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KAPITEL 4
ОглавлениеNachdem Lauren Emily in der Schule eingeschrieben hatte, fuhren sie schweigend nach Hause, wo sie gegen halb drei Uhr ankamen. Emily holte sofort ihre Päckchen aus dem Auto und verschwand in ihrem Zimmer, und angesichts der Umstände war Lauren auch erleichtert, sie los zu sein. Wenig später kam Fern vorbei, um ihre Aktenmappe zu holen. »Ich mache uns rasch Tee«, schlug Lauren vor, aber Fern schüttelte nur den Kopf. »Tut mir leid, ich würde gerne eine Tasse mit dir trinken, aber ich habe noch einen Termin.«
Doch als sie Laurens enttäuschtes Gesicht sah, warf sie schnell einen Blick auf die Uhr und meinte: »Du hast drei Minuten, dann schaffe ich es noch. Was ist los?«
»Sie will uns auseinanderbringen.«
»Wer, von wem ist hier die Rede?«
»Emily. Sie will sich zwischen Jonathan und mich stellen. Sie hat es mir selbst gesagt.«
»Das ist doch lächerlich. Sie ist doch noch ein Kind.«
»Lächerlich, daß sie so etwas vorhat oder daß sie eine derartige Drohung wahr machen könnte?«
Fern folgte Lauren ins Wohnzimmer; ihre Augen verdüsterten sich, als sie das Gesicht ihrer Schwester betrachtete. »Was ist los mit dir? Seit wann bist du so unsicher?«
»Sie hätte sich nicht deutlicher ausdrücken können«, sagte Lauren, der es seit ihrer Unterhaltung einfach nicht mehr gelang, sich des unguten Gefühls zu entledigen. »Sie ist nicht glücklich, daß ihr Vater mich geheiratet hat, aber darauf war ich nicht ganz unvorbereitet. Doch worauf ich gänzlich unvorbereitet war, ist die Wut, die sie mit sich herumschleppt, und ihre Intensität. Fern, sie hat wirklich gesagt, daß sie mich aus Jonathans Leben draußen haben will. Und falls ich nicht mitspiele, würde es mir leid tun.«
»Na schön, ein elfjähriges Mädchen, das wegen emotionaler Probleme in psychiatrischer Behandlung war, riskiert eine große Lippe. Sie droht dir sogar ... Nehmen wir nur mal einen Moment an, daß sie auch noch meint, was sie sagt, daß sie tatsächlich versuchen könnte, deine Ehe zu zerstören oder dich irgendwie zu bestrafen – was mir allerdings beides ein wenig weit hergeholt erscheint ... Ja, glaubst du denn, daß Jonathan einfach so leicht zu manipulieren ist?«
»Das glaube ich eigentlich nicht. Er ist nur so empfindlich, wenn es um Emily geht.«
»Und? Jonathan ist ein sensibler Mann und leicht zu überrumpeln von den Frauen, die er liebt. Doch er ist auch stark und intelligent und hat seinen eigenen Kopf. Aber das muß ich dir doch nicht sagen, oder?«
»Nein, selbstverständlich nicht. Er scheint mir nur so versessen darauf zu sein, seine Tochter vor dem Feind zu beschützen, um es mal so auszudrücken. Was natürlich völlig normal ist, wenn man bedenkt, was sie hinter sich hat, aber –«
»Wenn du damit sagen willst, daß er seine Fürsorge übertreibt, Lauren, dann ist das doch ein alter Hut.«
»Klar, sicher, aber das ist ja auch in Ordnung, damit habe ich kein Problem. Der Unterschied ist aber doch der, daß ich nicht der Feind bin, er mich aber so behandelt, als wäre ich es.«
Lauren hatte eigentlich die feste Absicht, Jonathan von ihrem Gespräch mit Emily zu erzählen, das heißt, bis sie die Sache mit Fern besprochen und anschließend selbst noch einmal in Ruhe überlegt hatte. Dabei wurde ihr klar, daß sie ihn damit in eine unmögliche Situation brächte. Immer vorausgesetzt, er nahm die Sache überhaupt ernst, was sollte er machen? Zu seiner Tochter gehen und sie dafür ausschimpfen, daß sie so böse Dinge zu seiner neuen Frau gesagt hatte? Natürlich würde er genau das tun, aber das zwänge ihn auch dazu, Partei zu ergreifen, was Emily nur noch mehr verärgern würde. Deshalb lief die Sache letzten Endes auf folgendes hinaus: Lauren war erwachsen, Emily ein Kind. Von einem Erwachsenen erwartet man, daß er seine Gefühle unter Kontrolle hat, von einem Kind nicht.
Lauren war immer stark und eigenständig gewesen, sie würde auch mit dieser Sache allein fertig werden.
Jonathan war an diesem Abend mit Geschenken beladen nach Hause gekommen: mit einer zartgliedrigen Geisha-Puppe für Chelseas immer größer werdende Sammlung von Puppen aus fremden Ländern und mit einer Schachtel voller Schmucksteine für Emily, die sie mittels einer mechanischen Vorrichtung selbst schleifen und polieren konnte; dazu noch jede Menge Zubehör, um Ringe, Broschen, Ketten und Armbänder aus den Steinen zu basteln. »Und, habe ich gut gewählt?« fragte er die Mädchen, während sie ihre Geschenke auspackten. Es war Chelsea, die Jonathan als erste um den Hals fiel und sich küssend und vor Freude kreischend bei ihm bedankte. Ganz offensichtlich, um Emily eins auszuwischen, aber das schien ihr wenig auszumachen. Lauren hielt sich abseits und beobachtete Jonathan und die Mädchen. Oh, sie hatte Emilys Auftritt vom Nachmittag ganz und gar nicht vergessen, aber seitdem hatten die Worte, die sie sich immer und immer wieder durch den Kopf gehen hatte lassen, eine Menge von ihrer Schärfe verloren. Sie fragte sich sogar, ob ihre Stieftochter nicht einiges mit dem Mädchen gemeinsam hatte, das sie einst gewesen war: aufbrausend, ungezogen, nur die Hälfte von dem meinend, was sie sagte.
Jonathan kann wirklich wunderbar mit den beiden umgehen, dachte sie, als er die Mädchen mit einem Taschenspielertrick unterhielt. Die beiden redeten zwar nicht miteinander, hatten sich aber im Spiel kurzzeitig gegen Jonathan verbündet. Lauren, die sich nun doch etwas ausgeschlossen fühlte, kehrte in die Küche zurück, um nach dem Essen zu sehen. Aber es dauerte nicht lange, und Jonathan kam ihr nach und überreichte ihr, verlegen lächelnd, eine schmale, längliche Schachtel. Sie sah ihn mit großen Augen an. »Was ist das?«
»Meinst du vielleicht, ich würde mein bestes Mädchen leer ausgehen lassen?«
»Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, Jonathan, ich bin kein Kind mehr.« Sein Zorn war mittlerweile verraucht, und das war seine Art, sich zu entschuldigen, aber statt es dabei bewenden zu lassen, was sie eigentlich wollte, stand sie da wie ein verdrießliches Kind – genau das, was sie nicht zu sein behauptete. Man mußte ihm zugute halten, daß er nicht auf ihre schnippische Bemerkung einging, sondern sie einfach küßte und damit jeglichen Einwand, den sie hatte vorbringen wollen, im Keim erstickte.
»Du bist genau so, wie ich dich haben will, Lauren«, flüsterte er und bewegte leicht seine Lippen auf ihrem Mund, ehe er sich ihr wieder entzog, als er merkte, daß sie mehr wollte. Statt dessen drückte er ihr die Schachtel in die Hand. »Mach es auf.«
In der Schachtel lag eine breite Goldkette. Lauren nahm sie heraus und hielt den Atem an. »Oh, Jonathan, die ist ja wunderschön.« Sie blickte zu ihm auf. »Aber das war doch nicht nötig –«
Er drückte ihr die Finger auf den Mund, unterbrach sie, nahm ihr die Kette aus der Hand, trat hinter sie und legte sie ihr um den Hals. Dann beugte er sich vor, küßte sie auf den Nacken, während er die Kette zumachte, ließ seine Hände über ihren Körper wandern und preßte sie an sich. »Ich liebe dich, Lauren. Ich hasse es so, mit dir zu streiten.« Sie spürte ein Ziehen in ihrem Unterleib und Tränen in ihren Augen. Sie betete ihn an, diesen Mann, der ihr unaufhörlich zeigte, wie sehr er sie liebte. Fern hatte selbstverständlich recht. Wie hatte sie auch nur einen Augenblick denken können, sie würde ihn verlieren?
Fern kam nach dem Abendessen und war sehr zufrieden mit sich selbst. Sie nahm einen Vertrag aus ihrer Aktenmappe und hielt ihn Jonathan unter die Nase. »Na, wie hört sich ein Einjahresmietvertrag für dich an?«
»Ah, meine liebste Schwägerin, du bist wirklich ein Genie«, rief Jonathan lachend und stand auf, um sich den Vertrag anzuschauen. »Kein Problem mit der Höhe der Miete?«
»Nein, überhaupt nicht, ich denke, das geht in Ordnung. Aber einen Moment lang wurde ich doch etwas stutzig, als ich deinen neuen Mieter das erste Mal persönlich sah.«
»Aha, jetzt kommt die schlechte Nachricht. Also, wo ist der Haken, was stimmt nicht mit ihm?«
»Eigentlich alles, ich habe ihn mir vermutlich nur etwas anders vorgestellt. Er ist noch sehr jung, erst zweiundzwanzig, macht aber einen recht verantwortungsbewußten Eindruck. Er ist ziemlich groß, etwas schwerfällig, aber ganz nett. Höflich, nicht der typische junge Schnösel, den man erwarten könnte. Seit er mit siebzehn von der High-School abgegangen ist, hat er als selbständiger Zimmermann gearbeitet. Er will am Haus sogar ein paar Veränderungen und Reparaturen vornehmen, vorausgesetzt natürlich, daß du keine Probleme damit hast. Es sollen dir auch keine Kosten entstehen.«
Achselzuckend erwiderte Jonathan: »Nein, ich habe keine Probleme damit. Solange er den Besitz damit aufwertet und ihm klar ist, daß seine Einbauten im Haus bleiben werden, wenn er wieder auszieht.«
»Ich frage mich, warum er das wohl machen will«, mischte Lauren sich ein. »Ich meine, das Haus gehört ihm doch nicht.«
»Wieso nicht?« meinte Fern. »Wenn man etwas mit eigenen Händen genau so machen kann, wie man es haben möchte? Und ein eigenes Haus kann er sich jetzt noch nicht leisten.«
»Aber wieso ausgerechnet in diesem Haus?«
»Das ist aber eine merkwürdige Bemerkung«, erwiderte Jonathan. »Es ist doch ein schönes Haus.«
»O ja, das ist es. Das wollte ich damit auch nicht sagen.« Laurens nächste Frage war an Fern gerichtet. »Hast du erwähnt, was dort passiert ist?«
»Ursprünglich wollte ich es nicht, ich bin ja nicht dazu verpflichtet ... aber dann dachte ich mir, daß er es bestimmt ziemlich bald von den Nachbarn erfahren wird. Deshalb, falls es ihn wirklich abschrecken sollte, besser jetzt als später, wenn du mit einem Mieter dasitzt, der unbedingt wieder aus dem Haus will.«
»Offenbar macht es ihm nichts aus«, sagte Jonathan.
»Nein, überhaupt nicht. Er wußte sogar schon alles darüber.«
»Woher?« fragte Lauren.
»Ich habe doch schon mal erwähnt, daß er Verwandte im Ort hat. Eine Schwester und deren Familie, glaube ich. Und offensichtlich wußten die, welches Haus das war –« Plötzlich schnappte sie nach Luft. »Lauren Sandler Grant, ich kann es einfach nicht glauben, daß du die ganze Zeit über unschuldig dastehst und nicht ein Wort verlierst über diese ... wo hast du diese umwerfende Kette her?«
Alle drei brachen sie in schallendes Gelächter aus, und bald war der neue Mieter vergessen.
Es war schon spät an diesem Abend, als Jonathan aus heiterem Himmel zu ihr sagte: »Falls die Polizei kommen sollte, um Emily Fragen zu stellen, dann mußt du das unbedingt verhindern. Und mich sofort darüber informieren.«
Lauren richtete sich im Bett auf und sah ihn fragend an. »Ich verstehe nicht ganz, warum sollten sie zu uns kommen?«
Er seufzte. »Ich habe einen Anruf von Detective Kneeland erhalten, der den Fall von Anfang an bearbeitet hat. Kannst du dich noch an den Anruf gestern erinnern, den ich im Arbeitszimmer entgegengenommen habe?« Sie nickte. »Ich habe in dem Moment nichts gesagt, weil ich selbst erst Zeit brauchte, die Sache zu verdauen und sicherzugehen, daß ich nicht zu emotional reagiere. Himmel, Lauren, die geben der Kleinen ja nicht einmal eine Schonfrist von vierundzwanzig Stunden, ehe sie ihr wieder auf die Pelle rücken.«
»Und das nach der langen Zeit?«
»Tja, da der Fall nicht gelöst wurde, ist es Kneelands Job, es wenigstens zu versuchen. Und sosehr ich mir auch wünsche, daß das passiert, aber Dr. Strickler sagt, daß bei Emily immer noch Bruchstücke ihrer Erinnerung fehlen, Erinnerungen, die sie verdrängt. Da das Wohl meiner Tochter natürlich an erster Stelle steht, bin ich nicht bereit, einen Rückfall zu riskieren.«
»Und du glaubst, wenn sie mit ihr reden, wird das passieren?«
»Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Du nicht?«
Sie überlegte einen Moment und mußte ihm schließlich zustimmen. Außerdem, wenn Emily wirklich etwas Wichtiges zu sagen hatte, etwas, das ihr zu dem Mord an ihrer Mutter plötzlich wieder einfiel, würde sie dann nicht von sich aus darauf zu sprechen kommen?
Emily zog zu ihrem Termin bei der Psychologin ihre neuen Jeans und Springerstiefel an; Jonathan konnte sein Entsetzen zwar nicht verbergen, sagte aber nichts.
Die ersten zwanzig Minuten lang unterhielt sich die Ärztin nur mit Lauren und Jonathan, während Emily draußen im Wartezimmer saß und einen bekümmerten Eindruck machte. Penelope Greenly hatte eine leise, monotone Art zu reden und schaute sie zerstreut hinter dicken Brillengläsern an, die ihre Augen unnatürlich vergrößerten, als sie ihnen sagte, daß sie Emilys Krankenakte durchgesehen und bereits mit Dr. Strickler über sie gesprochen habe. Dann ließ sie einen kurzen Bericht über ihren beruflichen Werdegang und ihre Behandlungsmethode folgen, den sie herunterleierte, als würde sie ihn vom Blatt ablesen. Lauren, die beschlossen hatte, die Probleme, die ihr Emilys Benehmen bereiteten, allein anzugehen, hörte kommentarlos zu; es war Jonathan, der schließlich auf Emilys ablehnende Haltung ihr gegenüber zu sprechen kam.
»Also, ich hielte es wirklich für merkwürdig, hätte sie Sie einfach so in ihrem Leben akzeptiert. Sie nicht auch?« Die Frage war an Lauren gerichtet. Dabei krauste sie die Nase und schob dadurch ihre Brille in die Höhe, was ihrem Gesicht einen Ausdruck verlieh, der wohl ihre Verwirrung angesichts einer derart abwegigen Erwartung widerspiegeln sollte.
»Nun, ja, natürlich, und ich habe es eigentlich auch nicht erwartet ...«, sagte Lauren, unsicher stammelnd.
»Sie haben einen langen und schweren Weg vor sich, Mrs. Grant ... Es ist nicht unmöglich, das will ich gar nicht behaupten. Im Laufe der Zeit und mit viel Arbeit und Geduld werden Sie sicher auch Emilys Vertrauen erringen.« Jonathan wandte sich lächelnd an Lauren. »Siehst du, was habe ich dir gesagt, Liebling?«
Lauren, die sich sowohl von der Therapeutin als auch von Jonathan ziemlich von oben herab behandelt vorkam, nickte nur. Sie fühlte sich Emily sogar sehr verbunden, als diese schließlich ins Allerheiligste vorgelassen wurde und keinen allzu glücklichen Eindruck über die Vorgänge dort machte. Steif saß sie auf ihrem Stuhl, blickte hartnäckig an der Frau vorbei und sagte kein einziges Wort in den geschlagenen fünfzehn Minuten, die sie zusammen in dem Zimmer verbrachten.
»Vielleicht sollten wir doch noch andere Therapeuten konsultieren«, bemerkte Lauren zu Jonathan, nachdem sie wieder zu Hause waren, sich von Fern verabschiedet hatten und die Kinder in ihren Zimmern verschwunden waren.
»Wieso, was paßt dir nicht an dieser Frau?«
»Keine Ahnung, es ist schwer zu sagen. Vielleicht wäre ein etwas jüngerer Therapeut einfach besser für Emily «
»Was redest du da? Die Frau kann doch nicht älter als fünfunddreißig sein.«
»Na ja, dann eben jemand, der energischer, nicht so lasch und leblos ist. Ich habe einfach Schwierigkeiten, sie mir als jemanden vorzustellen, der fähig sein soll, den richtigen Ton bei einem Kind zu treffen. Ich bin sicher, wir finden jemanden, der besser geeignet ist als sie.«
»Aber du hast sie doch selbst ausgesucht, Lauren.«
»Ich weiß, aber nach einer fünfminütigen Unterhaltung mit ihrer Sekretärin. Jetzt, da wir sie persönlich kennengelernt haben – nun, vielleicht habe ich einfach die falsche Wahl getroffen.«
»Ich bitte dich, Lauren, deine Bedenken erscheinen mir wirklich etwas übertrieben. Meiner Meinung nach ist sie völlig in Ordnung. Meines Wissens hat sie auch schon andere Kinder behandelt, hat in Harvard promoviert und kann wirklich gute Referenzen vorweisen.«
»Emily hat sie jedenfalls nicht gemocht.«
»Was das betrifft, möchte ich bezweifeln, daß es überhaupt einen Therapeuten, tot oder lebendig, gibt, den Emily mögen würde. Ich kann mir vorstellen, daß sie die Nase gründlich voll von ihnen hat, einschließlich ihres Dr. Strickler. Und das ist auch nur zu verständlich. Dr. Greenly wird sich ihr Vertrauen erst erarbeiten müssen. Und ihr ist das auch klar.«
»Mir wohl nicht?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Es klang aber so.«
Er seufzte und nickte bedächtig, als würde er langsam bis zehn zählen. Dann erst blickte er wieder hoch. »Dr. Greenly ist ein Profi, da kann ich doch wohl erwarten, daß sie in solchen Dingen besonders sensibel ist. Wenn ich mit meiner Bemerkung etwas sagen wollte, dann wahrscheinlich das.« Als Lauren keine Antwort gab, fuhr er fort: »Schau, Lauren, mir ist klar, daß das kein Honigschlecken für dich ist, und es geht auch gerade erst los, Wie wäre es deshalb, wenn Beatrice doch öfter ins Haus käme? Sie ist immer gut mit Emily ausgekommen und könnte dir nach der Schule bei den Kindern eine Hilfe sein. Sie könnte dir die Last wirklich erleichtern.«
»Welche Last? Wir haben doch nur zwei Kinder, die beide noch dazu in der Schule sind.«
»Okay, es war auch nur ein Vorschlag. Aber ehe wir uns versehen, ist es Sommer, und dann mit zwei Kindern ... Ich will sie nichts ins Ferienlager oder sonstwohin abschieben.«
»Ich habe mir auch gar nicht vorgestellt, sie in ein Sommercamp zu schicken. Für mich ist das so völlig in Ordnung.«
»Da fällt mir noch etwas anderes ein. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich dich das frage, aber was hat das eigentlich mit diesen entsetzlichen Stiefeln auf sich?«
»Die sind nun mal modern, Jonathan ... und sie wollte sie unbedingt haben.«
Er drang nicht weiter in sie, und sie ließ das Thema ebenfalls auf sich beruhen. Dann würde es eben bei Dr. Greenly bleiben. Vielleicht war sie ja auch gar nicht so schlecht, wie es ihr im Moment noch erschien.
»Ich habe noch nie ein Zimmer ganz in Schwarz gesehen«, bemerkte Chelsea, als sie am nächsten Tag an Emilys Zimmer vorbeikam und feststellte, daß die Tür ausnahmsweise nicht geschlossen war. Auf der Schwelle blieb sie stehen und sah sich um. Der Schmuckbaukasten, den Daddy Emily geschenkt hatte, war achtlos auf ein Regal geworfen worden und noch immer in Zellophan verpackt. Chelsea wünschte sich, damit spielen zu können, wollte aber nicht fragen.
»Ich schätze, du hast überhaupt noch nicht viel gesehen«, erwiderte Emily. »Viele Filmstars haben ihre Häuser ganz in Schwarz eingerichtet.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben.«
»Mein Zimmer ist rosa und weiß kariert – wie eine altmodische Eisdiele. Willst du es sehen?«
»Warum sollte ich?«
Chelsea zuckte die Schultern; doch dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und stellte Emily die Frage, die sie ihr vom ersten Tag an hatte stellen wollen. »Warum willst du eigentlich keine Schwester haben?«
Emily schaute von dem Comic-Heft auf, in dem sie gerade las. »Habe ich gesagt, daß ich keine haben will?« Chelsea schöpfte kurzzeitig Hoffnung, nur um gleich darauf wieder einen Dämpfer versetzt zu bekommen. »Nur dich will ich nicht haben, das ist alles.«
Sie wollte Chelsea offensichtlich so weit bringen, daß sie heulend davonlief, aber den Gefallen tat sie ihr nicht. Statt dessen erwiderte das kleinere der beiden Mädchen so gleichgültig wie möglich: »Na, da bleibt dir wohl keine andere Wahl, weil ich es nun mal bin.«
»Nein, du bist doch bloß ein Eindringling.«
»Was ist das?«
»Jemand, der sich in das Leben anderer hineindrängt, obwohl er dort nichts zu suchen hat.«
»Und ob ich hier was zu suchen habe. Daddy hat das Gericht schon gefragt, ob er mich adoptieren kann.«
»Du lügst.«
»Es ist wahr.«
Emilys Miene nach zu schließen, hatte Chelsea ihre große Schwester mit ihrer Äußerung tatsächlich überrascht. Aber man merkte es Emilys Stimme nicht an, als sie gleichgültig sagte: »Wen kümmert das? Es ist auch nicht wichtig, was zählt, ist doch nur, daß du bis dahin schon längst tot sein wirst.«
»Das ist überhaupt nicht lustig.«
»Hört es sich vielleicht an, als wollte ich lustig sein? Es ist ganz einfach, ein Kind zu töten, auch nicht schwerer, als einen Frosch umzubringen. Hast du schon mal einen Frosch umgebracht, Goldköpfchen?« Chelsea schüttelte den Kopf. »Tja, ich schon. Ich habe ihm den Kopf mit einem Klappmesser abgeschnitten ... Da kam vielleicht viel grüner Schleim raus. Aber das wirklich Tolle daran war, daß die ganze Zeit über seine Augen offen waren und er seine eigene Exekution mit angeschaut hat.«
Chelsea spürte, wie sich ihr die Haare aufstellten. »Du bist widerlich.«
»Ich erzähle dir nur Dinge, die du unbedingt wissen solltest. Dafür hat man doch eine große Schwester, oder nicht?« Als Chelsea ihr keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Ich mache mir zum Beispiel wirklich Sorgen um dich und deine Mutter. Ihr gehört nämlich nicht in dieses Haus.«
»Du redest doch nur so daher. Du machst mir keine Angst.« »Nein? Hat dir schon mal jemand erzählt, wie meine Mutter ermordet wurde?« Als keine Antwort kam, fügte sie hinzu: »Man hat ihr immer wieder mit dem Baseballschläger auf den Kopf gehauen.«
Chelsea hielt den Atem an. »Ich dachte, du könntest dich nicht mehr daran erinnern.«
Emily runzelte die Stirn und streckte ihren Zeigefinger in die Höhe. »Warte mal, da könntest du tatsächlich recht haben. Aber, was meinst du, Chelsea, vielleicht hat sich ja mitten in der Nacht, während ich schlief, jemand in mein Zimmer geschlichen, um es mir zu verraten?«
»Das ist mir doch egal«, erwiderte Chelsea und verließ schnurstracks das Zimmer. Sie wußte nicht so recht, worauf Emily hinauswollte, sie begriff nur, daß sie den Mord an ihrer Mutter offenbar als Lappalie abtat. Warum hatte es nur von all den Schwestern, die sie hätte bekommen können, ausgerechnet diese sein müssen?
In der Woche darauf erschien allen die ziemlich angespannte Stimmung im Haus schon fast als Normalität. Nur Beatrice schien sich wirklich zu freuen, als sie Emily begrüßte, doch Emily begegnete ihrer Herzlichkeit nur mit kalter Höflichkeit. Chelsea wurde von Emily weiter eingeschüchtert, und Lauren behandelte sie wie Luft, nur wenn Jonathan in der Nähe war, hielt sie sich weitgehend zurück. Jonathan war immer auf Emilys Seite, und Lauren hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, auch noch die andere Wange hinzuhalten, ein Spiel, das sie früher einmal nicht besonders gut beherrscht hatte.
»Was meinst du, wieso war ich als Kind ein solcher Teufelsbraten?« wollte Lauren eines Tages von Fern wissen. Sie hatte angefangen, sich als Amateurpsychologin zu betätigen, um so vielleicht Emilys Verhalten in den Griff zu bekommen.
Fern mußte erst ein paar Sekunden überlegen, ehe sie antwortete. »Ich war immer der Ansicht, daß dahinter nur dein Wunsch nach einem Vater steckte: Dich nach außen hin so hart und kühn und verwegen zu gebärden war wohl deine Art, gegen den Schmerz, vielleicht auch gegen die Angst anzukämpfen. Mutter war allerdings nicht sehr angetan von meiner Analyse. Sie hielt das Ganze für sinnlosen Psychokram. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja recht. Aber andererseits, hätte sie meine Ansicht geteilt, hätte sie damit zugegeben, daß auch sie nur ein Mensch war und daß trotz ihrer Fähigkeiten als Mutter eine Riesenlücke in deinem Leben klaffte.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Wieso fragst du?«
»Ach, ich habe mir nur so meine Gedanken gemacht«, erwiderte Lauren. Gab es da vielleicht eine Übereinstimmung? Lauren hatte sich offensichtlich verzweifelter, als sie es in Erinnerung hatte, ihren Vater, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, zurückgewünscht. Und wie war es bei Chelsea? Trotz aller Liebe, die sie von Lauren und Fern bekam, wich sie Jonathan nicht mehr von der Seite, wenn er zu Hause war. Bei Emily lag der Fall natürlich anders. Sie sehnte sich nach ihrer Mutter.
An dem Tag, an dem Lauren die goldene Halskette, die Jonathan ihr geschenkt hatte, nicht mehr fand, konnte sie die andere Wange nicht mehr hinhalten. Sie wußte ganz genau, daß sie die Kette am Abend zuvor auf die Kommode im Ankleidezimmer gelegt hatte, und als sie sie nun holen wollte, war sie verschwunden. Sie zerlegte das ganze Zimmer, durchsuchte alle Schubladen, den Schrank, suchte auf dem Fußboden, sogar im angrenzenden Schlafzimmer. Sie fragte auch Chelsea, aber sie hatte sie nicht gesehen.
Schließlich klopfte sie an Emilys Tür, obwohl sie Angst vor einer unangenehmen Konfrontation hatte. Lauren war nicht mehr in Emilys Zimmer gewesen, seit sie die neuen schwarzen Vorhänge aufgehängt hatte, und prallte nun entsetzt zurück, als sie die Apfel- und Bananenschalen, die leeren Saftflaschen, die Tüten mit angebissenen Keksen, die vielen Zettel und Bücher sah, die auf dem ganzen Bett und überall auf dem Fußboden herumlagen. Aber sie ließ sich dadurch nicht von ihrem Vorhaben abschrecken.
»Ich kann meine goldene Halskette nirgends finden«, sagte sie. »Die, die dein Vater mir geschenkt hat.«
»So?«
»Jetzt wollte ich mich erkundigen, ob du sie vielleicht gesehen hast.«
»Nein.« Emily zuckte herablassend die Schultern; Lauren stand hilflos da, blickte in ihre dunklen, kalten Augen und wußte im Grunde ihres Herzens genau, daß ihre Stieftochter die Kette hatte. »Tja, wenn das alles ist?« meinte das Mädchen schließlich und wollte die Tür wieder zumachen. Aber Lauren streckte die Hand aus und stoppte sie. »Emily, wenn du sie hast, dann will ich sie zurückhaben.«
»Hörst du schlecht, ich habe doch gesagt, daß ich sie nicht gesehen habe.« Mit einer Handbewegung deutete Emily auf ihren Schweinestall von Zimmer und sagte: »Aber du kannst gerne suchen. Vielleicht möchtest du in der Tüte mit Salzstangen nachsehen?«
»Wieso können wir beide nicht miteinander auskommen, Emily? Sag mir doch, was mache ich falsch?«
Emily wich ihrem Blick aus. »War’s das dann?« fragte sie.
Lauren schüttelte seufzend den Kopf. »Eigentlich nicht. Ich will, daß du dein Zimmer aufräumst.«
»Mir gefällt es so, wie es ist, aber wenn es dich so stört, dann kannst du es ja saubermachen, oder?«
»Da täuschst du dich gründlich«, erwiderte Lauren.
»Das ist aber schade. Dann bleibt dir wahrscheinlich keine andere Wahl, als zu meinem Vater zu gehen und mich zu verpetzen.«
Emily war es offenbar nicht nur egal, ob Lauren sich bei Jonathan über sie beschwerte, sie schien es sogar richtig herauszufordern, vielleicht um die Tatsache zu unterstreichen, daß Lauren nicht allein mit ihr fertig werden konnte. Um so mehr Grund, ihr diese Genugtuung nicht zu gönnen. »Damit er sich auch noch aufregt?« sagte sie deshalb. »Nein, danke, das werde ich ihm ersparen.«
»Dann beschwer dich eben nicht«, antwortete Emily. »Und jetzt noch einmal, ist das alles?«
Lauren drehte sich wortlos um und ging aus dem Zimmer; es gab nichts mehr zu sagen. Emily hatte mit Sicherheit die Kette genommen – wohin hätte sie sonst verschwinden sollen? Am nächsten Morgen, als die Mädchen in der Schule waren, ging Lauren nach oben und blieb zögernd an der Schwelle zu Emilys Zimmer stehen. Eigentlich wollte sie es gründlich durchsuchen. Aber nach einigen vergeblichen Anläufen ließ sie es wieder bleiben.
Sie war sich nicht einmal sicher, wieso. Lag es vielleicht an dem gräßlichen Geruch in dem Zimmer, der ihr auf den Magen schlug, oder war es ihre Hemmung, in die Privat-Sphäre eines anderen einzudringen? Möglicherweise war es auch die Angst, irgend etwas Schreckliches über ihre Stieftochter herauszufinden, so daß sie doch noch gezwungen wäre, zu Jonathan zu gehen. Und was die Unordnung in dem Zimmer anging – in ein paar Tagen würde ohnehin Beatrice kommen. Lauren würde ihr den Auftrag geben, Emily dazu zu bewegen, es endlich aufzuräumen.