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KAPITEL 2

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Lauren hatte die ganze Zeit, seit Jonathan weggefahren war, um Emily abzuholen, in der Küche herumgewerkelt. Sie betrachtete sich zwar immer noch als Hobbyköchin, bemühte sich aber sehr, und Jonathan ermutigte und unterstützte sie in ihren Versuchen. Bevor sie bei ihrer Eheschließung ihre Arbeitsstelle in Manhattan aufgegeben hatte, hatten sie und Jonathan lange darüber diskutiert und waren gemeinsam zu dem Schluß gekommen, daß dies ihr letzter Job sein solle, zumindest für eine Weile. Jonathan, der in der Obhut von Kindermädchen und seinen bereits ziemlich alten Eltern groß geworden war, war der Ansicht, daß Kinder – auch wenn sie schon in der Schule waren – eine Vollzeitmutter bräuchten.

Obwohl Lauren sich immer als eine Frau betrachtet hatte, die beruflich Karriere machen wollte, hatte auch sie, wie jede andere berufstätige Frau, unter den unvermeidlichen Schuldgefühlen gelitten, die damit einhergehen, wenn man das eigene Kind der Obhut anderer anvertraut. Jetzt war Chelsea sieben Jahre alt und ging in die zweite Klasse, und Lauren war Hausfrau und Mutter, und wenn ihr mal die Decke auf den Kopf fiel und sie daran zweifelte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, dann genügte ein Blick auf die glücklichen Gesichter von Chelsea und Jonathan, um alle ihre Unsicherheiten zu verjagen.

Lauren schob die Auflaufform mit der selbstgemachten Lasagne in das unterste Fach im Kühlschrank und holte die Teigböden für die Erdbeertörtchen aus ihren Formen, um sie abkühlen zu lassen. Das war zwar Emilys Lieblingsessen, aber die vielen verschiedenen Gerüche und ihre große Nervosität schlugen Lauren allmählich auf den Magen. Sie warf einen Blick auf die Uhr, ließ in der Küche alles liegen und stehen und lief über die hintere Küchentreppe rasch nach oben, um zu duschen und sich umzuziehen. Jonathan hatte von der Klinik aus angerufen, um ihr zu sagen, daß er gegen halb elf mit Emily losfahren würde, was bedeutete, daß sie jeden Moment zu Hause eintreffen konnten.

Als sie das neue Haus gekauft hatten, hatte Jonathan Lauren mit einem eigenen Bad und Ankleidezimmer überrascht. Es gab darin jede Menge Platz für Regale und Schubläden, so daß andere Schränke und Kommoden überflüssig waren. Aber am schönsten war die riesige, in den Boden eingelassene, runde Badewanne, in der Lauren sich dem Luxus duftender und salbender Bäder hingeben konnte, was sie doppelt zu schätzen wußte, da sie in ihrer Stadtwohnung bisher nur eine Duschkabine gehabt hatte. Jetzt wählte sie einen Rock mit einem passenden Oberteil aus, gemustert, wie Jonathan es mochte, und wünschte sich, ihr Magen würde sich endlich wieder beruhigen.

Sie schlüpfte in ihre Unterwäsche und ging zu der eleganten Frisierkommode, über der in voller Breite ein Spiegel mit Goldrahmen hing. Sie zog sich einen Hocker heran und setzte sich, öffnete ihre Schmuckschatulle und kramte lange nach einem Paar silberner Ohrringe in Blattform, bis sie sie endlich gefunden hatte. Dann nahm sie ihre Antibabypillen, drückte die Tablette für Samstag heraus und schluckte sie. Jonathan hätte sich zwar ungeheuer gefreut, wenn sie schwanger geworden wäre, aber was das betraf, hatte sie sich bisher unnachgiebig gezeigt. Kein Baby, zumindest so lange nicht, solange die Familie in ihrer jetzigen Form keine Einheit bildete – also erst, wenn Emily zu Hause wäre, die Mädchen sich aneinander gewöhnt hätten und Emily sich mit ihrer Stiefmutter soweit arrangiert hätte ...

Mit einem Fön bürstete Lauren ihr dickes, honigblondes Haar nach hinten, bis es ihr weit über den Rücken fiel. Seit ihren Tagen an der High-School war es nicht mehr so lang und glänzend gewesen. Mit unsicherer Hand trug sie schließlich ein wenig Lippenstift und Rouge auf. Ganz ruhig, Lauren, ermahnte sie sich. Das ist kein Vorstellungsgespräch, bei dem es um den Job deinen Lebens geht, du sollst nur ein Kind kennenlernen. Ein elf-, bald zwölfjähriges Mädchen dürfte doch keine so einschüchternde Wirkung auf dich haben.

Sie eilte nach unten und mußte kurz grinsen, als sie das Wohnzimmer und die Eingangsdiele sah: Alles war voller Girlanden aus Kreppapier, Luftballons und Pappendeckelschilder, die feinsäuberlich bemalt und beschriftet waren – WILLKOMMEN ZU HAUSE, EMILY. Auf dem Teppich lagen eine Kinderschere, eine Rolle Klebeband, Papierschnipsel und buntes Kreppapier. Lauren hatte Chelsea zwar die nötige Ausrüstung gekauft, aber Idee und Durchführung waren ganz ihr überlassen geblieben.

»O Liebling, das sieht richtig hübsch aus«, sagte sie.

»Meinst du wirklich?« fragte Chelsea, nicht ganz überzeugt. Sie deutete auf das Schild in der Eingangshalle und verzog das Gesicht zu einer Grimasse der Unzufriedenheit. »Das W ist mir nicht so gut gelungen.«

»Ich möchte wetten, daß ihr das gar nicht auffällt. Wer hat dir übrigens gesagt, wie man Emily schreibt?«

»Im Schrank von Emilys Zimmer habe ich eine Blechschachtel gefunden. Zum Glück für mich war das Schloß kaputt. Auf dem Deckel stand innen dick und fett ihr Name.«

»Chelsea!«

»Ich habe doch nur hineingeschaut.«

»Du hattest in ihrem Zimmer nichts zu suchen, und ganz bestimmt steht es dir nicht zu, deine Nase in ihre persönlichen Dinge zu stecken.«

Chelsea verschränkte die Arme vor der Brust, offensichtlich sehr verstimmt über diese ihrer Meinung nach ungerechten Vorwürfe. »Da war doch nichts anderes drin außer einem Klappmesser, altem Kaugummi, Steinen, einem Säckchen mit Murmeln, Modeschmuck und einer Vogelkralle«, listete sie jeden einzelnen Gegenstand auf, als ob sie es auswendig gelernt hätte. Als sie die Vogelkralle erwähnte, zuckte Lauren betroffen zusammen. »Und außerdem habe ich die Schachtel doch nur aufgemacht, weil ich nachsehen wollte, ob ihr Name –«

»Hör auf, laß es gut sein«, unterbrach Lauren sie, und Chelsea verstummte. »Das ist alles nicht wichtig. Wichtig ist nur, daß du in ihrem Zimmer eigentlich nichts zu suchen hattest. Wenn du das nächste Mal den Drang verspürst, dir etwas anzusehen, das dich nichts angeht, dann frag vorher.«

»Wen denn?«

»Denjenigen, dem es gehört, natürlich.«

»Aber sie war doch nicht da.«

»In so einem Fall mußt du deine Neugierde eben zügeln.« Lauren war nicht gewillt, sich von der Logik einer Siebenjährigen bremsen zu lassen.

Chelsea überlegte einen Moment und startete dann ihren letzten Versuch. »Und was ist mit dir? Dich habe ich aber auch in ihrem Zimmer gesehen.«

Bei ihrem Einzug hatte Lauren die Maler beauftragt, in Emilys Zimmer Wände und Holzverkleidungen mit einem neuen Anstrich zu versehen. Die großen Doppelfenster hatte sie mit apfelgrün und weiß gestreiften Schals ausgestattet, die farblich auf den ebenfalls neuen Bettüberwurf abgestimmt waren. Sie hatte noch kurz überlegt, Poster aufzuhängen und anderen Schnickschnack aufzustellen, dann aber beschlossen, die weitere Ausschmückung des Zimmers doch lieber Emily zu überlassen.

Als Lauren erfahren hatte, daß Emily für immer nach Hause zurückkehren sollte, hatten sie und Beatrice, ihre Zugehfrau, die mehrmals in der Woche kam, sich darangemacht, Emilys Möbel aufzupolieren, ihre Schränke und Schubladen auszumisten und alte Kleider wegzuwerfen oder für die Kleidersammlung in Kartons zu verpacken. Nach fast zwei Jahren im Krankenhaus würden Emily bestimmt keine ihrer alten Sachen mehr passen. Da sie ihre Nase jedoch nicht in Dinge stecken wollte, die sie nichts angingen, hatte Lauren mit Absicht die Schreibtischschubladen ausgelassen und außer den Kleidungsstücken, die sie aus dem alten Haus mitgebracht hatten, nichts angerührt.

»Ich habe aber meine Nase nicht in Dinge gesteckt, die mich nichts angehen«, gab sie auf Chelseas Frage zur Antwort. »Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre, mußt du wissen.« Als sie jedoch das betroffene Gesicht ihrer Tochter sah, fügte sie mit versöhnlicherer Stimme hinzu: »Sogar eine große Schwester.«

»Wird sie wirklich meine Schwester sein?«

»Das ist sie bereits.«

»Was ist jetzt mit meiner Adoption?«

Lauren lächelte. Chelsea wurde nie müde, ihr diese Frage zu stellen oder sich die Antwort darauf anzuhören, auch wenn sie ganz genau wußte, daß sich die gesetzliche Prozedur bereits über Gebühr in die Länge zog. Jonathan hatte Chelsea von Anfang an adoptieren wollen, und bis zum vergangenen Monat hatten sie sich deswegen auch bemüht, Mark Brewer ausfindig zu machen, um ihn dazu zu bewegen, auf alle Rechte an seiner Tochter zu verzichten, die er seit ihrer Geburt ohnehin nicht mehr gesehen hatte.

Lauren wünschte sich, sie hätte ihn nie auf der Geburtsurkunde als Vater eintragen lassen, aber so war das nun mal, und es hatte wenig Sinn, sich zu wünschen, es wäre nie geschehen. Jonathan hatte schließlich beim zuständigen Gericht in New York den Antrag gestellt, Chelsea mit der Begründung adoptieren zu dürfen, daß ihr leiblicher Vater sie im Stich gelassen habe. Wenn alles nach Plan lief, wäre dieser Antrag gegen Ende des Sommers dann rechtskräftig. »Es dauert nur noch ein paar Monate«, versicherte sie Chelsea deshalb.

Sie nickte. »Ob Emily mich wohl mag, was meinst du?«

Lauren bückte sich und nahm ihre Tochter in die Arme, küßte sie auf den Hals und kitzelte sie. »Wieso sollte sie ein so lustiges kleines Clownsgesicht wie das deine nicht mögen?« Chelsea brach in prustendes Gelächter aus, und schließlich ließ Lauren sie wieder los, stellte sie auf die Beine und deutete auf den unordentlichen Haufen, der auf dem Teppich lag. »Geh und räume deine Sachen auf. Und beeil dich.«

Chelsea ließ sich auf die Knie fallen und sammelte rasch die Schnipsel ein. »Wenn Daddy heimkommt, dann bekommt er einen ganz lieben, dicken Kuß von mir.«

»So? Wie kommt es, daß er heute so hoch in deiner Gunst steht?«

»Weil ich mir immer eine große Schwester gewünscht habe und er mir heute eine mitbringt.«

Mit beiden Händen voller Sachen rannte Chelsea aus dem Zimmer, wobei ihr rosa Baumwollkleidchen neckisch ihre Beine umschwang. Lauren fiel ein, daß die Post bestimmt schon gekommen war, und schlüpfte in ihren Anorak; Jonathan hatte es gerne, wenn die Post und die Zeitungen bereits auf ihn warteten, wenn er nach Hause kam. Sie hatte eben die Haustür hinter sich geschlossen, als sie den schwarzen Wagen sah, der in der Nähe der hohen Gitter vor dem Eingang hielt; ihr Herz machte einen Satz, als sie kurz dachte, daß das schon Jonathan und Emily wären, aber sie waren es nicht.

Wer immer es war, er fuhr nun langsam weiter, vorbei an dem fast einen Hektar großen, baumbestandenen Grundstück vor ihrem Haus; da hatte sich bestimmt jemand verfahren und war nun auf der Suche nach einer Hausnummer. Sie schaute von der Straße zurück in Richtung Garten und betrachtete die kahlen Äste und den schmutziggrauen Schnee mit den Flecken bloßer Erde dazwischen, die so typisch für Mitte März waren.

Ihr neues Haus stand nur vier Meilen von dem entfernt, in dem Jonathan mit Nancy und Emily in Candlewood Terrace gelebt hatte, und befand sich in einer relativ einsamen Gegend von Elmwood Valley. Bei den meisten Entscheidungen hinsichtlich der Innenausstattung des neuen Heimes hatte Jonathan Lauren freie Hand gelassen, aber auf einigen Dingen hatte er doch bestanden; so hatte er die Riegel an Türen und Fenstern auf den neuesten Stand der Technik bringen und ein Sicherheitssystem installieren lassen, das direkt mit dem örtlichen Polizeirevier verbunden war. Dieses System schloß auch einen vier Meter hohen Maschendrahtzaun mit ein, der mit einem Alarmsystem und einer Videoüberwachung ausgestattet war, so daß sie alle Besucher vorher überprüfen konnten, ehe sie das elektronisch betriebene Tor öffneten und Zugang zum Grundstück gewährten.

Fern nannte das neue Haus an der Mountain View Road – elf geräumige Zimmer, drei offene Kamine und zwei Treppen, die in den oberen Stock führten – nur scherzhaft »die Burg«, und das Eisentor, das sich nur mit der entsprechenden Fernbedienung vom Auto aus oder auf Erlaubnis der Hausbewohner öffnen ließ, »die Zugbrücke« über den Burggraben. Lauren konnte ihr nur zustimmen, war aber mittlerweile zu der Erkenntnis gelangt, daß Jonathans Seelenfrieden nicht über Nacht wieder zurückkehren würde; auch wenn ihr die Sicherheitsmaßnahmen für ihren Geschmack etwas übertrieben erschienen – wenn sie nötig waren, damit ihr Mann mehr Vertrauen in die Sicherheit seiner Familie hatte, was sollte dann so schrecklich daran sein?

Sie holte die Zeitungen und die Post aus dem eisernen Kasten, der an dem Gitter hing, eilte ins Haus zurück und überflog sie hastig; das meiste davon waren Reklamesendungen und Rechnungen, drei Geschäftsbriefe für Jonathan, darunter auch die vertrauten braunen Umschläge der Anwaltskanzlei Michael Perkins, die Jonathan seit langem vertrat.

Im Wohnzimmer legte sie THE NEW YORK TIMES und THE WALL STREET JOURNAL für Jonathan auf den kleinen Beistelltisch. Die Briefe und die Rechnungen kamen in den Korb mit den Posteingängen auf dem Mahagonischreibtisch in seinem Arbeitszimmer, und die Reklamesendungen blieben für sie übrig. Sie schob sie in die entsprechende Ablage in der Küche und wollte sie bei passender Gelegenheit durchsehen. Schließlich stellte sie sich an das Erkerfenster im Wohnzimmer, um Ausschau nach Jonathan zu halten. Sie holte tief Luft, sie hatte so lange auf diesen Tag gewartet, und jetzt war sie glücklich, aufgeregt und gleichzeitig starr vor Angst. Sie wünschte sich, sie hätte Gelegenheit gehabt, Emily bereits früher einmal zu treffen, das hätte es jetzt für sie beide einfacher gemacht. Aber Jonathan hatte Emily noch so bedrängen können, doch endlich seine neue Familie kennenzulernen, sie hatte ihm diese Bitte immer abgeschlagen, das heißt, bis vor ein paar Tagen, als ihr Arzt anrief, um ihnen zu sagen, daß sie mitten in der Nacht aufgewacht sei und darauf bestanden habe, umgehend nach Hause zu kommen.

Lauren saß immer noch am Fenster, als Jonathans neuer schwarzer Lexus die Einfahrt bis zum Tor hochfuhr, das sich auf ein Infrarotsignal hin öffnete. Sie rannte hinaus in die Halle, um Chelsea zu rufen, die sofort aus ihrem Zimmer und die Treppen heruntergestürzt kam; auf einer der oberen Stufen blieb sie stehen, von wo aus sie den besten und deutlichsten Blick auf ihre neue Schwester hätte, wenn diese gleich durch die Tür treten und von ihrer Dekoration begrüßt werden würde.

Aber es kam nicht so, wie sie es sich erwartet hatte; der einzige, der durch die Tür trat, war ein glücklich lächelnder Jonathan mit zwei Koffern in der Hand, und als Lauren ihn fragend ansah, wo das Mädchen denn nun stecke, deutete er mit dem Kopf hinter das Haus. »Sie wollte sich zuerst auf dem Grundstück umsehen. Wahrscheinlich kommt sie von hinten durch die Küche herein.«

Lauren deutete auf Chelseas Kunstwerke. Jonathans Lächeln verschwand. »Oh, ihr hättet mich warnen sollen.« Dann zwinkerte er Chelsea zu. »Das hast du aber toll gemacht, Engelchen.«

Doch damit war Chelseas Enttäuschung nicht aus der Welt geschafft, und angesichts der Mühe, die sie sich mit ihrer Überraschung gemacht hatte, war das für Lauren nur zu verständlich. »Komm mit«, sagte sie tröstend und griff nach Chelseas Hand, »was hältst du davon, wenn wir Emily suchen?« Und dann gingen alle drei in Richtung Küche.

Doch offensichtlich hatte Emily es nicht so eilig. Sie beobachteten sie von dem Fenster neben dem Küchentisch aus; Emily trug einen roten Anorak und eine rotweiße Mütze, sie war größer und natürlich älter und sah überhaupt nicht so aus wie auf den Fotos. Sie ließ sich Zeit, während sie im Garten herumspazierte und sich gründlich umsah. »Es muß ihr alles so fremd vorkommen ... Da kommt sie nach Hause zu einer neuen Familie, in ein neues Haus«, bemerkte Lauren und stellte fest, daß sie bereits die ersten Entschuldigungen für ihre Stieftochter erfand; sie fragte sich, ob sie das vielleicht nur tat, um ihre eigene Verlegenheit zu überspielen, die sie jetzt empfand, während sie untätig herumstand und darauf wartete, sie endlich kennenzulernen.

Aber gerade als Jonathan die Tür öffnen und sie ins Haus rufen wollte, drehte Emily sich um und stapfte die Stufen zur Veranda hoch, die Hände tief in den Taschen ihres Anoraks vergraben. Sie kam herein, und Jonathan legte den Arm um sie. Übers ganze Gesicht grinsend, verkündete er: »Prinzessin, ich möchte, daß du deine neue Mutter und deine kleine Schwester Chelsea kennenlernst.«

Etwas Falscheres hätte er nicht sagen können – Lauren konnte es der Art entnehmen, wie sich die Augen des Mädchens verengten und deutlich Verwirrung oder Zorn widerspiegelten, vielleicht auch beides.

»Willkommen zu Hause, Liebling!« fügte Lauren hinzu, die jedoch gleich darauf feststellte, daß sie damit Fehler Nummer zwei begangen hatte; ihre wohlgemeinten Worte hatten viel zu vertraulich geklungen. »Wir haben den ganzen Tag auf dich gewartet, wir dachten schon, du würdest gar nicht mehr kommen –«

»Darüber solltest du dich bei ihm beschweren«, erwiderte Emily und deutete auf ihren Vater.

»O nein, das war doch nicht als Beschwerde gemeint. Ich wollte nur sagen, daß wir alle so –«

Aber da hatte Emily bereits das Interesse verloren; brüsk wandte sie sich ab und sah sich im Zimmer um. Und sosehr Lauren sich auch wieder um gute Stimmung bemühte, es kamen immer nur die falschen Worte heraus. Sie ertappte sich dabei, daß sie einen unbeholfenen Satz an den anderen klebte, und fragte sich verzweifelt, warum sie sich nicht besser auf diese Begegnung vorbereitet hatte, während Chelsea, die plötzlich auch ganz verschüchtert war, sich an sie klammerte. Endlich zog Emily ihre Jacke aus und setzte ihre Wollmütze ab, unter der ein Kurzhaarschnitt zum Vorschein kam, der besser zu einem Jungen gepaßt hätte. »Und, wie gefällt dir mein neuer Stil?« fragte sie ihren Vater. »Ich habe ihn mir aus einer Zeitschrift abgeschaut, speziell für Gelegenheiten wie diese geeignet.«

»Es ist ... es ist recht hübsch«, antwortete er gedehnt. Er weiß seinen Schock ziemlich gut zu verbergen, dachte Lauren, aber sie sah ihm seine Enttäuschung deutlich an. Er mochte es, wenn Mädchen ihr Haar lang trugen, und hatte des öfteren mit Emilys wunderbaren Haaren geprahlt. Aber es waren schließlich ihre Haare.

»Was soll ich damit machen?« fragte Emily mit einem Blick auf ihre Jacke und die Mütze; im Gegensatz zu Lauren schien sie nicht die geringste Nervosität zu verspüren.

Als sie sie jetzt etwas genauer betrachtete, konnte Lauren durchaus eine Ähnlichkeit mit den Fotografien entdecken, aber der wichtigste Unterschied zu früher lag in ihren Augen, die – groß und dunkel wie zwei Teiche und denen Jonathans nicht unähnlich – völlig ihren Glanz und ihre Lebendigkeit verloren zu haben schienen. Bildete sie sich die Kälte darin nur ein? Vielleicht lag es einfach daran, daß Emily überhaupt nicht mehr wie ein kleines Mädchen aussah ... wären da nicht das zu enge Trägerkleid aus Cordsamt und die viel zu weite Bluse mit dem Spitzenkragen gewesen, die sie trug. Es mußte dringend eine neue Garderobe für sie angeschafft werden, ganz dringend.

»Also, erzähl doch mal, wie war die Fahrt nach Hause?« forderte Lauren sie auf, nachdem sie Emily zu dem Schrank in der Halle geführt und einen Kleiderbügel herausgeholt hatte.

Emily zuckte nur die Schultern und reichte Jonathan, der die Sachen zufrieden im Schrank verstaute, ihre Jacke und die Mütze. Er hätte nicht glücklicher sein können. Ihre erste Begegnung war zwar katastrophal verlaufen, aber er freute sich offenbar so sehr darüber, seine Familie endlich wieder vereint zu wissen, daß es ihm gar nicht aufgefallen war.

* * *

Jonathan kehrte zum Wagen zurück, um das restliche Gepäck zu holen, und Emily folgte Lauren und Chelsea nach oben in ihr Zimmer. Emily konnte zwar nicht umhin, die Dekorationen zu bemerken, als sie das Wohnzimmer und die Halle durchquerten, zog es aber vor, kein Wort darüber zu verlieren. Als sie zu ihrem Zimmer kamen, reagierte sie mit Gleichgültigkeit. Drinnen ließ sie sich auf den neuen Bettüberwurf fallen und bat darum, allein gelassen zu werden. Chelsea machte einen zerknirschten Eindruck, und als sie wieder unten waren, setzte sich Lauren zu ihr. »Ich weiß, daß du enttäuscht bist, Liebling. Ich auch. Aber ich glaube, wir sollten etwas Verständnis dafür aufbringen, was Emily im Moment durchmacht.«

»Was ist Verständnis?«

»Mitgefühl. Und Freundlichkeit. Vergiß nicht, sie war lange weg. Das letzte, was sie noch weiß, ist, daß ihre Mutter glücklich und am Leben war, gleich hier in der Nähe wohnte und mit ihrem Daddy verheiratet war.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil ihr Daddy mein Daddy und mit dir verheiratet ist. Nicht mit ihrer toten Mutter.«

Lauren seufzte, was hatte sie erwartet? Sie konnte es ja selbst kaum begreifen. Sie waren zwar erst seit vier Monaten verheiratet, aber die Zeit kam ihr bereits wie eine Ewigkeit vor; mehr als einmal fragte sie sich, wie sie ohne Jonathan jemals hatte glücklich sein können.

Zugegeben, manchmal übertrieb ihr lieber Ehemann es mit seiner Fürsorge, aber für Jonathan stand die Familie nun mal an erster Stelle. Er war keiner jener Männer, die tranken oder spielten und sich bis spät in die Nacht mit Freunden herumtrieben. Jeden Abend war er gegen halb sechs, wenn nicht schon eher, zu Hause, oft mit einer Überraschung für »seine Mädchen«. Er war schon fast zu aufmerksam und großzügig; es gab nichts, das er nicht getan hätte, um Lauren und ihre Tochter glücklich zu machen. »Wenn du etwas haben willst, Lauren, irgend etwas, dann brauchst du mich nur darum zu bitten«, sagte er immer. Er war ein Ausnahmemann, und Lauren konnte den Gedanken kaum ertragen, daß er jemals einer anderen gehört haben sollte.

Aber wenn sie die Mauer einreißen wollte, die Emily um sich errichtet hatte, dann mußte sie sich etwas einfallen lassen. Im Augenblick stellte sie sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, in Candlewood Terrace Nummer fünfunddreißig wohnen zu bleiben; nachdem das Haus monatelang ohne einen ernsthaften Interessenten auf dem Markt gewesen war, hatte Jonathan es nur widerstrebend Fern zur Vermietung überlassen. Hätte die vertraute Umgebung Emily die Eingewöhnung leichter gemacht, oder hätten die Erinnerungen nur einen Rückfall bei ihr hervorgerufen?

Chelsea machte sich daran, ihre verschmähten Kunstwerke wieder von der Wand zu nehmen, während Lauren in die Küche ging, um aufzuräumen. Nachdem Jonathan den großen Schrankkoffer in Emilys Zimmer gebracht hatte, machte er sich auf die Suche nach Lauren. Als sie ihm eine Tasse Tee eingoß, konnte sie es nicht mehr länger für sich behalten. »Sind dir ihre Augen aufgefallen?«

»Wie meinst du das?«

Sie wollte nicht sagen, daß sie ihr kalt erschienen waren. Deswegen suchte sie nach einem anderen Wort. »Sie waren so zornig«, erklärte sie. »Und das kann sie doch logischerweise nur auf mich sein.«

»Jetzt komm aber, Lauren. Ich weiß, das ist nicht einfach für dich, aber ich dachte nicht, daß du so empfindlich sein würdest. Du weißt doch, was das Mädchen im letzten Jahr alles durchgemacht hat ... Ich zweifle auch nicht daran, daß sie noch viel Zorn mit sich herumträgt, aber damit haben wir doch gerechnet, oder nicht?«

»Ja, natürlich, und ich will sie auch nicht kritisieren. Ich will sie doch nur verstehen, damit ich ihr helfen kann.«

»Du kannst ihr helfen, indem du sie bedingungslos akzeptierst, aber nicht, indem du versuchst, jeden ihrer Schritte zu analysieren.«

»Tut mir leid, du hast wahrscheinlich recht«, erwiderte sie. Und es tat ihr wirklich leid, sie hatte nicht kritisieren wollen; aber der Zorn, die Kälte, oder was immer das war in Emilys Augen, machten ihr angst, und sie hätte es so gerne verstanden. Aber eigentlich verstand sie nur zu gut, und das war Teil des Problems. In Emilys Augen war Lauren die andere Frau, weshalb sollte sie da nicht wütend auf sie sein? Sie versprach, sich zu bessern, und sagte: »Ach, übrigens, gab es noch irgendwelche abschließenden Anweisungen von ihrem Arzt?«

Jonathan schien erleichtert. Er haßte jeden Streit und zog sich immer sofort zurück, wenn es ihm zu viel wurde. Jetzt ergriff er Laurens Hand und küßte sie sanft. »Der Doktor meinte, daß Emilys Wunsch, nach Hause zu kommen, als großer Fortschritt zu betrachten sei. Diese Entscheidung getroffen zu haben sollte ihr das Gefühl geben, wieder etwas Kontrolle über ihr Leben zu haben. Selbstverständlich muß ihre Therapie fortgesetzt werden.« Er schob eine Hand in seine hintere Hosentasche, holte seine Brieftasche heraus, entnahm ihr einen Zettel und gab ihn ihr. »Das sind die Namen einiger Therapeuten hier in der Gegend. Dr. Strickler wird sich sicher mit ihm oder ihr – ganz gleich, für wen wir uns entscheiden – in Verbindung setzen wollen.«

Sie faltete den Zettel auseinander und las die Liste mit den Ärzten in der Annahme, daß Jonathan wollte, daß sie sich darum kümmerte.

Obwohl Lauren bisher nur Mitglied im Eltern-Lehrer-Verband und in einer sich monatlich in der Bibliothek treffenden Büchergruppe war, warnte Jonathan sie immer wieder mal im Scherz, sich nicht gleich für ein Dutzend Komitees verpflichten zu lassen, um sich dann hinterher zu wundern, wieviel Arbeit sie plötzlich am Hals hatte. Aber Lauren war zum Glück nicht der Typ dafür. Sie fuhr Chelsea einmal in der Woche zum Wichteltreffen ihrer Pfadfindergruppe und zur Gymnastik und natürlich auch zu den obligatorischen Geburtstagspartys, wo die Mütter meistens im Hintergrund zusammensaßen und die Fortschritte ihrer Sprößlinge diskutierten. Alles positive, gesunde Aktivitäten, um den Tag auszufüllen. Aber nichts, das sie auf die Konfrontation mit Emily vorbereitet hätte, und plötzlich kam sie sich schrecklich unzulänglich vor.

»Tu mir doch einen Gefallen, Liebling, und schau dir die Ärzte an. Überprüf ihre Referenzen und laß mich dann wissen, was du von ihnen hältst. Du solltest dir vor allem diese Dr. Greenly in Middletown ansehen. Strickler kennt sie persönlich und schätzt ihre fachliche Kompetenz sehr.« »Aber natürlich erledige ich das«, sagte sie eifrig, faltete die Liste wieder zusammen und schob sie in die Ablage unter dem Telefon. »Ich wünschte nur, es gäbe noch mehr, das ich tun könnte.«

Er legte ihr die Hand unters Kinn und liebkoste ihr Gesicht und ihren Hals mit seinen Fingern. »Aber du tust doch schon so viel, mein Liebling, siehst du das denn nicht? Du bist für sie da, du bist bereit, ihr ein gutes Heim zu schaffen. Natürlich bin ich weder taub noch blind, und dumm bin ich auch nicht. Natürlich sehe ich, daß sie so tut, als wäre ihr das alles nicht wichtig, aber das ist nur aufgesetzt. Das zeigt mir nur, daß sie Angst hat. Sobald sie dich näher kennenlernt, wird sie sich in dich verlieben, wie es mir passiert ist. Vertrau mir, es wird alles gut werden; du mußt ihr nur etwas Zeit geben. Sicher, eine Sache ist da noch ...«

»Was denn, Liebling?«

»Mit diesem Haarschnitt sieht sie aus, als ob sie mit dem Kopf in eine Kreissäge geraten wäre. Er ist einfach schrecklich.«

Lauren kicherte; sie wußte genau, wie schwer es ihm fiel, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. »Das wächst wieder nach. Wie du selbst gesagt hast, Liebling, es braucht alles seine Zeit.«

Emily verbrachte den größten Teil des Nachmittags in ihrem Zimmer hinter verschlossener Tür, und als Lauren einmal zaghaft klopfte und vorsichtig nachfragte, ob sie keine Hilfe beim Auspacken brauchen könnte, bekam sie von Emily nur ein knappes »Nein« durch die geschlossene Tür zur Antwort. Zweimal an diesem Nachmittag blickte Jonathan kurz von seiner Zeitung auf und warf seiner Frau ein aufmunterndes Lächeln zu, als wollte er ihr zu verstehen geben, daß sie sich doch entspannen sollte.

Leicht gesagt und getan für ihn, da er schließlich keine Kommunikationsprobleme mit dem Mädchen hatte. Lauren hätte Emilys Art, mit Jonathan umzugehen, zwar nicht als liebevoll beschrieben, aber immerhin sprach sie mit ihm bei den wenigen Gelegenheiten, wenn sie die Treppe herunterkam, um sich mit Essen einzudecken, während sie Lauren und Chelsea dabei geflissentlich übersah. Lauren hatte es nie erlaubt, daß Chelsea in ihrem Zimmer aß, hielt aber jetzt den Mund, da sie mit Emily darüber nicht streiten wollte.

Einmal unterbrach Emily Jonathan und Chelsea bei einer Partie Schach und bat ihren Vater, doch einen Karton in ihr Zimmer zu tragen. Es war etwas, das sie leicht hätte selbst erledigen können, aber aus lauter Freude über die lang ersehnte Rückkehr seiner ältesten Tochter sprang Jonathan selbstverständlich auf und tat freudig, was sie von ihm wollte ... Albern lachend jagte er sie die Treppen hoch, völlig blind für den neidischen Ausdruck auf Chelseas Gesicht.

Lauren konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob Emily ihn nicht nur deshalb gebeten hatte, den Karton hochzutragen, um das Spiel zu unterbrechen und um Chelsea zu ärgern. Aber so rasch ihr dieser Gedanke in den Kopf schoß, so rasch schob sie ihn auch wieder beiseite. Selbst wenn es stimmte, handelte es sich dabei nur um die Reaktion einer rivalisierenden Schwester, ein völlig normales Phänomen also, vor allem in einer Situation wie dieser. Bestimmt würde sich das wieder geben, sobald sich die Mädchen ihrer Positionen sicherer wären. Und schließlich war es auch nicht so wichtig – viel wichtiger war, daß sie und Emily eine Beziehung zueinander aufbauten.

Gegen Ende des Nachmittags kam Emily mit Jacke und Mütze aus ihrem Zimmer. »Wo gehst du hin?« wollte Lauren wissen und warf einen Blick nach draußen auf das ungemütliche Wetter.

Emily ignorierte sie und wandte sich an ihren Vater: »Ich werde mich draußen mal umsehen.«

»Aber bleib bitte auf dem Grundstück, Prinzessin«, erwiderte er, und schon war sie weg.

Lauren schaute ihn fragend an. »Es wird schon dunkel.«

»Das dauert mindestens noch eine halbe Stunde. Außerdem kann ihr innerhalb der Einzäunung nichts passieren.«

Es hätte sie eigentlich amüsieren sollen, wäre es nicht so verrückt gewesen, denn plötzlich war Lauren diejenige, die sich Sorgen machte. Chelsea kam nämlich ebenfalls mit Jacke und Mütze anmarschiert und verkündete, daß sie ebenfalls hinauswolle. Lauren wollte gerade protestieren, aber Jonathan hob die Hand und hielt sie zurück. Zehn Minuten später stand Lauren unruhig auf, ging ans Fenster und spähte hinaus; sie entdeckte die beiden Mädchen ziemlich weit weg an der Stelle, an der der Zaun endete, nicht weit entfernt von der gesicherten Pforte, die in ihren Wald dahinter führte. Sie seufzte. Alles war in Ordnung, in schönster Ordnung sogar – die beiden Mädchen standen nebeneinander, und es sah so aus, als würden sie sich tatsächlich unterhalten.

Chelsea war langsam durch den Garten zu Emily hinübergeschlendert und dann neben ihr stehengeblieben, während Emily weiter unverwandt auf eine behaarte, kleine Spinne starrte, die den Maschendrahtzaun hochkletterte. Chelsea sagte nichts, da ihr absolut nichts einfiel, kam aber zu dem Schluß, daß Emily überhaupt nicht so aussah wie auf ihren Fotos: Sie war nicht annähernd so hübsch; sie lächelte auch nicht, und was noch schlimmer war, ihr kurzes, abstehendes Haar ließ sie wie eine geschorene Ratte aussehen.

»Wie war das eigentlich die ganze Zeit über an diesem Ort?« fragte Chelsea schließlich und überlegte, daß das bestimmt auch eine dieser Fragen war, von denen ihre Mutter sagen würde, daß sie sie nichts anginge.

Aber Emilys Stimme klang beinahe freundlich, als sie Chelsea einen Blick zuwarf und antwortete: »Es war schrecklich, es hat mich krank gemacht, und die Leute, die die Klinik leiteten, waren wirklich böse. Weißt du, das ist nicht so ein Krankenhaus, wo man dauernd im Bett liegt. Man steht jeden Tag auf, zieht sich an, man hat seine Termine mit dem Arzt oder geht zum Essen oder in die Zentrale – das ist ein großer Raum, in dem sich immer alle treffen. Oder man geht natürlich auch in die Schule.«

»Du bist dort in die Schule gegangen?«

»Klar, sogar Verrückte müssen was lernen.«

»Aha. Na ja, so schrecklich klingt das aber gar nicht.«

»Glaub mir, es war schrecklich. Wenn du mal eine Minute deinen Mund halten kannst, erzähle ich es dir«, sagte sie; hin und wieder warf sie dabei einen Blick auf Chelsea, aber die meiste Zeit über verfolgte sie die Bewegungen der Spinne. »Weißt du, die Patienten dort müssen alle ein Halsband aus Metall tragen, auf dem ihr Name eingraviert ist. Und das kommt erst wieder runter, wenn der Patient entlassen wird.«

»Trägt man das auch beim Baden?«

»Du trägst doch auch deine Zehen oder deine Zunge, wenn du badest, oder nicht? Das Halsband ist Teil deines Körpers, solange du da drinnen bist.«

»Im Ernst?«

Emily stieß einen von diesen tiefen Seufzern aus, wie es größere Kinder in Gegenwart von kleineren gerne machen, damit die spüren, wie dumm sie noch sind. »Nein, Goldköpfchen«, erwiderte sie. »Natürlich im Ernst.«

Chelsea vermutete, daß Emily sich mit diesem Spitznamen über ihre blonden Locken lustig machen wollte, obwohl die doch viel schöner waren als ihr eigener Haarschnitt, der besser zu einem Jungen gepaßt hätte. »Und wofür war dieses Halsband da?«

»Zum einen, damit die Wächter sahen, wer du warst. Aber hauptsächlich deswegen, um uns daran festzubinden oder herumführen zu können. Man kann einem Verrückten doch nicht trauen, daß er im Bett bleibt oder zu einem Termin mit dem Arzt kommt oder in die Schule geht, und deshalb haben sie uns auf diese Art und Weise gefügig gemacht, ohne lange mit uns herumstreiten zu müssen.«

»Du meinst, wie einen Hund an der Leine?«

»Du hast es anscheinend kapiert.«

Chelsea betrachtete prüfend Emilys Gesicht und suchte es nach Anzeichen dafür ab, daß sie nur einen Scherz mit ihr trieb, aber falls es diese Zeichen gab, konnte sie sie nicht entdecken. »Hat das weh getan?«

»Nur, wenn du versucht hast, davonzulaufen, und wenn das Halsband fester zudrückte und dir die Luft abschnitt und du nicht mehr schlucken konntest. Wenn du also klug warst, dann hast du es erst gar nicht probiert.«

Das klang fürchterlich und schrecklich, und Chelsea konnte sich gar nicht vorstellen, daß ihr Vater, Emilys Vater – der stärkste, klügste und beste Vater auf der Welt –, es zulassen konnte, daß man seine Tochter auf so schändliche Weise behandelte. »Was war mit Daddy?« fragte sie deshalb. »Hat er denn nicht gesehen, daß du ein Halsband trägst, wenn er dich besuchen kam?«

Es folgte eine längere Pause, dann meinte Emily: »Klar hat er es gesehen. Und es hat ihm auch nicht sehr gefallen, aber was hätte er dagegen tun sollen? Wenn ein Mensch in einem dieser Irrenhäuser eingesperrt wird, dann gibt es dort eben bestimmte Regeln, die für alle Patienten gelten. Die Eltern werden von vornherein zu Befehlsempfängern degradiert – sie haben keinerlei Rechte mehr über dich. Es sind die Ärzte und Pfleger, die Sekretärinnen und zahnlosen Hausmeister, die sich zu Herren und Meistern aufschwingen und den Eltern ihre Befehle erteilen.«

Nein, sie glaubte es immer noch nicht – Daddy würde sich nie auf so etwas einlassen. Trotzdem ließ sie sich weiter auf die Geschichte ein. »Du mußt schrecklich gelitten haben.«

»Das ist noch untertrieben. Aber das schlimmste von allem, das war der blutige Fluch.«

Chelsea war ein entsetzlicher Feigling, wenn es um Nadeln, um Piksen und um Blut ging, und als sie das jetzt hörte, stand ihr die Angst offensichtlich ins Gesicht geschrieben. Es mußte wohl so sein, denn plötzlich machte Emily einen äußerst zufriedenen Eindruck. »Jedes Mädchen, das sich besonders verrückt aufführte, wurde bestraft, und so hat es natürlich fast jede von uns getroffen, da das ja schließlich der Grund war, weshalb wir dort waren.«

»Womit sind sie denn bestraft worden?«

Die Spinne hatte endlich Emilys Höhe auf dem Zaun erreicht; sie schob sie auf ihren Handteller und ließ sie erst auf der einen, dann auf der anderen Hand herumkrabbeln. »Mit dem Fluch natürlich. Einmal im Monat fingen wir alle zu bluten an, und das hörte tagelang nicht auf.«

»Das verstehe ich nicht. Wo kam das Blut denn her?«

»Von da unten. Was denkst du denn?«

»Du meinst, zwischen deinen Beinen?« stieß Chelsea atemlos hervor. Selbst wenn sie hundert Millionen Mal hätte raten dürfen, auf die Idee wäre sie nie gekommen. Aber angesichts Emilys Schilderung zuckte sie nun betroffen zusammen. »Aber wieso? Wie konnte das passieren?« Emily spielte weiter mit der Spinne in ihrer Hand, was Chelsea einen zusätzlichen Schauder über den Rücken jagte. »Weil einer der Herren oder Meister wütend auf uns war und uns bestrafen wollte. Und deshalb belegte er uns mit dem Fluch. Und wenn man weinte oder sich beklagte, dann wurde man doppelt so schwer bestraft. Dann strömte das Blut aus einem heraus wie aus einem Wasserschlauch und hörte gar nicht mehr auf. Das heißt, erst wenn man vollständig ausgeblutet und gestorben war.«

»Nein! Das glaube ich dir nicht!«

»Schön, du willst es mir nicht glauben? Dann glaube es nicht. Wen kümmert das? Aber dann erklär mir doch mal, wieso sich in der Zeit, in der ich dort war, zwei Mädchen im Schlaf zu Tode bluteten?« Sie hob die Hand, als wollte sie schwören. »Großes Indianerehrenwort.«

»Aber, wenn es wirklich so gräßlich und entsetzlich dort war, wie du gesagt hast, und wenn du wirklich so gelitten hast, wieso hast du dann so lange gebraucht, um dich zu entscheiden, wieder nach Hause zu kommen?«

»Gute Frage«, erwiderte die ältere der beiden, als ob sie wirklich beeindruckt wäre, was Chelseas Ego sehr schmeichelte. Deshalb war sie auch nicht auf den Schlag vorbereitet, der mit Emilys Antwort auf sie niedersauste. »Tja, es war wirklich eine harte Entscheidung. Was war besser, die Arschlöcher im Irrenhaus oder du und deine Mutter?«

Und während sie das sagte, schloß sie ihre Hand um die Spinne und zerquetschte sie.

Genau in dem Moment rief Lauren sie zum Abendessen ins Haus, und Chelsea wirbelte herum und lief rasch zurück. Sie nahm an, daß Emily ihr folgte, aber sie sah sich nicht um. Sie hatte die sterbende Spinne vor Augen und mußte an Emilys entsetzliche Geschichte denken. Sie hatte sogar geschworen, großes Indianerehrenwort, ein Schwur, den nicht viele Kinder, die sie kannte, so leichthin über die Lippen brachten. War Emily verrückt oder nur eine Lügnerin?

Der Fremde in meinem Haus

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