. »Zunächst kommt es zu einer vorläufigen Anhörung. Dabei werden sich erst mal nur die Anwälte herumstreiten – der Richter wird Übergangsverfügungen erlassen, ohne dabei einem richtigen Verfahren mit Zeugenaussagen vorzugreifen.«
»Wahnsinn. Klingt, als würde das einiges kosten.«
»Wenn ich ihn damit nur los würde«, seufzte sie. Eine Erklärung, wen sie damit meinte, war nicht nötig. Dasselbe hatte sie auch schon ein paar Stunden zuvor gedacht, als sie Max eine Anzahlung von tausend Dollar gegeben hatte, die ein Riesenloch in ihre ohnehin schon bescheidenen Ersparnisse riß. Ein anderer Anwalt hätte jedoch mit Sicherheit das Fünffache von ihr verlangt.
»Wo nimmt der gute Dexter die viele Kohle her?«
»Gute Frage«, antwortete sie. »Meine Mutter hat mir erzählt, er habe bereits bei seinem ehemaligen Sendeleiter vom Rundfunk vorgesprochen wegen seiner alten Stelle. Falls es dazu kommt, na ja, er hat früher ganz gut verdient. Wenigstens sah es so aus.«
»Wußtest du das denn nicht?«
»Ich schäme mich zwar dafür, es zu sagen, aber nein, ich wußte es nicht. Er hat sein Geld immer nur tröpfchenweise verteilt, für den Haushalt war immer genügend da ... Er hat sich auch nicht geweigert, mir Geld zu geben, wenn ich ihn wegen bestimmter Sachen darum bat. Aber es war immer so, daß ich ihn bitten mußte und er gegeben hat, eine Art Spiel, bei dem sich der, der bittet, immer schuldig fühlt. Als es um das Geld für meine Ausbildung ging, hat er es mir jedoch verweigert. Er war dagegen, daß ich wieder an die Uni ging; für ihn war es dasselbe wie Sam, etwas, das mich ihm wegnahm.«
»Vielleicht hatte er damit sogar recht«, bemerkte Victor. Sie dachte darüber nach... ja, wahrscheinlich hatte er damit recht gehabt. Sobald Angela sich mit anderen Studenten auf anregende Gespräche eingelassen und ihr Wissen und ihren Intellekt getestet hatte, hörte sie auf, in Dexter eine Art allwissendes Wundertier zu sehen. Gelegentlich war ihr Selbstvertrauen sogar so stark, daß sie sich in der Diskussion mit ihm maß und einige seiner radikalen Ansichten tatsächlich in Frage stellte. Und letzten Endes auch ihre Beziehung, ihre Ehe.
»Wie dem auch sei«, fuhr sie schließlich fort, »meine Eltern haben mir viel geholfen, und ich habe alle möglichen studentischen Darlehen in Anspruch genommen, die ich wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage abzahlen werde – obwohl es mir gar nicht gefällt, anderen auf der Tasche zu liegen.«
»Wie sah denn die finanzielle Regelung nach deiner Scheidung aus?«
Sie zuckte vielsagend die Achseln. »Wir haben überall nach Konten gesucht, aber es waren nirgends welche zu finden. Nirgends ... und natürlich hat er abgestritten, daß überhaupt welche existierten.«
»Mit anderen Worten, es könnte sein, daß er irgendwo ein kleines Pölsterchen für schlechte Zeiten beiseite geschafft hat.«
»Vermutlich. Es besteht die Möglichkeit, daß er alles oder zumindest einen Teil seines Geldes seiner Familie in New Jersey gegeben hat, entweder damit sie es für sich verwenden oder aber für ihn aufheben.« Auf diese Idee war sie auch damals schon gekommen, und Max hatte auch ein paar diesbezügliche Briefe geschrieben, ohne damit jedoch etwas zu erreichen. Und natürlich hatten sie keinen Beweis gehabt. Angela seufzte, damals war sie noch jung gewesen, was ihre Dummheit ein wenig entschuldigen mochte.
»Das heißt also, alles bleibt beim alten, bis es vor Gericht geht?« Und genauso war es auch – die gerichtliche Verfügung war immer noch in Kraft, wie Max ihr versichert hatte. Aber sie hatte nicht gewußt, daß Dexter ihr an diesem Tag gefolgt war, und hätte es wahrscheinlich auch nie erfahren, hätte er es ihr nicht selbst erzählt, als er nur zehn Minuten, nachdem sie ihr Gespräch mit ihrer Mutter an diesem Abend beendet hatte, bei ihr anrief.
»Hältst du das für klug, Angela?« fragte er. »Willst du wirklich bei demselben lahmen Anwalt bleiben?«
Es kostete sie Mühe, einen Ton herauszubringen. »Du verdammter Mistkerl«, sagte sie schließlich.
»Was?«
»Ich will, daß du mich in Ruhe läßt.«
»Hör mal, es besteht überhaupt kein Grund, so empfindlich zu reagieren. Ich spreche das doch nur deinetwegen an, ich habe schließlich nichts davon. Ich bezweifle nur, daß der Kerl als Anwalt was taugt. Ist er der Sache überhaupt gewachsen?«
»Ist das deine kranke Art, mir zu sagen, daß du mir gefolgt bist?« stieß sie hervor. Sie fragte sich, wieso sie sich überhaupt auf ein Gespräch mit ihm einließ.
Aber noch während sie sich diese Frage stellte, fuhr er bereits wieder eine andere Strategie. »Ich weiß, daß sich das etwas vereinfachend anhören wird, Angela, aber mir gefällt das wirklich nicht, was hier passiert. Diese Art der Auseinandersetzung ist doch gar nicht unser Stil – sie tut nicht nur uns nicht gut, sie hat auch eine destruktive Wirkung auf den Jungen. Ich würde viel lieber das Kriegsbeil begraben, die Anwälte nach Hause schicken und mit dir zusammen eine Lösung finden.«
Sie gab ihm keine Antwort, aber ihr Kopf arbeitete dafür um so heftiger und malte sich Möglichkeiten aus, wie sie Dexter irgendwie so um den Finger wickeln könnte, daß er von sich aus nachgab und verschwand. Aber diese Seifenblase zerplatzte rasch, als er fortfuhr und meinte: »So wäre ich zu diesem Zeitpunkt noch bereit, ein gemeinsames Sorgerecht zu akzeptieren, bei freier Umgangsregelung natürlich.«
»Nicht, solange ich noch lebe ...«
Nach einem tiefen Seufzer sagte er: »Ach ja. Aber mal etwas anderes, wenn du Lust hast, dann schalte doch nächsten Mittwoch abend um neun Uhr Radio WBZY ein, meine erste Sendung nach fünf Jahren. Der Haken an der Sache ist nur der, daß ich nicht einfach auf Sendung gehen und so tun kann, als hätte ich mir fünf Jahre Auszeit genommen. Eine hellhörige Hörerschaft wird mir das nicht abkaufen.
Nein, nein, wenn ich mir weiter die Zuneigung und Aufmerksamkeit meiner Fangemeinde sichern will, dann muß ihnen meine Ansage wirklich unter die Haut gehen, bis sie meinen, ich sei ein Teil von ihnen. Deshalb werde ich auch meine Karten offen auf den Tisch legen, statt lange um den heißen Brei herumzureden. Ich werde ihnen einen tiefen Einblick in meine Seele gestatten und ihnen alles offenbaren: meine Fehler, meine Schwächen, meine dreckigen Sünden. Wer weiß, Angela, vielleicht kommst du ja auf deine Kosten. Vielleicht werde ich bei lebendigem Leib verspeist.«
Kurz danach zerlegte sie fast den ganzen Küchenschrank auf der Suche nach ihren schmerzlich vermißten Bonbons. Als sie schließlich die leere Tüte fand, lief sie in Sams Zimmer und hielt sie demonstrativ in die Höhe.
»Die war letzte Woche noch voll. Du weißt doch, daß du keine Süßigkeiten essen sollst, ohne mich vorher zu fragen.«
Sam spielte gerade auf dem Boden mit seiner Sammlung Dinosaurier – Ollie hockte wie immer daneben und kaute an seinem Katzenfutter, das er bestimmt von Sam bekommen hatte – und warf ihr von unten einen seltsamen Blick zu. »So viele habe ich aber nicht genommen«, sagte er.
»Aber die Tüte lügt nicht, Sam. Und ich habe jetzt auch keine Lust auf eine Diskussion. Laß es in Zukunft einfach bleiben.« Sie war sich nicht sicher, ob es ihr Tonfall, der Inhalt ihrer Botschaft oder der niedergeschlagene Ausdruck auf Sams Gesicht war, aber als sie das Zimmer verließ, fühlte sie sich seltsamerweise schuldig, unnötigen Wirbel wegen einer Tüte Bonbons gemacht zu haben.
Die Anhörung war für die folgende Woche angesetzt. Sie fürchtete sich fast ebensosehr vor dem Ereignis, wie sie es herbeisehnte, damit sie es endlich hinter sich hatte. Doch in letzter Minute verlangte Dexters Anwältin einen Aufschub um acht Tage, wodurch ihr Fall einem anderen Richter zugewiesen wurde. Laut Max kam es regelmäßig vor, daß solche Vertagungen verlangt wurden, die nur selten, wenn überhaupt, von der Gegenseite abgelehnt wurden. Angela war dennoch der festen Überzeugung, daß dies nur ein Trick sei, um ihre Nerven noch weiter zu zerrütten.
Wie auch immer, in den darauffolgenden Tagen konnte sie an nichts anderes als an Dexter denken; sie wußte genau, daß er sie beobachtete, und Sam bereitete ihr zusätzlichen Ärger und Schwierigkeiten. Sie hatte Probleme einzuschlafen und stand nachts mindestens zweimal auf. Tagsüber ertappte sie sich dabei, daß sie beim Fahren alle paar Sekunden in den Rückspiegel blickte und ständig ihre Umgebung überprüfte, auch die Straßen und Geschäfte, in denen sie mit Sam einkaufte, selbst die in der Nähe ihrer Wohnung, immer in der Furcht, ihn zu entdecken. Doch noch mehr Angst hatte sie davor, daß er dasein könnte und sie ihn nicht sah.
Sie hatte nicht die geringste Absicht, seine Radiosendung einzuschalten, wie er ihr vorgeschlagen hatte; diese Absichtserklärung seiner öffentlichen Beichte hatte doch nur den Zweck verfolgt, sie noch mehr zu reizen. Würden die Hörer zwei und zwei zusammenzählen und seine Verbindung zu ihr und Sam erkennen? Oder machte sie sich unnötige Sorgen? Schalteten nicht die meisten Menschen, die sie kannte, abends den Fernseher ein und nicht das Radio? Trotzdem traf es sie, daß er sie und Sam so in der Öffentlichkeit vorführen konnte, das war nicht fair. Gab es dagegen keine gesetzliche Handhabe?
Sie rief in einer Freistunde deswegen sogar bei Max an, um ihm diese Frage zu stellen, aber er meinte, daß Dexter sich in dem Fall immer auf den ersten Verfassungszusatz berufen könne; das Recht auf freie Rede stand ihm zu, solange er sie nicht absichtlich oder fälschlich verleumdete. Der Anwalt schlug ihr jedoch vor, daß sie sich die Sendung anhören und sie sogar auf Band aufzeichnen solle ... Nur für den Fall, daß Dexter übers Ziel hinausschießen und ihnen damit Gelegenheit zur Klage geben würde. Am Mittwoch nach der Schule fuhren sie und Sam in die Reinigung, um Kleidung abzuholen, und erstanden anschließend noch leere Kassetten für ihren Kassettenrecorder, ehe sie in ein Schuhgeschäft gingen. Ein paar Tage zuvor hatte Sam ein ziemlich großes Loch in seine fast neuen und sehr teuren Reebok-Turnschuhe gerissen, als er in der Pause über einen Drahtzaun geklettert war. Es war schon fast fünf Uhr, als sie nach Hause kamen, wo sie auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht von Connie Banks wegen der Elterninitiative an Sams Schule vorfand. Zum Glück hatte Angela den Anruf verpaßt; sie hatte auch nicht die Absicht, ihn zu erwidern, wenigstens an dem Tag nicht mehr. Das letzte, was sie im Moment interessierte, war eine weitere Verpflichtung ...
»Bis du immer noch sauer wegen der Schuhe?« fragte Sam sie an diesem Abend, bevor er ins Bett ging.
»Ich habe dir doch gesagt, daß ich nicht sauer war. Aber es ist interessant, daß du mich das fragst, wenn man bedenkt, wie du dich mir gegenüber in der letzten Zeit benommen hast.«
»Nicht so schlimm wie du. Du bist doch diejenige, die die ganze Zeit über den Hals reckt und sich umschaut, als ob gleich ein Monster nach uns schnappen würde. Du benimmst dich doch dauernd so merkwürdig, du streitest dich sogar mit Oma und Opa herum.«
»Das tue ich nicht, ich bin nicht –« Sie hielt inne, Himmel, entging ihm denn gar nichts? »Tja, wenn du es so siehst, Sam, dann tut es mir leid. Ich mache das nicht mit Absicht.« Sie legte die Arme um ihn und drückte ihn an sich. Sie spürte, daß sein ganzer Körper sich versteifte und nur widerwillig auf sie einging.
Er entzog sich dann auch rasch wieder ihrer Umarmung. »Es geht immer noch um ihn, richtig?« murmelte er.
Es bestand kein Grund, dieses »ihn« näher zu definieren. »Bitte, Sam, ich möchte das jetzt nicht noch einmal diskutieren.«
»Wenn du nur wolltest, könntest du bei uns einsteigen.«
»Wie meinst du das?«
»Daß wir drei doch zusammen etwas unternehmen könnten. Du müßtest nicht allein bleiben.«
»Hast du ihn gesehen, Sam? Antworte mir, hast du mit deinem Vater gesprochen?« Hatte ihn ihre unerwartete Frage tatsächlich überrumpelt, oder versuchte er nur, ihrer Frage auszuweichen? Auf jeden Fall bohrte sie in diese Richtung weiter, als er ihr nicht gleich eine Antwort gab. »Hast du gehört, was ich dich gefragt habe? Hast du mit ihm gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf und fügte mit dünner Stimme hinzu:
»Nein ... du hast doch gesagt, ich darf das nicht.«
»Wie kommst du dann auf die Idee, daß wir drei zusammen etwas unternehmen könnten?«
»Ich weiß es nicht, ich bin eben auf die Idee gekommen.« Aber jetzt standen verdächtige Tränen in seinen Augenwinkeln, und Angela empfand sofort Reue und Mitleid. Er versuchte doch nur, eine Lösung zu finden; sein kindliches Gemüt wollte nicht begreifen, daß es Dinge im Leben gab, für die keine fertigen Lösungen zu finden waren. Jedenfalls war es nicht zu entschuldigen, daß sie dermaßen auf ihn losgegangen war. Außerdem war ihr Verdacht völlig irrational... Wo und wann hätte er Dexter denn wohl gesehen haben können?
Wie bereits vor Jahren hatte sein Sender ihn als »König der Talk-Shows« angekündigt. Und als seine tiefe, wohlklingende Stimme dann tatsächlich aus dem Apparat erklang, konnte Angela fühlen, wie ihr Magen sich zusammenzog.
»Heute abend, meine Freunde, bringe ich euch keine Geschenke ... nur mich selbst«, begann er. »Diejenigen unter euch, die meine Karriere mit Wohlwollen verfolgt haben, erinnern sich vielleicht noch an den einundzwanzigsten Januar vor fünf Jahren ... Ein Datum, das sich fest in meine Erinnerung eingebrannt hat und unter der Überschrift ›Streit und Boshaftigkeit‹ in meinem Kopf abgelegt ist. Aber war diese boshafte Ader bereits bei der Geburt vorhanden, oder hat sie sich erst wie ein schmarotzender Parasit in mein Innerstes gebohrt, ohne daß ich es bemerkt hätte?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, daß ich damals eine Frau und ein Kind hatte ... eine wunderschöne Frau, einen prachtvollen Jungen, die mein Lebensmittelpunkt waren, gegen den nichts ankommen konnte. Doch irgendwie habe ich es geschafft, das alles mit einem Schlag zu vernichten. Ich werde nicht versuchen, eure Intelligenz zu beleidigen, indem ich die Fakten verniedliche – denn an diesen Fakten ist nichts Schönes oder Niedliches. Meine lieben Freunde draußen am Apparat, hört mich an: Vor fünf Jahren im Januar habe ich meine Frau geschlagen und sie gezwungen, mit mir zu schlafen. In dem allgemeinen Durcheinander hinterher habe ich meinem kleinen Sohn unabsichtlich Brandwunden am Oberkörper beigebracht.«
Nein, nein, das nennt man nicht ›miteinander schlafen‹, Dexter –so etwas wird heute in unserer aufgeklärten Zeit Vergewaltigung genannt ... und dann hat sich doch tatsächlich wieder dieses Wörtchen ›unabsichtlich‹ in deine Rede geschmuggelt ... Dennoch, es war nicht zu leugnen, eine starke Ansprache. Als Angela so allein in ihrem Schlafzimmer saß und ihm zuhörte, hatte sie das Gefühl, daß er ihr erneut die Kleider vom Leib riß, dieses Mal aber in aller Öffentlichkeit. Und als der geübte Selbstdarsteller, der er war – und um seinen Vortrag noch zu perfektionieren –, hielt Dexter nun ein paar Sekunden inne, damit seine Worte besser ihre Wirkung entfalten konnten.
»Nein«, fuhr er schließlich fort. »Für das, was ich getan habe, gibt es keine Rechtfertigung oder Entschuldigung. Ein derart widerliches Verhalten ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen. Ich war regelrecht übergeschnappt, wies alle Anzeichen seelischer Verwahrlosung auf: Ich fühlte mich zerschlagen, hintergangen, getäuscht, dem Selbstmord nahe. Was immer einen Menschen quälen kann, es quälte mich. Das gute Leben, das ich noch im Augenblick zuvor geführt hatte, war mir abhanden gekommen, kaum daß ich mich einen Moment umgedreht hatte. Denn drei Wochen zuvor war ich nach Hause gekommen und hatte meine gepackten Koffer draußen vor der Haustür in Reih und Glied vorgefunden; meine Frau hatte beschlossen, daß unsere Ehe ihren Ansprüchen nicht mehr genügte.«
Und den ganzen Teil dazwischen läßt du einfach aus ...
»Wartet, meine Freunde, langsam«, beschwichtigte er, als wollte er das Tempo drosseln. »Ich fühle mich euch so eng verbunden, daß ich meine, euren Pulsschlag zu spüren, ich höre es geradezu ticken in eurem Kopf. Aber wenn ich heute abend etwas klarstellen möchte, dann folgendes: Meine Frau hatte jedes verdammte Recht dazu, diese Entscheidung zu treffen, wir leben in einem freien Land, wie haben unsere unleugbaren Rechte. Bitte, ihr sollt wissen, ich versuche hier nicht, meine Exfrau schlechtzumachen.
Nein, ganz im Gegenteil, sie ist die Gute, die Unschuldige, sie und mein Sohn waren die Opfer dieser häßlichen Geschichte, nicht die Täter. Und sie waren auch der Held und die Heldin dieser Geschichte. Denn trotz des vielen Leides, das ich über sie gebracht habe, während ich im Gefängnis saß und versuchte, das Krebsgeschwür aus meiner Seele zu reißen und Absolution bei Fremden zu finden, obwohl ich mir selbst keine zu geben hatte, hielten sie tapfer durch und schufen sich ein anständiges Leben. Ich kann ihnen dafür nur Beifall spenden.«
Verdammt, Dexter, wir brauchen weder deinen Beifall noch deinen Kommentar.
»Aber dieses Bekenntnis, das mir wahrhaftig nicht leichtfällt, biete ich nicht nur ihnen dar, sondern auch euch, meine Freunde«, fuhr er fort, seine Zuhörerschaft dadurch noch stärker an sich fesselnd. »Ich habe euch einen Bilderbuchlebenslauf geliefert, ohne zu beschönigen ... damit allen bösartigen und schmutzigen Geschichten, die ihr über Dexter King vielleicht gehört habt oder noch zu hören bekommt, von vornherein der Wind aus den Segeln genommen wird. Denn wenn ihr mir gestattet, daß ich fünfmal die Woche bei euch zu Gast bin, wenn ihr euch schon meine schrägen Kommentare zum Weltgeschehen anhören wollt, dann habt ihr, verdammt noch mal, auch das Recht, zu wissen, wer ich bin.«
Ihr wißt trotzdem immer noch nicht, wer er ist... und wenn er die ganze Nacht so weiterreden würde, wüßtet ihr es noch nicht. Es folgte eine lange Pause, eine Pause, in der sich seinen Zuhörern draußen das Gefühl vermittelte, er würde sich geistig und emotional sammeln und versuchen, seine Gedanken wieder auf die Reihe zu bekommen. Mit lauter Stimme sagte er schließlich: »Okay, meine Freunde, ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte. Was haltet ihr davon? Alle Linien sind geschaltet und warten auf euren Anruf – Dexter King ist wieder zurück. Meldet euch unter 555-3073, bei WBZY, dem Talk-Sender von Boston.«
Erst Musik, dann ein Werbespot für Streichkäse, dann übernahm er den ersten Anrufer.
»Dexter, hier ist Crystal.«
»Ich bin ganz Ohr, Crystal.«
»Sie sind ein guter Mensch, Dexter, ein mutiger noch dazu. Ich kenne nicht viele Männer, die den Mumm besessen hätten, aufzustehen und sich dem Urteil ihrer Mitmenschen zu stellen, wie Sie das eben getan haben. Meiner Meinung nach verdienen Sie eine Goldmedaille und keine Vorwürfe. Also, hören Sie auf, sich selbst so schlechtzumachen, ja? Unser Herr Jesus Christus hat sich ans Kreuz nageln lassen, damit uns Sündern vergeben wird, und jetzt denke ich, ist es höchste Zeit, daß Sie sich auch vergeben.«
»Der Herr segne Sie...«, sagte Dexter, während er Crystals Ausführungen abwürgte und die Verbindung unterbrach. Glaubte Dexter eigentlich an Gott? Angela bezweifelte es, früher jedenfalls nicht, er hatte das nur gesagt, um sich über die Frau lustig zu machen ... und dabei kannte er sie überhaupt nicht.
Angela hörte sich nur noch teilweise die Schmährede des nächsten männlichen Anrufers an, der sich laut die Frage stellte, was für eine Frau einen anständigen Kerl wie Dexter einfach so in die Wüste schicken konnte. »Das haben wir doch alles nur dieser widerlichen Frauenbewegung zu verdanken«, schimpfte er. »Klar, die Frauen müssen doch ihre Bedürfnisse erfüllen. Ich weiß ja nicht, wie Sie darüber denken, Dexter, aber mir kommt diese alte Leier schon langsam zu den Ohren heraus: Ihre Bedürfnisse, ihre Rechte. Und was ist mit ihren Pflichten? Was ist mit dem armen Idioten von Ehemann, der jeden Morgen aufsteht, in die Arbeit geht, sich den Arsch aufreißt und dann am Abend nach Hause kommt, nur um sich ihr ewiges Gejammer und Geschimpfe anzuhören? Wann kommen diese Weiber endlich wieder zu Sinnen und kapieren, daß wir Männer uns nicht endlos herumschubsen und herumdirigieren lassen? Irgendwann ist Schluß!«
Während Dexter brav die korrekte Antwort gab, daß das noch lange keine Entschuldigung für Gewalt sei, schaltete Angela das Radio aus und drückte auf den Aus-Knopf ihres Kassettenrecorders. Offensichtlich hatte man Dexter vergeben, dafür hatte Angela nun den Schwarzen Peter, und der kleine Junge, der in dem ganzen Durcheinander schwere Verbrennungen erlitten hatte, war nicht einmal erwähnt worden.
Während der Pause im Lehrerzimmer am nächsten Tag sah Angela ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Sie war nicht die einzige gewesen, die sich die Sendung angehört hatte. Als sie gerade mit Lynn Geary, Sandra Michaels und Hillary am Tisch saß, kam Faye Shepherd, die Sozialkunde unterrichtete, angerannt und zog sich einen leeren Stuhl heran. »Du meine Güte, ich konnte erst gar nicht glauben, daß du das bist!« platzte sie atemlos heraus, als wären sie und Angela plötzlich die besten Freundinnen, obwohl Angela mit der lauten, lärmenden Rothaarigen mit der üppigen Oberweite bisher nur wenige Worte gewechselt hatte. Doch ihr lautstarker Auftritt erregte natürlich die allgemeine Aufmerksamkeit und unterbrach sogar das Gespräch, das sie an ihrem Tisch gerade führten.
Selbst Angela war sich nicht sicher, was ihre Kollegin nun genau damit meinte, und man mußte es ihrem Gesicht auch angesehen haben, denn Faye fuhr fort: »Du ... Dexter King, die ganze traurige Geschichte. Ich habe gestern abend Radio gehört. Natürlich ist die ganze Woche über schon die Werbetrommel für die Sendung gerührt worden. Aber auch wenn ihr denselben Nachnamen habt, habe ich euch zwei zunächst nicht in Verbindung gebracht – das heißt, erst später, als ich mich mit Roger Price, einem Freund von mir, darüber unterhalten habe. Vielleicht kennst du ihn ja, er arbeitet in der Bibliothek am Boston College.«
Nein, sie konnte sich nicht an ihn erinnern, aber offenbar kannte er sie.
Angela blickte nun in lauter neugierige Gesichter. Sie wollte aber keine Erklärung abgeben, sie wollte einfach aufstehen und hinausgehen. Aber sie tat es nicht, sondern blieb wie versteinert sitzen, während Faye für sie das Erklären übernahm. »Dexter King, ihr wißt schon, der Typ von diesem Talk-Sender, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt. Sagt bloß, ihr habt noch nie von ihm gehört?«
Angela spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, als die schmale, dunkelhäutige Sandra Michaels zögernd zugab, daß sie ihn kannte. Offensichtlich war ihr bei dem Gedanken, worauf sie sich da einließ, nicht wohl zumute.
»Und ihr?« fragte Faye und blickte erwartungsvoll in die überraschten Mienen der anderen ... als hätten sie plötzlich alle die Masern bekommen. »Er ist groß, dunkel, sieht umwerfend aus, er ist brillant ... und meinen zuverlässigen Quellen zufolge hat er einen göttlichen Hintern. Aber wer könnte das wohl besser wissen als Angela?«
Alle Augen wanderten wieder zu ihr zurück, und ihr wurde mit einemmal richtig flau im Magen. »Bist du eigentlich immer so unglaublich unsensibel?«
»Ach, komm, jetzt sei doch nicht so. Der Mann, mit dem du mal verheiratet warst, der Mann, der gestern abend in aller Öffentlichkeit einen Kniefall vor dir gemacht hast, ist eine Berühmtheit. Da möchte man doch meinen, daß du zufrieden bist und dich geehrt fühlst. Weißt du, Angela, die Welt, in der wir leben, ist nicht deine Privatsache. Es werden berühmtere Leute als du regelmäßig geoutet.«
»Da hast du wahrscheinlich recht. Aber die Zeit damals war sehr schmerzlich für mich, und ich werde nur ungern daran erinnert.«
»Das verstehe ich doch, aber im Ernst, meinst du nicht, daß es Zeit ist, das hinter dir zu lassen? Na und, du bist also geschieden – du und fünf Millionen andere Frauen auch.«
»Da steckte mehr dahinter. Wenn du gestern abend zugehört hast, dann dürfte dir das nicht entgangen sein.«
Faye seufzte. »Na gut, dann steckte mehr dahinter. Ich habe bisher noch nie von einer Scheidung gehört, die ohne irgendwelche Gruselgeschichten abgegangen wäre. Ich bin überzeugt, daß eure Trennung kein Spaziergang war, das ist so etwas nie. Aber die Sache mit eurem Kind ist doch ganz sicher nicht mit Absicht passiert.«
»So, tatsächlich? Und woher willst du das wissen?«
»Ich und der Rest der Welt, wir haben doch alle gehört, wie der Mensch sein Innerstes nach außen gestülpt hat, und für mich klang das sehr überzeugend. Man hätte doch wirklich aus Stahl sein müssen, um nicht zu kapieren, was der alles durchgemacht hat. Und bei allem nötigen Respekt vor dem, was er dir angetan hat...« Sie hielt inne, seufzte. »Also, er ist ins Gefängnis dafür und hat eine viel härtere Strafe abgesessen, als. ich sie ihm gegeben hätte, hätte ich mit auf der Geschworenenbank gesessen. Sag doch mal, Angela, was muß man dort, wo du herkommst, eigentlich alles tun, damit einem gnädig verziehen wird?«
»Wieso hältst du jetzt nicht einfach deinen Mund, Faye«, sagte Hillary sehr laut. Sie sah Angelas Gesicht deutlich an, wie wütend sie war und wie diese Wut sie daran hinderte, eine entsprechende Antwort zu geben ...
Aber Faye war nicht zu bremsen. »Himmel, Angela, du bist doch schon ein großes Mädchen, warum benimmst du dich nicht auch so? Das alles ist doch jetzt schon fünf Jahre her ... ihr wart Mann und Frau damals. Er hat also gegen deinen Widerstand ein Nümmerchen mit dir geschoben, das ist ja nicht so, als ob irgendein Fremder dahergekommen wäre und dir was angetan hätte. Meinst du nicht, daß du dich etwas hysterisch aufführst?«
Hysterisch war vermutlich das richtige Wort, denn ohne zu wissen, was sie als nächstes tun würde, gerade so, als wären ihre Hände und ihr Verstand getrennt und durch nichts verbunden, holte Angela aus und schlug der jungen Frau mitten ins Gesicht. Faye riß vor Schreck ihre Schlafzimmeraugen weit auf, während ihre Hand zu dem roten Fleck hochschnellte, der sich bereits auf ihrer Wange bildete, und die anderen Mitglieder des Lehrkörpers im Raum sich alle zu Angela umdrehten und sie entsetzt anstarrten.