Читать книгу Nur der Tod soll uns scheiden - Gloria Murphy - Страница 6
KAPITEL DREI
ОглавлениеIhr ursprünglicher Plan war, Sam von der Schule abzuholen, nach Hause zu fahren und es ihm dort zu sagen. Doch als sie ihn am späten Nachmittag abholte und auf der Heimfahrt an dem Eingang zum Park vorbeifuhr, kam ihr eine andere Idee.
»Wie war’s mit einem Eis?«
Er klatschte begeistert in die Hände. »Oh, toll. Darf ich auch auf dem Spielplatz mit dem Karussell fahren?«
Ihr war am Tag zuvor aufgefallen, daß der Spielplatz immer noch in Betrieb war, und Sam hatte es offensichtlich auch bemerkt. Als sie dort ankamen, waren außer ihnen nur acht weitere Eltern mit Kindern auf dem Gelände, so daß sie Gelegenheit hatte, ungestört mit ihm zu reden.
Sie hatte sich keine besondere Vorgehensweise zurechtgelegt, sondern wollte einfach den richtigen Moment abwarten; aber als er dann doch nicht so schnell kam, sprang sie einfach ins kalte Wasser und brachte von sich aus die Sprache auf das Thema. Sie fuhren gerade auf einem kleinen Karussell, auf dem man entweder auf dem Rand sitzen oder stehen konnte und es durch Fußtritte in Bewegung setzte. Angela überredete Sam, eine kleine Pause einzulegen und sich neben sie auf die Bank zu setzen, während sich das Karussell langsam zu Ende drehte. »Schätzchen, du kannst dich doch an den Mann von gestern erinnern«, fing sie an.
Er drehte sich zu ihr um und blickte sie mit hellwachen Augen plötzlich sehr aufmerksam an; er wußte genau, von wem sie sprach, fast so, als hätte auch er die ganze Zeit über nur darauf gewartet, daß sie endlich auf das Thema käme. »Du meinst den, der an unserer Haustür war.«
Sie nickte. »Genau den meine ich. Nun, als er wieder gegangen war, da habe ich dir doch gesagt, daß ich ihn einmal kannte ... und das stimmte auch, ich kannte ihn. Was ich dir allerdings nicht gesagt habe, war, daß du ihn auch einmal gekannt hast.« Ein merkwürdiger Ausdruck trat auf sein Gesicht, als hätte er schwer an ihren Worten zu kauen. Doch noch ehe sie in ihrer Erzählung fortfahren konnte, meinte er: »Er ist mein Daddy, stimmt’s?«
Sie kam sich vor wie ein Ballon, den man mit einer Nadel angepiekst und aus dem man alle Luft gelassen hatte ... Aber eigentlich hätte sie Sams Reaktion nicht verwundern dürfen. Sie schluckte und nickte. »Ja, Sam, das ist er.« Erwartungsvoll blickte er hoch zu ihr, als hätte er einen Preis gewonnen und wartete nun darauf, daß sie ihm sagte, was er damit anstellen solle. Oder als wartete er auf weitere positive Reaktionen von ihrer Seite, die sie ihm aber unter den gegebenen Umständen leider nicht bieten konnte. »Woher wußtest du das?«
»Grandma hat mir mal gesagt, daß ich bestimmt einmal ganz groß und stark werden würde, weil nämlich mein Daddy und mein Grandpa groß und stark waren. Sie hat auch gesagt, daß ich manchmal schaue wie er, so daß ich ihm sicher ähnlich sehe. Also habe ich versucht, mir vorzustellen, wie er aussieht, falls ich ihm einmal zufällig auf der Straße oder so begegne, damit ich weiß, wer er ist.«
»Das klingt ja so, als hättest du dir jede Menge Gedanken über ihn gemacht.« Als er nickte, fuhr sie fort: »Da frage ich mich dann aber doch, wieso du mit mir nie darüber gesprochen hast.« Er zuckte die Achseln; wie zwei ungleiche Korkenzieher wanderten seine Schultern unter seiner blauen Sweatshirtjacke auf und ab. »Doch nur, weil du nie gern über ihn geredet hast.«
Das hatte sie natürlich nie gesagt, aber offensichtlich hatte er diesen Schluß aus dem wenigen gezogen, das sie überhaupt geäußert hatte, vielleicht aus ihrer Körpersprache ... Wieso besaß ein so kleiner Junge bereits einen so großen Durchblick? fragte sie sich. Und wo hatte sie die ganze Zeit über nur ihren Kopf gehabt, als sie sich einredete, ihm würde sein Vater überhaupt nicht fehlen? »Tja, ich glaube, da hast du recht«, erwiderte sie schließlich. »Habe ich auch nicht. Aber jetzt halte ich es für wichtig, daß wir über ihn reden. Weißt du, jetzt ist er ja wieder da und möchte dich natürlich auch sehen.« Okay, jetzt kam der schwierige Teil, und so holte sie tief Luft, um sich Mut zu machen. »Sam, ich habe ihm erklärt, daß er dich nicht sehen kann.«
Sein erwartungsvoller Blick verwandelte sich in Bestürzung. »Aber wieso ... wenn er doch mein Daddy ist?«
»Sam, ich habe diese Entscheidung nicht allein getroffen. Als dein Vater und ich uns scheiden ließen, ordnete der Richter an, daß er dich nicht sehen dürfe. Und er hatte seine Gründe dafür ...«
»Bin ich auch von ihm geschieden worden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so funktioniert das nicht.«
»Also, warum dann?«
»Sam, er hat schlimme Dinge getan, Dinge, für die er bestraft wurde und über die ich jetzt lieber nicht reden möchte. Eines Tages vielleicht, wenn du etwas älter bist...«
Aber er ließ sie ihren Satz nicht zu Ende reden. »Nein, nicht wenn ich älter bin. Sag es mir jetzt!«
Angela saß in der Falle. Die Wahrheit war ihr einziger Ausweg. Und so streckte sie die Hand nach Sam aus, hob den Saum seines Hemdes ein paar Zentimeter an und fuhr mit den Fingern über die Narben auf seinem Bauch, die zwar mittlerweile stark verblaßt, aber immer noch gut sichtbar waren. »Schatz, kannst du dich noch an die Zeit im Krankenhaus erinnern, als du noch kleiner warst?«
Er nickte, ohne zu zögern, womit er sie erneut überraschte; noch etwas, worüber sie nie gesprochen hatten ... über jene schlimmen Augenblicke der Vergangenheit, die sie lieber ruhen ließ. »Ich kann mich noch an die Erdnußbutterkugeln erinnern«, sagte er.
Eine entsetzlich klebrige Angelegenheit aus Honig, zerstoßenen Kräckern, Rosinen und Erdnußbutter, gewälzt in Kokosnußflocken – aber er hatte sie geliebt. Es erstaunte Angela doch sehr, daß ihm trotz der Schmerzen, der Angst und des Heimwehs, die in der Erinnerung mit seinem langen Aufenthalt im Brandverletztenzentrum verbunden waren, ausgerechnet diese Kugeln als erstes in den Kopf kamen. »Ja, das war so ungefähr das einzige, das wir dir damals zu essen geben konnten. Deswegen bin ich auch jeden Abend nach der Besuchszeit gleich nach Hause, habe für mein Studium gelernt und nebenbei noch eine neue Ladung von diesen Kugeln produziert, damit ich sie dir am nächsten Tag wieder mitbringen konnte.« Als er nichts darauf erwiderte, fuhr sie fort. »Sam, du hattest sehr schlimme Verbrennungen, und dein Vater war verantwortlich dafür.«
Seine Augen blickten sie herausfordernd an. »Wieso?«
Gab es irgendeinen geschickteren Weg, es ihm zu sagen, den sie im Augenblick nur nicht sah? Wenn ja, dann fiel er ihr jedenfalls nicht ein, und so fuhr sie fort. »Er hat dich auf dem Arm gehalten und dabei eine Fackel angezündet«, sagte sie. »Ich bin aufgesprungen und habe versucht, dich von ihm und von der Flamme wegzureißen, und dabei ist er gestolpert, die Fackel hat erst deine Kleidungsstücke und dann dich in Brand gesetzt.«
»Aber dann war das doch ein Unfall.«
»Nein, es war kein Unfall. Das ist schon mit Absicht passiert, das mußt du mir einfach glauben. Er hat an dem Abend auch mir weh getan, Sam, und mir zwei Rippen gebrochen. Deswegen wurde dein Vater auch ins Gefängnis geschickt. Und dort ist er bis jetzt gewesen.«
Sollte sie noch hinzufügen, daß er seinem Vater vom Augenblick seiner Geburt an eigentlich immer reichlich egal gewesen war? Ganz im Gegensatz zu dem Theater, das dieser in Gegenwart anderer oder auch ihr gegenüber immer veranstaltet hatte... Nein, diese Episode ihres Lebens hatte sie hinter sich. Es folgte eine lange Pause, in der sie schwieg und er nur auf den Boden starrte, bis er schließlich wieder zu ihr hochsah.
»Wenn er vielleicht sagen würde, daß es ihm leid tut...«
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber wieso? Man soll doch den anderen verzeihen, das hast du selbst gesagt. So wie bei mir, wenn ich etwas anstelle und hinterher sage, daß es mir leid tut...«
»Das ist etwas anderes.«
»Aber warum?«
»Sam, ich sagte nein!«
Sie hatte nicht die Absicht gehabt, laut zu werden, aber es war nun mal passiert. Das Ergebnis war, daß Sam in Richtung ihres Wagens davonstürmte. Angela sprang von dem Karussell herunter, stopfte die Hände in die Taschen ihres Blazers und ging ihm mit gesenktem Kopf zu ihrem Auto hinterher. Im Gehen stellte sie sich immer wieder dieselben Fragen. Hätte sie Sam nicht Bilder von seinem Vater zeigen sollen, als er noch kleiner war, ihm vielleicht mehr von ihm erzählen sollen, vielleicht sogar seine Briefe öffnen ... Sie seufzte und schaute zu ihrem Wagen hinüber: Sam hockte wütend auf dem Rücksitz. Aber warum eigentlich? Hätte es ihnen diesen Moment in irgendeiner Weise erleichtert?
Schweigend fuhren sie nach Hause. Beim Essen sprachen sie nur das Notwendigste miteinander; Angela versuchte zwar, ihrem Sohn noch einmal ihre Haltung seinem Vater gegenüber zu erklären, aber er ignorierte sie. Sie tat alles, um Sam zum Lachen zu bringen, aber als auch das nicht funktionierte, schickte sie ein paar letzte Friedensangebote hinterher und bot ihm, sozusagen als Krönung, sogar eine Runde Monopoly an, das er sonst liebend gern mit ihr spielte ... Aber er ließ sich seinen Ärger nicht nehmen und schlug alle ihre Angebote aus.
Es war gegen acht Uhr, als sie gerade in den Keller hinuntergegangen war, um die Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner umzufüllen, da kam Sam die Hintertreppe heruntergelaufen, blieb oben am Treppenabsatz stehen und rief zu ihr hinunter: »Mommy, er ist am Telefon.«
Zum Teufel mit ihm. Hatte er nicht schon genügend Schaden für einen Tag angerichtet? Sie ließ den Rest der Wäsche in der Trommel liegen und rannte nach oben zu Sam. Sie nahm ihm den Hörer aus der Hand, ging damit ins Badezimmer und schloß die Tür hinter sich. »Angela, bist du das?« hörte sie Dexter fragen, als sie sich nicht sofort meldete.
»Ja. Was willst du?«
»Ich wollte mich nur vergewissern, daß du in Ordnung bist. Ich weiß, es muß ein Schlag für dich gewesen sein, als du mich gestern gesehen hast.«
»Meine Geistesverfassung sollte nicht dein Problem sein. Wieso hast du mit Sams Direktor gesprochen?«
»Weil Sam mein Sohn ist und ich nun mal von Natur aus neugierig bin. Das kann mir kein Gericht der Welt verbieten.«
»Bitte, Dexter, ich habe dich noch nie um etwas gebeten. Jetzt flehe ich dich an, halte dich raus aus unserem Leben.«
»Will Sam das auch?« Und als sie nicht umgehend eine Antwort gab, seufzte er, als wäre ihm in dem Moment etwas klargeworden. »Okay, sag es mir nicht, laß mich raten. Du hast ihm gesagt, wer ich bin – das heißt, falls er nicht von sich aus darauf gekommen ist, nachdem er zwei und zwei zusammengezählt hat. Nach den vielen Lügen und albernen Ausflüchten hast du mich als Vater also tatsächlich wieder aus der Versenkung geholt und mir ein Gesicht gegeben. Ich danke dir, Angela. Siehst du, so schlimm war das doch gar nicht mit der Wahrheit, oder?«
Doch, das war es schon, aber das wollte einfach nicht in seinen Schädel. Angela gab Dexter deutlich zu verstehen, daß sie keinen Kontakt zu ihm wünsche und daß er in ihrem oder Sams Leben nichts zu suchen habe, sonst würde sie sich nach dem Namen seines Bewährungshelfers erkundigen und ihn melden. Dann unterbrach sie die Verbindung und das Gespräch, verließ das Bad und hängte den Hörer ein. Anschließend ging sie zu Sams Zimmer am Ende des Ganges. Er stand unter der Tür, mit Ollie auf dem Arm, und sah sie erwartungsvoll an.
»Es war nichts«, erklärte sie. Sie wußte genau, wie dumm sich diese Bemerkung anhören mußte. »Willst du morgen mit zum Apfelpflücken kommen? Wir könnten zu Deerings –«
Weiter kam sie nicht, denn mit einem kräftigen Tritt seines Turnschuhs wurde die Tür zu seinem Zimmer zugeworfen ...
An diesem Abend erhielt Angela noch zwei weitere Anrufe, einen von ihrer Mutter, die sie für Sonntag abend zum Essen einlud, danach einen von Victor, der erfahren hatte, daß sie sich nicht wohl gefühlt habe und deswegen eher nach Hause gefahren sei. Sie erzählte ihm kurz von den Ereignissen des Tages und schloß ihren Bericht mit ihrer Empörung über Sams Schuldirektor.
»Aber Angela, du bist doch nun wirklich nicht der Typ, der sich aus der Meinung anderer was macht. Wichtig ist doch einzig und allein, daß Healy kapiert hat, daß es einen Gerichtsbeschluß gibt. Ob er deinen Ex nun sympathisch findet oder nicht, so dumm wird er auch wieder nicht sein, sich nicht daran zu halten.«
»Manchmal ist es eben schwer, so zu tun, als ob nichts wäre«, warf Angela ein. »Wenn du dann noch unter die Nase gerieben bekommst, wie großartig dein Feind ist, kann einem das schon zusetzen. Man fragt sich schließlich, ob vielleicht doch etwas nicht stimmt mit einem. Ich will meinen Ärger zwar nicht an dir auslassen, aber bisher ist mir noch nicht aufgefallen, daß du hergegangen wärst und laut der ganzen Welt verkündet hättest, daß du schwul bist. Das könnte man doch in etwa vergleichen, oder nicht?«
»Kann schon sein. Aber ich bilde mir ein, daß meine Zurückhaltung in dem Punkt eher etwas damit zu tun hat, daß ich ganz gerne meinen Job behalten würde, und weniger mit meiner Angst vor Vorwürfen und Verurteilungen. Als Sportlehrer für die unteren Jahrgänge bin ich angreifbarer als andere. Ich sehe es schon direkt vor mir, wie ein Elternpaar ins Büro der Schule läuft und empört andeutet, ich könnte ihrem kleinen Johnny einen Klaps auf den Hintern gegeben haben, als er vom Spielfeld auf die Bank zurückgekehrt ist. Es muß mich doch anmachen, wenn ich ständig haufenweise nackte kleine Körper im Umkleideraum vor mir sehe, oder?«
»Keine Ahnung. Mir scheint aber, daß diese irrationalen Ängste heutzutage nicht mehr so stark vorhanden sind. Die Leute sind viel mehr an alternative Lebensstile gewöhnt als früher.«
»Ich neige aber immer noch zu der Annahme, daß den meisten ein schwuler Kinderschänder lieber ist als ein sogenannter normaler. Lieber jemand, der sich zuvor schon als abartig erwiesen hat. Wenn sie die Wahl zwischen Dexter und mir hätten, würden sie wahrscheinlich immer noch mich am nächsten Baum aufhängen, und das trotz seines Vorstrafenregisters.« Victor verstummte einen Moment, ehe er mit weniger Überzeugung in der Stimme als zuvor fortfuhr: »Wer weiß, Angela, vielleicht rede ich auch nur einen Haufen Unsinn. Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema gekommen? Eigentlich wollte ich deine Sorgen zerstreuen ... und nicht mir welche machen.«
»Tut mir leid«, entgegnete sie, schließlich hatte sie den Vergleich gezogen.
»Wie wäre es, wenn wir uns morgen treffen und zusammen etwas unternehmen – vielleicht könnte ich Sam abholen.«
»Bist du nicht am Samstag vormittag immer im Fitneßclub und besuchst hinterher deinen Vater?« Victors Vater, ein pensionierter Colonel der Armee, lebte in einer Seniorensiedlung, die ungefähr dreißig Minuten Fahrzeit entfernt lag, und besuchte oft sportliche Wettkämpfe der Schule.
»Ich lass’ eben mal mein Training ausfallen und besuche meinen Vater vorher. Wollen wir reiten gehen?«
»Du meinst auf einem Pferd?« Sie hatte seit ihrer Ehe mit Dexter nicht mehr auf einem Pferd gesessen, Sam überhaupt noch nie, aber die Vorstellung klang verlockend.
Angela erzählte Sam keine Einzelheiten, nur daß sie einen Ausflug machen würden; er benahm sich ihr gegenüber zwar wieder etwas zivilisierter, war aber immer noch viel ruhiger als üblich. Als Victor kurz vor Mittag am nächsten Tag bei ihnen erschien, hatte er eine große Kühltasche im Laderaum seines Vans. Sie fuhren Richtung Maine. Bei einem Schild, auf dem »Mascots Reitstall« stand, bog Victor ab, deutete auf die Pferde und sagte: »Na, Sam, was hältst du davon?«
Ja, der Ausflug war eine gute Idee; die ganze Verstimmung und der Ärger wegen Dexter konnten zeitweilig vergessen werden, während sie durch die Wälder von Maine ritten und die frische Luft und die strahlenden Farben genossen. Wohlig erschöpft und mittlerweile auch ziemlich hungrig gingen sie später wieder zu ihrem Wagen, hielten an einem Picknickplatz und ließen sich Victors selbstgemachte Spezialitäten schmecken.
»Können wir öfter zum Reiten hierherkommen?« wollte Sam wissen, während er sich aus dem Korb ein gebratenes Hühnerbein angelte.
Angela nickte und nahm sich zum drittenmal von dem Kartoffelsalat. »Der ist ja köstlich«, bemerkte sie zu Victor und schob die Schüssel weit von sich. »Nimm ihn weg, bevor ich ihn ganz verdrücke.«
»Es ist nichts Schlimmes daran, wenn man einen gesunden Appetit hat«, meinte er.
»Aber meiner ist zu gesund«, erwiderte sie in der Erinnerung daran, daß sie während ihrer Schwangerschaft mit Sam wie ein Hefeteig aufgegangen war, woraufhin Dexter äußerst beleidigend und zurückweisend auf sie reagiert hatte. Schließlich wandte sie sich an Sam, der seine Frage mittlerweile wiederholt hatte. »Ich bin sicher, daß wir auch bei uns in der Nähe einen Reitstall finden werden.« Doch Reiten war ein teures Hobby, man mußte die Stunden zahlen und benötigte jede Menge Ausrüstung. Hoffentlich würde er sich nicht zu einem passionierten Reiter entwickeln.
Victor setzte sie gegen fünf Uhr, als es gerade dunkel zu werden begann, auf dem Gehweg ab. Sie bat ihn noch ins Haus, aber er entschuldigte sich, da er offensichtlich andere Pläne hatte. Er hatte sich ihr nur dieses eine Mal anvertraut, als er zuviel getrunken hatte und ihr in diesem Zustand unerwartet über den Weg gelaufen war: Victor, der beim Tod seiner Mutter kaum zwölf Jahre alt gewesen war, war von seinem Vater, dem Colonel, großgezogen worden, einem Südstaaten-Gentleman mit unerbittlicher Disziplin und festen Ansichten; Victor betete ihn an. Soweit er sich erinnern konnte, wünschte er sich nichts anderes, als es ihm recht zu machen.
Victor hatte sich bereits früh zu seinen männlichen Freunden hingezogen gefühlt, hatte sich aber beharrlich geweigert, seine Neigung anzuerkennen, in der festen Annahme, diese würde mit der Zeit schon wieder verschwinden, wenn er es nur wollte; frei nach dem Sprichwort, das sein Vater sich auf die Fahne geschrieben hatte: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Da er sehr sportlich war und die Jahre an der Junior und an der Senior High School auf drei verschiedenen Armeestützpunkten verbracht hatte, vermuteten nicht einmal die Mädchen, mit denen er sich seines Vaters wegen gelegentlich verabredete, die Wahrheit. Erst während seines ersten Jahrs am College wagte er, sich seine Homosexualität einzugestehen und eine erste Beziehung zu seinem Geschichtsprofessor einzugehen.
In den folgenden drei Jahren verbrachten er und der Professor viel Zeit miteinander und erlebten eine Liebe und Zuneigung zueinander, die Victor nie für möglich gehalten hätte. Die Beziehung dauerte bis zu Victors letztem Jahr am College an, als sein Liebhaber bei einem Motorradunfall ums Leben kam, was eine Lücke in seinem Leben hinterließ, die er noch immer nicht geschlossen hatte. Daran mußte Angela nun denken, als sie die Post aus dem Briefkasten holte und über den gepflasterten Weg auf das Haus zuging. Sam, der von der Treppe ein Päckchen aufgehoben hatte, rief ihr zu: »Schau mal, Mommy, das ist für mich!«
Vielleicht von einer von Angelas Tanten, den Schwestern ihrer Mutter, von denen die eine in Pennsylvania und die andere im Staat New York lebte. Sie sahen sie zwar nicht oft, schickten aber regelmäßig Geschenke für Sam. Angela holte den Schlüssel aus ihrer Umhängetasche, schloß die Haustüre auf und sah sich das Päckchen in Sams Hand näher an. Es war an ihn adressiert, trug aber keinen Absender oder Poststempel. Vielleicht hatte es ein Bote gebracht, überlegte sie, aber das war nicht logisch. Hätte es ein Bote gebracht, hätte doch jemand unterschreiben müssen, oder?
Nein, es war von Dexter ... Wieso war sie nicht gleich auf die Idee gekommen? Ohne lange zu überlegen, riß sie Sam das Päckchen aus der Hand. »Da hat sich jemand getäuscht«, sagte sie rasch.
Doch offensichtlich sah er ihr an, daß sie dachte, es sei von Dexter, denn so schnell konnte sie gar nicht schauen, da riß er es ihr aus der Hand und rannte damit die Treppe hinauf. In seinem Zimmer holte sie ihn endlich ein; sie war wütend und kam außerdem zu spät. Sam hatte das Päckchen bereits geöffnet und hob gerade ein Paar schwarze, lederne Reitstiefel mit Sporen heraus. Auf einem daran befestigten Kärtchen stand: Alles Liebe, Daddy.
Sam war erstaunt und entzückt und wiederholte ein ums andere Mal, wie klug sein Vater doch sein mußte. »Woher hat er das gewußt?« fragte er. Plötzlich erschien Dexter viel größer und stattlicher und klüger, schien geradezu ein Magier zu sein – zumindest in den Augen seines Sohnes. Die logische Erklärung war jedoch nur halb so großartig: Dexter mußte ihnen nachgefahren sein, und der bloße Gedanke daran verursachte Angela bereits ein ungutes Gefühl. Sie überlegte, wo sie an diesem Tag überall angehalten hatten: beim Reitstall, auf dem Picknickplatz neben der Straße ... zweimal an einer Tankstelle. War er ihnen die ganze Zeit über gefolgt und hatte sie beobachtet? Hatte er bereits irgendwo versteckt gewartet, als Victor sie an diesem Vormittag abgeholt hatte?
Die Nacht schien nicht enden zu wollen: Angela stand bestimmt ein halbes dutzendmal auf, um die Türen zu überprüfen, aus dem Fenster auf die Straße hinaus und in den Garten hinunter zu schauen ... Nicht zuletzt auch, um bei Sam im Zimmer nachzusehen, der seine neuen Stiefel samt Sporen dicht neben sein Bett gestellt hatte. Schließlich schlich sie in die Küche, um sich ein Bonbon zu holen, aber sie konnte die Tüte nirgends finden. Frustriert und verärgert ließ sie die Tür vom Hängeschrank zuschnappen ...
Am Abend zuvor hatte ihre Mutter angerufen und sie für den Sonntag zum Essen eingeladen. Als Angela nun nach Framingham fuhr, war sie auf der Hut, da ihr Dexters Verfolgung vom Samstag nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Sie kannte leider weder die Farbe noch die Marke von Dexters Wagen, was die Sache erschwerte, aber soweit sie es überblicken konnte, hielt sich auf der ganzen Fahrt über kein Auto permanent hinter ihnen. Trotzdem verlor sich ihre Anspannung auch später nicht, und während des Essens war sie ungewöhnlich ruhig. Zum Glück war die Aufmerksamkeit ihrer Eltern ganz auf den Enkelsohn gerichtet und nicht auf sie. Sam, der immer noch wütend auf sie war, zog es ohnehin vor, sich mit den beiden allein zu unterhalten.
Sie saß also still am Tisch, beobachtete die drei... und hörte ihnen zu. Daddy mit seiner mittlerweile schlohweißen Löwenmähne war immer schon Angelas sanfter Riese gewesen. Selbst wenn er sich lieber einen Jungen gewünscht hätte, hatte er es sie nie spüren lassen und sie immer zu allen Football- und anderen Ballspielen mitgenommen. Er hatte Angela ermutigt, sich sportlich zu betätigen, und hatte ihr alles über Autos beigebracht. Daddy war groß und muskulös und strotzte vor Kraft, zumindest bis zu seinem Herzanfall vor wenigen Jahren, der ihn in den Ruhestand gezwungen und ihr und ihrer Mutter verständlicherweise einen großen Schrecken eingejagt hatte. Sie wurden dadurch schmerzhaft an seinen Bruder erinnert, der mit Mitte Vierzig an einem Herzanfall gestorben war.
Im Gegensatz zu Angelas Mutter, die auf dem College gewesen war, hatte ihr Daddy seine Lektion fürs Leben auf den Straßen von South Boston gelernt. Als Angela noch klein war, hatte es kaum Streit zwischen den beiden gegeben, was in erster Linie an der Geduld ihres Vaters und seiner Fähigkeit lag, alles mit einem Schulterzucken abzutun, was nicht wichtig war. Ihre Mutter war klein und pummelig und mit einer erstaunlich faltenfreien Haut für ihre zweiundsechzig Jahre gesegnet; übersprudelnd und temperamentvoll, mußte sie immer etwas zu tun haben, und ihr Mann, der seine Frau anbetete, ließ sich von ihr widerspruchslos in ihre Aktivitäten einbeziehen, seit er im Ruhestand war ...
Als Sam nun davon erzählte, daß Victor am Tag zuvor mit ihnen nach Maine zum Reiten gefahren war und sie ein Picknick veranstaltet hatten, wandte sich die Aufmerksamkeit ihrer Mutter umgehend Angela zu.
»Klingt so, als hättet ihr einen schönen Tag gehabt«, bemerkte sie. »Er ist aber auch wirklich ein netter junger Mann und sieht so gut aus.« Ihre Eltern hatten Victor einmal bei einem sonntäglichen Barbecue im Sommer in Angelas Haus kennengelernt. Barbaras Bemerkung war zwar eine Feststellung gewesen, aber sie schien auf eine Bestätigung zu warten.
Die Angela ihr auch gab.
»Er mag dich, meine Liebe, das ist doch nicht zu übersehen, und du scheinst ihn auch zu mögen.«
Sie hatte es nicht kommen sehen, aber als sie jetzt bemerkte, worauf die Unterhaltung hinaussteuerte, mußte sie dem Ganzen rasch einen Riegel vorschieben. »Ich mag ihn auch, Mutter, sehr sogar. Aber wir sind Freunde, und mehr ist da nicht.«
»Oma, Opa, ihr werdet nie erraten, was mir in dieser Woche Tolles passiert ist«, mischte Sam sich jetzt wieder ein. »Mein Daddy ist nach Hause gekommen!«
Alle Aufmerksamkeit wandte sich nun Sam zu ... vor allem die von Angela.
Nach dem Essen, nachdem Sam sich endlos lange über die schicken Reitstiefel ausgelassen hatte, die sein Vater ihm geschickt hatte, nahm Angelas Vater den Jungen zum Ballspielen mit in den Garten, was ihrer Mutter endlich Gelegenheit gab, ihren Kommentar zu den Ereignissen abzugeben. »Angela, du mußt endlich lernen, deinen Groll zu überwinden.«
»Das hat nichts mit Groll zu tun. Eher schon mit Realität und gesundem Menschenverstand.«
Barbara ging zum Spülbecken, öffnete die Geschirrspülmaschine und drehte den Wasserhahn auf. »Aber er ist immer noch sein Vater. Meinst du nicht, daß Sam ein Recht darauf hat, ihn zu kennen?«
»Nicht, wenn er ihm gefährlich werden kann.«
Barbara drehte sich zu ihrer Tochter um; ein paar Strähnen ihres graumelierten Haares fielen ihr ins Gesicht, und sie schob sie unwillig mit ihrem nassen Handgelenk zurück. »Das ist doch jetzt schon über fünf Jahre her. Jeder Mensch macht Fehler, manche sogar schreckliche Fehler. Aber Gott sei Dank seid ihr beide wieder in Ordnung, Sam und du. Denkst du auch nur einen Augenblick, ich würde vorschlagen, daß Sam seinen Vater sieht, wenn ich dächte, er könnte ihm erneut weh tun?«
»Nein, natürlich würdest du das nie tun. Aber du kennst ihn nicht so wie ich. Hältst du es zum Beispiel nicht für verdächtig, daß Dexter ganz zufällig Reitstiefel für Sam gekauft hat? Schließlich war es das erste Mal, daß Sam überhaupt auf einem Pferd saß.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß er uns nachgefahren ist.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber was soll es sonst für eine Erklärung geben?«
Barbara schüttelte heftig den Kopf. »Ach, nein, das glaube ich einfach nicht. Wieso sollte ein erwachsener Mann so etwas machen, was hätte er davon?« Die Frage war überflüssig ... eine Antwort ebenfalls. Natürlich wollte er Angela damit nur weiter verunsichern, das wäre ihre Antwort gewesen, aber was er sonst noch alles vorhatte, hätte sie nicht zu sagen gewußt. »Wie kommst du außerdem auf die Idee«, fuhr ihre Mutter fort, »daß er wußte, daß Sam zum ersten Mal beim Reiten war, daß er überhaupt reiten gewesen war?«
»Du meinst also, es war tatsächlich ein Zufall?«
»Na ja, vielleicht ... das ist immerhin möglich, oder? Vergiß nicht, schließlich reitet Dexter auch ... Hat er es dir nicht erst beigebracht?«
»Ja, das hat er ... aber das erklärt noch lange nicht –« Seufzend hielt sie inne; sie wollte sich deswegen nicht herumstreiten, sie konnte kaum glauben, daß sie dieses Gespräch überhaupt führte. »Du weißt, daß ich es nicht mag, wenn du für Dexter Partei ergreifst.«
Barbara drehte den Wasserhahn zu und trocknete sich die Hände mit einem Küchentuch aus Papier ab. Dann ergriff sie Angelas Hand, zog sie zu einem Stuhl am Tisch und setzte sich auf einen zweiten Stuhl neben sie. »Liebes, das ist doch keine Frage von Partei ergreifen oder nicht, bitte, glaube mir. Weißt du, ich bin nicht blind, ich sehe durchaus, wie viele Frauen heutzutage aus reiner Notwendigkeit den ganzen Tag arbeiten müssen und größte Mühe haben, gleichzeitig allein ihre Kinder großzuziehen. Und manche machen das wirklich großartig ... du bist eine dieser Frauen, Angela, durchsetzungsfähig und entschlossen. Ich hätte das nie gekonnt –«
»Selbstverständlich hättest du das gekonnt«, widersprach Angela ihr. Sie ärgerte sich ein wenig, daß ihre Mutter immer wieder versuchte, das, was sie tat, groß herauszustellen, als ob Millionen anderer alleinerziehender Eltern, die ihre Kinder liebten, nicht dasselbe täten. »Man macht eben, was man machen muß, so einfach ist das.«
»Trotzdem sind manche damit nicht sehr erfolgreich. Und ich hätte bestimmt dazugehört. Aber lassen wir das jetzt mal beiseite. Ich glaube nämlich immer noch daran, daß ein Kind in den Genuß seiner Mutter und seines Vaters kommen sollte. Und genau das will Dexter auch, er will seinen Sohn kennenlernen. Er bereut seine Taten wirklich, Angela, er ist ein gebrochener Mann, der sich bemüht, ein neues Leben anzufangen. Er will Arbeit, möchte ein braver, gesetzestreuer Bürger werden. Er hat auch schon wieder Kontakt zu seinem alten Sendeleiter vom Rundfunk aufgenommen.«
Angela, die so langsam begriff, was hinter den Worten ihrer Mutter steckte, stand auf. »Du hast mit Dexter gesprochen, stimmt’s? Ist das vielleicht der Grund, weshalb du uns zum Essen eingeladen hast?«
Barbaras Augen strahlten einen stummen Vorwurf aus. »Seit wann brauche ich einen Grund, um meine Tochter und meinen Enkel zum Essen einzuladen? Dexter ist einfach vorbeigekommen, hat geklopft und anständig guten Tag gesagt. Er hat sich praktisch schluchzend auf unsere Treppe geworfen. Was hätten dein Vater und ich tun sollen, ihn nicht ins Haus lassen?«
Ja, das hätte sie tatsächlich von ihnen erwartet, aber sie würde ihre Zeit jetzt nicht damit verschwenden, ihrer Mutter das lange zu erklären. Sie zerrte den Griff ihrer Umhängetasche von der Lehne des Küchenstuhls, stürmte durch die Tür in den Garten hinaus und rief: »Sam, komm her, auf der Stelle. Zeit, nach Hause zu fahren.«