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KAPITEL 3

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Das Abendessen verlief sehr wortkarg – zu wortkarg für Laurens Geschmack. Die Mädchen schienen sich draußen zwar recht gut verstanden zu haben, aber im Augenblick war nichts mehr davon zu spüren. Emily sprach kein Wort und stocherte nur lustlos in ihrer Lasagne herum.

Sobald das Essen vorbei war, entschuldigte Jonathan sich, da ihm ein geschäftlicher Anruf eingefallen war, den er unbedingt noch erledigen mußte, und Lauren schickte Chelsea schon mal nach oben ins Bad. Emily wollte aufstehen, aber Lauren griff über den Tisch und legte ihr die Hand auf den Arm. »Bleib doch noch ein paar Minuten sitzen und unterhalte dich mit mir«, sagte sie. Emily entzog sich rasch ihrer Berührung, blieb aber auf ihrem Stuhl sitzen.

»Was gibt’s?«

»Was soll es geben? Ich dachte nur, wir könnten vielleicht miteinander plaudern, das ist alles.« Als Emily keine Antwort gab, sagte Lauren das erste, was ihr in den Kopf kam. »Ich könnte mir vorstellen, daß du dich schon auf die Schule freust«, begann sie. »Daß du ein paar von deinen Freunden wiedersiehst, mit denen du aufgewachsen bist.«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

»Oh. Na ja, ich schätze, du hattest noch keine Zeit, dir überhaupt viele Gedanken zu machen. Ich meine, da ist so vieles und so schnell passiert.« Emily schaute sie an, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, worauf Lauren hinauswollte. »Ich meine damit deine Entscheidung, wieder nach Hause zu kommen, die ja ziemlich überraschend war. Nicht daß ich mich darüber beklagen möchte. Selbstverständlich nicht ... Wir waren ja alle so aufgeregt und ganz gespannt, als wir davon erfuhren. Dein Vater liebt dich nämlich sehr. Er hat so lange darauf gewartet, daß du wieder heimkommst. Aber das muß ich dir wohl nicht erzählen ...«

Schließlich verstummte sie; sie hatte das Gefühl, nichts als Unsinn zu reden, und sie wünschte sich, sie hätte einen besseren Text vorbereitet. Aber da keine Hilfe in Sicht war, improvisierte sie weiter. »Ich konnte es selbst kaum erwarten, Emily, ich wollte dich wirklich endlich kennenlernen.«

»Wieso?«

»Eine berechtigte Frage«, entgegnete Lauren. »Ich schätze, zuerst nur wegen deines Vaters. Ich liebe ihn sehr, und da du der wichtigste Mensch in seinem Leben bist, ist es doch nur natürlich, daß du auch für mich wichtig bist.«

»Du verschwendest deine Zeit besser nicht mit mir.«

»Was soll das heißen?«

»Das hörst du doch. Ich habe eine Mutter. Sie war vielleicht nicht gerade die beste aller Mütter, aber sie war meine Mutter. Und ihre Lasagne war besser als die Pampe, die du uns zum Abendessen aufgetischt hast.«

Lauren weigerte sich, den Köder zu schlucken. »Ich hatte nicht die Absicht –«, setzte sie an, kam aber nicht mehr weiter, denn plötzlich zuckte Emilys Hand über den Tisch und fegte den Teller auf den Boden, wo er in tausend Scherben zerbrach. Dann stand Emily auf und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Halt, warte mal einen Moment«, rief Lauren ihr nach, aber Emily ging einfach weiter und hätte das Zimmer auch verlassen, wäre sie nicht unter der Tür mit Jonathan zusammengestoßen. Als er das kummervolle Gesicht seiner Tochter sah, legte er ihr beide Hände auf die Schultern. »Hey, ist hier irgend etwas passiert?« Aber sie hob weder den Kopf, um ihn anzuschauen, noch würdigte sie ihn einer Antwort, und so wandte er sich mit seiner Frage an Lauren. »Okay, vielleicht kannst du mich ja aufklären.«

Lauren deutete auf das zerbrochene Porzellan und auf die kalte Tomatensauce auf den Fliesen. »Ich hätte es nur gerne, wenn sie die Schweinerei, die sie veranstaltet hat, wieder wegputzt. Sie hat es schließlich absichtlich getan.«

Jonathan drehte sich zu Emily um und fragte sie mit ruhiger, sanfter Stimme: »Stimmt das, hast du es mit Absicht getan?« Das Mädchen schüttelte den Kopf, sah ihn dabei aber nicht an. »Nein, es war ein Versehen.«

Er nickte, Erleichterung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, und er sagte: »Wie es scheint, handelt es sich hier um ein Mißverständnis. Also, geh und mach, was immer du gerade machen wolltest, und überlaß es deinem Daddy, hier aufzuräumen, okay?«

Emily rannte davon, und Lauren blitzte ihren Mann wütend an. »Aber sie hat es mit Absicht getan, Jonathan.«

»Sie behauptet, es war ein Versehen, und du behauptest, es sei Absicht gewesen. Besteht die vage Möglichkeit, daß du nicht richtig hingeschaut hast? Vielleicht kam es dir nur so vor, als hätte sie den Teller geschoben, aber in Wirklichkeit ist ihr einfach die Hand ausgerutscht und hat den Teller versehentlich vom Tisch gestoßen?«

Lauren überlegte; sie war fast hundertprozentig sicher, gesehen zu haben, wie sich Emilys Hand bewegte, aber konnte sie deshalb wirklich daraus schließen, daß es kein Versehen war, wie Jonathan meinte? »Und außerdem«, fuhr er fort, »ist es die Aufregung wirklich wert? Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, Lauren, aber mir gefällt die Vorstellung überhaupt nicht, daß eines der beiden Mädchen zerbrochenes Geschirr vom Boden aufputzt.« Er ging zum Küchenschrank und holte Kehrschaufel und Besen heraus, aber sie nahm ihm beides aus der Hand.

»Ist schon in Ordnung, ich mache den Boden sauber.«

»Bist du sicher?«

Sie war sich sicher, und Jonathan kehrte ins Wohnzimmer zu seiner Zeitung zurück, während Lauren die Scherben aufkehrte, den Boden putzte und anschließend die Geschirrspülmaschine belud. Nachdem sie das erledigt hatte, ließ sie sich auf den Hocker neben dem Wandtelefon sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus; sie gab es nur ungern zu, aber Jonathans Argumente waren überzeugend gewesen. Sie streckte die Hand aus, nahm den Hörer vom Haken und wählte Ferns Nummer.

»Hilfe«, meldete sie sich in einem schwachen Versuch, humorvoll zu klingen, als ihre Schwester abhob. Selbstverständlich hatte sie mit Fern mögliche Probleme diskutiert, die Emilys Heimkehr mit sich bringen könnte, noch ehe sie überhaupt gewußt hatten, daß sie tatsächlich entlassen werden würde. So war Fern jetzt genau die Richtige, um sich bei ihr auszuheulen.

»Was ist los?«

»Ach, nichts, zumindest nichts, womit ich nicht schon gerechnet hätte. Sie ignoriert mich und macht mir deutlich klar, daß sie nichts mit mir zu tun haben will. Sie hatte ja eine Mutter, und zwar eine recht gute, allen Berichten nach zu schließen, und hat jetzt keine Lust auf irgendwelche schlechten Imitationen. Vor allem nicht auf eine, die nicht einmal eine anständige Lasagne zustande bringt. Und damit das auch ganz klar war, hat sie mir gleich den ganzen Teller voll vor die Füße geworfen.«

»Du solltest nie vergessen, daß dieses Mädchen sehr verletzt wurde und es nicht böse meint.«

»Du hörst dich ja schon an wie Jonathan«, knurrte Lauren.

»Tja, ich war zwar selbst nie Mutter, aber immer eine große Schwester. Und ich weiß noch ganz genau, wie du Mutter immer die Wände hochgejagt hast. Du warst nicht so leicht zu haben, wie Chelsea das ist. Du hattest des öfteren deine – wie Mutter und ich es immer beschönigend ausdrückten –, deine Temperamentsausbrüche; du wurdest sehr schnell wütend und hattest ein ziemlich loses Mundwerk, wenn du der Meinung warst, es sei gerechtfertigt.«

»Ach, jetzt komm schon, ich kann mich nicht erinnern, so schlimm gewesen zu sein.«

»Lauren, wenn du alle die bösen Dinge ernst gemeint hättest, die du Mutter an den Kopf geworfen hast, dann wärst du vielleicht auf Riker’s Island oder in sonst einer Besserungsanstalt gelandet. Weißt du noch, wie du mit zwölf Jahren eines Abends aus dem Haus bist, um mit irgendeinem Kerl, der mindestens schon neunzehn war, um die Häuser zu ziehen? Dazu hattest du dich mit einem schulterfreien Kleid aus schwarzem Satin ausstaffiert, das du dir von der älteren Schwester einer Freundin in der Straße geliehen hattest.«

Offensichtlich hatte sie schon damals eine Schwäche für ältere Männer, überlegte Lauren. »Das soll ich getan haben?« fragte sie.

»Hast du das vergessen? Mein Gott, wie praktisch.«

»Na ja, jetzt, da du mich daran erinnerst, und wenn ich so darüber nachdenke, dann kommt mir die Geschichte tatsächlich bekannt vor. Himmel, im selben Alter, in dem Emily jetzt ist. Ich bin entsetzt.«

»Also, hab etwas Geduld mit dem Mädchen.«

Obwohl es nichts Neues war, was sie zu hören bekam, schien es gerade deshalb Sinn zu machen, weil es von Fern kam. Natürlich würde alles seine Zeit brauchen, und ihr blieb auch keine andere Wahl, als Geduld zu zeigen. Beziehungen ereignen sich nicht einfach, man muß hart an ihnen arbeiten. Lauren machte deshalb ihrer Enttäuschung auch später nicht Luft, als sie an Emilys Zimmer vorbeikam und entdecken mußte, daß die apfelgrün und weiß gestreiften Vorhänge und der passende Bettüberwurf in einem schlampigen Haufen vor der Tür auf dem Boden lagen.

Sie bückte sich wortlos, sammelte die vielen Meter Stoff ein und schaffte sie erst mal beiseite, um sie später endgültig aufzuräumen. Nein, leicht würde das bestimmt nicht werden. Und im gleichen Moment wurde ihr bewußt, daß sie eigentlich nicht das geringste über die Vorlieben und Abneigungen ihrer Stieftochter wußte – einmal abgesehen von Lasagne und Obsttörtchen. Was machte sie glücklich, traurig, aufgeregt?

Oder gar zornig?

Am Sonntag war es kalt und graupelig, so daß sie im Haus blieben; Lauren bemühte sich sehr, Jonathan und die Kinder für eines ihrer vielen Brettspiele zu interessieren, aber sie konnten sich nicht dazu aufraffen. Nach dem Mittagessen kam ein Anruf für Jonathan, den er im Arbeitszimmer entgegennahm. Als er damit fertig war, blieb er gleich dort sitzen und arbeitete an ein paar Straßenplänen für die Gemeinde. Die beiden Mädchen, die sich offensichtlich aus dem Weg gingen, verschwanden in ihren jeweiligen Zimmern und ließen Lauren allein und ratlos zurück. Ihre Laune besserte sich erst wieder, als die Sprechanlage Gesellschaft ankündigte. Lauren eilte in die Küche und schaltete den Überwachungsmonitor an.

»Ich bin’s, ich habe leider meine Mitgliedskarte vergessen«, rief eine fröhliche Stimme. »Laß die Zugbrücke herunter.«

Lauren grinste – Fern verlegte doch wirklich immer ihre Magnetkarte, mit der sie Zutritt zum Grundstück hatte, und nicht nur die. So öffnete sie jetzt das Tor und ließ Fern herein. Jonathan, der noch im Arbeitszimmer war, rief sie kurz zu: »Liebling, Fern ist gerade gekommen.«

»Schön. Es dürfte uns allen nicht schaden, wenn etwas Leben in die Bude kommt. Ich habe zwar noch ein paar Stunden Arbeit vor mir, aber laß doch mal deine Überredungskünste spielen und bringe sie dazu, daß sie zum Essen bleibt.«

Sie mußte sie gar nicht lange überreden; Fern hatte den ganzen Vormittag über alle möglichen Anwesen hergezeigt, aber ihr einziger Termin für den Nachmittag hatte abgesagt, und so war sie frei für den Rest des Tages. »Auf dem Weg hierher«, sagte sie mit einem Blick auf ihre üblichen großen Einkaufstüten (dieses Mal eine von Lord & Taylor), »bin ich zufällig am Einkaufszentrum vorbeigekommen und habe ein paar Sachen für die Mädchen gesehen ...«

»Oh, wie schön, ein Geschenk für mich«, zog Lauren sie auf.

»Soll das heißen, daß du ein Haus verkauft hast?«

»Du bist einfach unverbesserlich«, meinte Fern tadelnd und schüttelte den Kopf. »Ich habe damit natürlich Chelsea und Emily gemeint, nicht dich.«

Lauren ging zur Treppe, aber dann fiel ihr die Sprechanlage ein, und sie bog in die Küche ab. Auch wenn sie Fern deswegen aufzog, wußte Lauren doch ganz genau, daß ihre Schwester fast so schlimm wie Jonathan war, wenn es darum ging, allen möglichen Krimskrams für sie und Chelsea einzukaufen. Als sie nun vor dem Monitor in der Küche stand, schaltete sie Chelseas Zimmer ein und bekam umgehend den Ausschnitt auf dem Schirm zu sehen, den die Kamera abdeckte. »Juhu, irgend jemand da?« rief sie und hörte gleich darauf ein Rascheln, als Chelsea ins Blickfeld kam. »Hallo, mein Liebling, Tante Fern ist da. Komm doch runter und bring Emily mit.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, schaltete Lauren wieder aus, und keine Minute später kam Chelsea angelaufen und fiel Fern in die Arme. Emily hielt sich abseits und machte ein Gesicht, als wäre sie am liebsten überall, nur nicht in diesem Haus. »Emily, ich möchte dir meine Schwester Fern vorstellen«, sagte Lauren.

»Tante Fern«, verbesserte Emily sie.

»Ach, mach dir mal keine Gedanken wegen irgendwelcher Anreden«, warf Fern ein. »Du kannst mich nennen, wie es dir gefällt.« Und mit diesen Worten öffnete sie ihre Einkaufstüte und holte zwei Gürteltaschen heraus, beide aus einem eleganten, buntbedruckten Baumwollstoff.

Chelsea schnallte sich die ihre sofort um, bewunderte sie ausgiebig, öffnete dann den Reißverschluß und schob die Hand hinein, die mit einer großen, schwarz und grell pinkfarben gemusterten Haarspange wieder zum Vorschein kam. Sie befestigte sie in ihrem Haar und ging zu dem Spiegel über der niedrigen Kommode. »Oh, die gefällt mir, Tante, danke dir. Ein Mädchen in meiner Klasse hat auch so eine, nur daß die hier viel schöner ist. Woher hast du gewußt, daß ich mir genau so eine wünsche?«

»Ach, du kennst mich doch, ich kann die Gedanken kleiner Kinder lesen, während sie schlafen.«

Chelsea wandte sich an Emily und klärte sie auf. »Das stimmt gar nicht.«

»Mensch, danke für den Tip«, machte sich Emily über sie lustig, »ohne dich hätte ich das tatsächlich geglaubt.«

Aber wie es schien, wollte Chelsea sich nicht so leicht von Emily unterkriegen lassen. Sie deutete statt dessen auf die knallgrüne Spange, die Emily aus der Tasche herausgeholt hatte. »Wieso ziehst du deine nicht an?«

»Wieso kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Kram?«

»Was ist los? Bist du zu kahl für eine Haarspange?«

»Chelsea, hör auf damit!« ermahnte Lauren sie, verblüfft über den unvermuteten Seitenhieb.

Aber Fern sprang in die Bresche; sie ging zu Emily, nahm ihr die Spange aus der Hand und steckte sie vorne über der Stirn, wo die Haare etwas länger waren, fest. »Unsinn, das sieht doch gut aus. Schau dich mal im Spiegel an.«

»Wenn ich Lust dazu hätte, würde ich das schon selbst machen, blöde Kuh. Aber ich will nicht.« Mit diesen. Worten riß sich Emily die Spange vom Kopf, schleuderte sie zusammen mit der Hüfttasche auf den Boden und lief zur Tür.

Lauren brauchte einen Moment, um zu begreifen, welche Beleidigung das gewesen war. »Komm sofort zurück!« befahl sie ihr, und Emily blieb stehen. »Ich möchte, daß du dich auf der Stelle bei meiner Schwester entschuldigst.«

»Warum sollte ich? Sie hat doch selbst gesagt, daß ich sie nennen kann, wie ich will. Ist es meine Schuld, wenn mir blöde Kuh genau richtig vorkommt?« Dann stapfte sie die Treppe hinauf, und Lauren blickte ihr sprachlos hinterher; sie schämte sich für sie.

»Junge, wenn ich das gesagt hätte, hättest du mich schon längst umgebracht!« sagte Chelsea und stürmte ebenfalls wütend davon.

Sicher, sie hätte Chelsea bestraft, ihr vielleicht sogar den Hintern versohlt, aber Emily war älter, und außerdem hatte sie zu ihr ein ganz anderes Verhältnis als zu Chelsea.

»Vergiß es, so wichtig ist das auch wieder nicht«, meinte Fern später beschwichtigend. Sie versuchte offensichtlich, Emilys Verhalten zu entschuldigen, wie auch Lauren das am ersten Tag getan hatte. »Ich schätze, das war keine gute Idee mit diesen albernen Haarspangen. Kinder in diesem Alter sind doch überempfindlich, wenn es um ihr Äußeres geht.« Das stimmte, aber schließlich war es Emily selbst gewesen, die sich die Haare abgeschnitten hatte. Auf jeden Fall war ihr Benehmen unentschuldbar. Lauren spielte zwar mit dem Gedanken, sich an Jonathan zu wenden, um sich moralische Unterstützung bei ihm zu holen, wie sie auf diese Unverschämtheit reagieren sollte, aber sie haßte die Vorstellung, dabei zugeben zu müssen, daß sie allein nicht mehr weiterwußte.

Während des Abendessens brachte Fern das Gespräch auf das Haus in Candlewood Terrace. »Ach, könnt ihr euch so was vorstellen, das hätte ich doch fast vergessen!« rief sie, ließ Gabel und Messer sinken und wandte sich an Jonathan. »Ich habe eine Antwort auf die Anzeige für dein Haus bekommen.«

»Gut«, sagte er. »Erzähl weiter.«

»Er will es mieten, nicht kaufen, scheint aber echtes Interesse zu haben. Ich mußte ihm sogar versprechen, es an keinen anderen zu vermieten, ehe er es sich morgen ansieht.«

Jonathan nickte. Er war von Anfang an überzeugt gewesen, daß es bei der angespannten Wirtschaftslage schwer werden würde, das Haus in Candlewood Terrace zu verkaufen. Dazu kam Ferns Vermutung, daß potentielle Käufer immer abergläubisch reagierten, wenn sich in einem Haus eine Gewalttat abgespielt hatte. »Also, ich hoffe, es klappt«, sagte Jonathan. »Es wäre nicht schlecht, wenn es bewohnt wäre, bis sich der Markt wieder erholt und wir es verkaufen können. Die Miete wird zwar die Hypothek nicht abdecken, aber damit können wenigstens die Steuern und die laufenden Kosten bezahlt werden. Kann sich dieser Typ das Haus überhaupt leisten?«

»Er behauptet, auf dem Bausektor tätig zu sein. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde sein Einkommen überprüfen. Er heißt übrigens Gordon Cummings. Schon mal was von ihm gehört?« Jonathans Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen; er ließ seine Gabel sinken und machte einen äußerst überraschten Eindruck. Schließlich fragte ihn Fern: » Stimmt was nicht?«

Er schüttelte den Kopf und wandte sich ihr erneut zu. »Nein, nichts. Ich habe mir nur den Namen durch den Kopf gehen lassen. Wenn er tatsächlich in diesem Bereich tätig ist, und bei meinen vielen Verbindungen im Konstruktionsbereich – da sollte man doch meinen, daß ich ihn kenne, oder nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zuckte er die Schultern, nahm ein Brötchen aus dem Brotkorb und brach es in zwei Hälften. »Aber der Name sagt mir überhaupt nichts.«

»Tja, vielleicht ist der Grund der, daß er nicht aus der Gegend kommt. Er hat zwar erwähnt, daß Verwandte von ihm im Ort leben und daß er bereits ein paar Aufträge hier ausgeführt hat, aber eigentlich stammt er aus Saugerties.«

Saugerties lag fünfunddreißig Minuten weiter nördlich an der Autobahn nach New York. »Ich verstehe. Und was ist mit seiner richtigen Familie, ich meine, aus wie vielen Personen besteht die?«

»Er ist nicht verheiratet und kinderlos.«

Jonathan schob die Unterlippe vor. »Tatsächlich? Weiß er überhaupt, wie groß das Haus ist?«

»Also, in der Anzeige war von acht geräumigen Zimmern die Rede, aber das scheint ihn nicht abgeschreckt zu haben. Ich hatte zu Anfang dieselben Bedenken – aber jeder, wie er will. Für mich bedeutet zusätzlicher Platz nur zusätzliche Putzerei. Aber schaut euch doch nur euch selbst an – Lauren kann offensichtlich nicht leben ohne ihre elf Zimmer zum Putzen.«

»In dem Punkt muß ich dir voll zustimmen, und ich bin sicher, daß dir auch bereits aufgefallen sein dürfte, daß ich seit unserem Einzug versuche, sie dazu zu überreden, Beatrice täglich kommen zu lassen. Aber deine Schwester kann ziemlich stur sein. Sie behauptet, es mache ihr Spaß, sich um alles selbst zu kümmern.«

»So war sie immer schon«, erwiderte Fern. »Außerdem ist sie nicht daran gewöhnt, eine Haushälterin zu haben.«

Bei diesen Worten blickten Jonathan und Fern zu Lauren hinüber, die ihrer Unterhaltung jedoch nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Jonathan ahnte mit Sicherheit nichts davon, aber Laurens größte Angst war es, wenn sie zuviel Freizeit hätte, eines Tages als süchtige Dauerseherin vor dem Fernsehapparat zu enden.

Beatrice Barr, ihre Haushälterin, war eine umgängliche Frau mit langen, dünnen, mit Grau durchsetzten Haaren, die sie zu einem Knoten zusammengefaßt trug. Sie hatte bereits früher für Jonathan gearbeitet, war mittlerweile aber schon Ende Fünfzig, so daß Lauren trotz ihrer drahtigen Gestalt immer ein ungutes Gefühl dabei hatte, sich faul zurückzulehnen und eine Frau putzen zu lassen, die fast doppelt so alt war wie sie. »Das liegt nur daran, weil ich nicht glaube, daß es Beatrice jeden Tag mit dir aushalten würde«, zog sie Jonathan auf.

In gespielter Überraschung schlug er die Hände vor die Brust. »Wer – ich? Wieso, was tue ich denn?«

»Tja, laß mich mal überlegen, wie kann ich das am besten umschreiben?«

»Du mußt überhaupt nichts umschreiben – wir sind schließlich unter uns. Na los, was wartest du noch, schlag schon zu.« »Sag hinterher aber nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, erwiderte sie und wedelte mit dem Finger. »Mein Liebling, du bist einfach unglaublich pingelig.«

Er schüttelte den Kopf und fuhr mit der Hand gestikulierend durch die Luft. »Das ist purer Unsinn.«

»So? Dann werde ich dir jetzt ein paar Beispiele nennen«, entgegnete sie, und in dem Moment wurde ihr bewußt, daß sie dabei war, ihn tatsächlich mit einigen unbequemen Wahrheiten zu konfrontieren. »Fangen wir doch mit deiner Kleidung an: Deine schwarzen, feinen Anzugsocken dürfen nicht in derselben Schublade liegen wie deine billigen weißen Alltagssocken; die gesamte Unterwäsche muß gebügelt und exakt gefaltet werden. Und wenn in irgendeinem Hemd oder einer Hose auch nur ein Fältchen ist, geht das gute Stück sofort wieder in die Wäscherei zurück.«

Er zuckte die Schultern. »Okay. Ich bekenne mich schuldig in allen Punkten. Aber was ist daran so schlimm?«

»Man könnte es als leicht zwanghaft bezeichnen.«

»Warte, habe ich richtig gehört?« sagte er und wandte sich erst an Fern, dann wieder an Lauren. »Okay, bekenne, sag es deiner Schwester hier und jetzt ... Gott sei mein Zeuge, habe ich mich vielleicht jemals beschwert?«

»Worüber hättest du dich denn beschweren sollen?«

»Ist das vielleicht eine Antwort?«

Sie überlegte einen Moment und lenkte dann ein. »Na gut, aber wir sollten besser nicht vergessen, daß ich auch wirklich alles tue, um dich zufriedenzustellen.« Und zu Jonathans Gunsten mußte gesagt werden, daß er sich wirklich nur selten beschwerte. Aber da sie ein gutes Gespür für die Stimmungen ihres Mannes hatte, erkannte Lauren es jedesmal sofort, wenn er wütend oder frustriert war; da genügte bereits eine Veränderung in seiner Stimme oder eine Verhärtung seiner Miene. Und dann reagierte sie meist auch prompt darauf. »Aber ich habe doch gesehen, wie übellaunig und pedantisch du Beatrice gegenüber manchmal werden kannst«, bemerkte sie. »Ich fürchte also, ein zu häufiger Kontakt mit dir würde sie nur über Gebühr belasten.«

Er grinste sie breit an, beugte sich über den Tisch und küßte sie. »Solange ich diese Wirkung nicht auf dich habe, Liebling.« An Fern gewandt fuhr er fort: »Da wir gerade beim Thema sind ... überprüf doch bitte die Referenzen von diesem Cummings, wärst du so nett? Es würde mir nämlich gerade noch fehlen, wenn ich mein Haus an einen fragwürdigen Charakter vermiete, der Marihuana auf der Fensterbank pflanzt und jede Nacht stürmische Partys feiert.«

»Ich weiß, es ist schwer, Jonathan, aber hab doch bitte etwas Vertrauen«, zog Fern ihn auf. »Überlaß es zur Abwechslung doch mal einem anderen, sich den Kopf für dich zu zerbrechen.«

Dann wandte sich das Gespräch erneut dem Haus zu, und Laurens Gedanken schweiften wieder dorthin ab, wo sie zuvor gewesen waren – bei Emily und dem Problem, wie sie deren Verteidigungsmechanismus durchbrechen könnte. Ohne daß Emily es bemerkt hätte, hatte sie sie nämlich das ganze Abendessen hindurch beobachtet. Vor allem die Diskussion zwischen Fern und ihrem Vater über das Haus in Candlewood Terrace schien es dem Mädchen angetan zu haben.

»Vielleicht solltest du sie mal fragen, ob sie Probleme damit hat, daß ein Fremder in das Haus zieht«, schlug Lauren Jonathan an diesem Abend im Bett vor, nachdem sie ihm ihre Beobachtung mitgeteilt hatte.

»Und was dann? Wenn es so ist, sollen wir das Haus dann vielleicht leer stehen lassen?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Was willst du dann damit sagen? Schau mal, Schatz, es gibt viele Dinge, die zu einem Problem für sie werden könnten, aber sie wird sich damit auseinandersetzen müssen. Dafür sind wir doch da und ist in Zukunft ihr Therapeut da. Ich denke, du siehst Probleme, wo es gar keine gibt. Genießen wir doch einfach, daß sie endlich zu uns nach Hause gekommen ist. Okay?«

»Okay –«

»Hör ich da ein ›Aber‹ heraus?«

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte sie. »Ich habe nur gerade etwas überlegt.«

»Und?«

»Also, mir geht nicht mehr aus dem Kopf, wie sie ihre Mütze abgenommen und dich gefragt hat, wie dir ihr neuer Haarschnitt gefällt. Und ... ja, sie muß doch gewußt haben, daß es dir nicht gefällt. Richtig?«

» Nicht unbedingt.«

»Ich dachte, eigentlich schon.«

»Worauf willst du hinaus? Daß sie mich ärgern wollte?«

»Also, das ist doch möglich, oder etwa nicht?«

»Aus welchem Grund?«

»Weil du mich geheiratet hast, deswegen.«

Er seufzt tief und meinte schließlich: »Würdest du mir bitte erklären, was das alles soll? Erst regst du dich auf, weil sie auf dich wütend ist, dann regt es dich auf, daß sie auf mich wütend ist. Was soll das, willst du mich gegen meine eigene Tochter aufhetzen, oder was soll das werden? Oder vielleicht willst du damit ja auch andeuten, daß sie wütend auf mich ist, weil ich nicht da war, um sie und ihre Mutter zu beschützen.«

»Selbstverständlich nicht, das war ganz und gar nicht meine Absicht! Ich meinte doch nur –«

Doch seine Miene hinderte sie am Weitersprechen, aber als sie draußen am Gang einen Schlag gegen die Wand hörten, blickten sie überrascht hoch. Die Tür stand einen Spalt offen, aber keiner von beiden hatte mitbekommen, daß sie aufgemacht worden war; jetzt hämmerte Emily mit dem Ellbogen gegen die Wand, um auf sich aufmerksam zu machen. Wie lange hatte sie bereits da draußen gestanden und gelauscht? »Hallo, Prinzessin, was ist los?« fragte Jonathan, stand auf und ging zu ihr hin.

»Ich kann nicht schlafen«, antwortete sie.

Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Ich habe eine Idee. Ich begleite dich jetzt, und dann bringt dich dein alter Herr ins Bett und erzählt dir eine der berühmten Grantschen Gutenachtgeschichten. Kannst du dich noch an Emily im Spiegel erinnern?« Emily lächelte unsicher; es war das erste Mal, daß Lauren sie überhaupt lächeln sah, fast so, als habe die Erwähnung der Geschichte tatsächlich etwas in ihr wachgerufen. »Du bist doch noch nicht zu alt dafür, oder?« Sie schüttelte den Kopf; während Jonathan in seinen Bademantel schlüpfte, drehte Emily sich zu Lauren um, und schlagartig verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht. Was sollte sie daraus schließen – daß sie sie haßte? Daß sie das Gespräch zwischen ihr und Jonathan mit angehört hatte? Und wenn schon Jonathan Laurens Gedankengang in den falschen Hals bekommen hatte, was sollte Emily erst denken?

Ein Schritt vor, fünf Schritte zurück. Lauren hatte doch nur über den Zorn des Mädchens reden wollen, gegen wen er gerichtet war und wieso, und darüber, wie sie beide Emily vielleicht besser helfen könnten. Doch offensichtlich war ihre gute Absicht nicht als solche angekommen. Besonders getroffen hatte Lauren Jonathans Bemerkung, daß sie einen Keil zwischen Vater und Tochter treiben wolle. Das und das Wissen, daß Jonathan sich immer noch verantwortlich für das Schreckliche fühlte, was Nancy und seiner Tochter zugestoßen war.

Ihre Absicht, zu helfen, hatte genau das Gegenteil bewirkt und nur wieder alte Wunden aufgerissen. Sie startete einen weiteren Versuch, ihre Beweggründe zu erklären, als Jonathan zwanzig Minuten später wieder ins Bett zurückkam, aber das machte die Sache nur noch schlimmer – er verstummte vollends, drehte sich von ihr weg und schlief schließlich unversöhnt ein.

Lauren war jetzt klar, wie sensibel Jonathan auf alles reagierte, das mit Emily zu tun hatte. Aber statt darauf einzugehen, wenn nötig auch zu streiten und die Probleme aus der Welt zu schaffen – was das Leben für alle Beteiligten wahrscheinlich einfacher gemacht, mit Sicherheit aber den Konflikt eher beendet hätte –, reagierte Jonathan, wie er es oft tat, und entzog sich der Auseinandersetzung. Sein Schweigen ließ Lauren zwar oft wünschen, einfach laut loszuschreien, aber sie konnte nichts dagegen tun.

Trotz allem hatte seine Methode auch ihre guten Seiten, auch wenn sie das sich selbst nur widerwillig, Jonathan gegenüber jedoch nie zugegeben hätte. Wenigstens hatten sie so die Möglichkeit, sich in Ruhe den Standpunkt des anderen zu überlegen. Und genau das tat Lauren am nächsten Morgen, während sie das Haus saubermachte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war Jonathan völlig im unklaren gewesen, ob Emily jemals wieder nach Hause käme oder je wieder mit einem Menschen, geschweige denn mit ihm, spräche, und jetzt, da sie zu Hause war, wollte er sich natürlich voll und ganz auf die positiven, nicht auf die negativen Seiten konzentrieren.

Und obwohl er am Abend zuvor wortlos und zornig eingeschlafen war und am Morgen darauf in ebensolcher Stimmung das Haus verlassen hatte, fühlte Lauren sich wieder besser, als sie die Liste der Psychiater durchtelefoniert hatte. Nachdem sie erst mit den Sprechstundenhilfen geplaudert und sich auch die jeweilige Lage der Praxis auf dem Stadtplan genau angesehen hatte, kam sie zu dem Schluß, nicht zuletzt auch wegen Emilys Alter, daß eine Ärztin die bessere Wahl wäre. So verabredete sie für den folgenden Abend einen Termin mit Dr. Penelope Greenly, mit der Therapeutin, auf die sie bereits Jonathan aufmerksam gemacht hatte.

Fern hatte am Abend zuvor ihre Aktentasche bei ihnen vergessen, und Lauren rief sie deswegen an. Während des Gesprächs mit ihr fragte sie, ob sie nicht am nächsten Tag abends auf Chelsea aufpassen könne, während sie, Jonathan und Emily sich mit Dr. Greenly trafen. Fern war einverstanden, und Lauren beendete zufrieden das Gespräch. Danach ging sie ins Wohnzimmer, wo Emily sich im Fernsehen Zeichentrickfilme ansah. »Zieh dir etwas Nettes an, wir wollen einkaufen gehen.«

»Ich brauche aber nichts.«

»Na ja, vielleicht fällt dir ja unterwegs etwas ein«, erwiderte Lauren, ohne auf den erbärmlichen Zustand ihrer Garderobe näher einzugehen. »Mir fallen da auf Anhieb zwei Dinge ein, nämlich Vorhänge und ein Bettüberwurf für dein Zimmer. Dieses Mal suchst du sie aus. Okay?«

Sie hätte es wissen müssen, aber was Emily betraf, befand sie sich immer noch am Anfang ihres Lernprozesses. Emily erklärte nämlich ihr und den versammelten Verkäuferinnen in der Betten- und Bäderabteilung bei Macy’s, daß Schwarz ihre Lieblingsfarbe sei – Streifen, Karos oder irgendwelche Muster könnten ihr gestohlen bleiben. Erst als eine der Verkäuferinnen ihr ein paar Kissen mit schwarzweißem Art-déco-Muster zeigte und dazu einen bunten Baumwollteppich vorlegte, erschien ihre Wahl akzeptabel.

Nach langem, gutem Zureden brachte Lauren Emily schließlich auch noch dazu, sich ein paar T-Shirts auszusuchen, während sie für Röcke oder Kleider nicht einen Blick übrig hatte. Deshalb wählte Lauren zusätzlich zu zwei Paar Schlabberjeans, einer Jeansjacke, einem Rucksack und allen möglichen Schulsachen noch Röcke, Kleider und Unterwäsche aus mit der Bitte, ihr das Ganze nach Hause zu liefern. Den größten Streit gab es jedoch um die Schuhe. Sie konnten sich zwar sofort auf ein Paar Turnschuhe von Reebok einigen, aber vor Emilys Augen fand keines der anderen Paare Gnade, die die Verkäuferin ihr hinstellte; sie gab vielmehr deutlich zu verstehen, daß außer den braunen, hohen, geschnürten Springerstiefeln keines davon für sie in Frage käme.

»Dein Vater wird sie schrecklich finden«, meinte Lauren.

»Das ist mir egal, ich will sie haben«, erwiderte Emily, nicht gewillt, auch nur einen Millimeter nachzugeben. Laut Auskunft der Verkäuferin waren zwar Springerstiefel, knöchelhohe Turnschuhe und Bergstiefel mega-in bei jungen Mädchen, aber Lauren fand sie trotzdem häßlich; doch schließlich gab sie nach. Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatten, legten sie bei Friendly’s eine Mittagspause ein; hätte Lauren jemand die Frage gestellt, wie der Tag denn bisher so gelaufen sei, hätte sie begeistert davon erzählt. Doch der Tag war noch nicht vorbei. Denn kaum hatten sie ihre Bestellung aufgegeben und Lauren ihre Serviette auf ihrem Schoß ausgebreitet, als Emily aus heiterem Himmel verkündete: »Du wirst nie meine Mutter sein, sollst du wissen.«

Wieder war Lauren kalt erwischt worden, doch dieses Mal hatte sie sich im Vorfeld bereits länger Gedanken zu diesem Thema gemacht, so daß ihr die Antwort auch im Schlaf eingefallen wäre. »Wie ich dir schon gestern erklären wollte, Emily«, setzte sie an, »versuche ich erst gar nicht, die Stelle deiner Mutter einzunehmen. Aber ich bin deine Stiefmutter. Ich bin zwar nicht ganz sicher, was das im einzelnen heißt, ich war nämlich noch nie zuvor in dieser Situation, so daß ich wahrscheinlich ebenso unsicher bin wie du.« Sie hob ihr Wasserglas, trank einen Schluck und stellte es wieder hin. »Ich denke mir aber, daß immer alles davon abhängt, wie die beteiligten Personen mit neuen Situationen umgehen, was sie in eine Beziehung investieren, was sie herausbekommen wollen. Ich sehe aber keinen Grund, weshalb wir das nicht in den Griff bekommen und wieso wir nicht versuchen sollten, zwischen uns eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen, die ganz uns allein gehört.«

»Doch, es gibt einen Grund.«

»Tatsächlich? Und welcher wäre das?«

»Ich habe keine Lust dazu.«

Lauren biß sich auf die Unterlippe und bemühte sich, sich nicht von Emilys negativer Einstellung anstecken zu lassen.

»Warum nicht?«

»Ich mag dich nicht.«

»Du kennst mich ja nicht einmal, deshalb ist es nicht fair, eine solche Entscheidung so schnell zu treffen.«

»Ich kenne dich für meine Zwecke gut genug. Und du bist die völlig falsche Frau für meinen Vater.«

»Könntest du das vielleicht näher erklären?«

Emily wartete, bis die Kellnerin die Teller vor sie hingestellt hatte – Thunfischsandwiches für beide und zusätzlich Pommes frites für Emily. »Du läßt dich von meinem Vater herumdirigieren.«

»Das stimmt nicht.«

»Doch, es ist so, du bist nur zu dämlich, es zu sehen. Du wirst ihm letzten Endes nur weh tun.«

»Diese Vermutung ist nicht gerade schmeichelhaft für mich«, entgegnete sie, wütend natürlich, aber auch gerührt von Emilys offensichtlichem Bedürfnis, ihren Vater zu beschützen. »Emily, ich würde deinem Vater doch nie weh tun. Dafür liebe und respektiere ich ihn viel zu sehr. Ich will ihn nur glücklich machen.«

»Klingt toll, aber ich glaube es nicht. Du bist nicht stark genug für diesen Job.«

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Hör mal, ich versuche doch nur, dich zu warnen, Lauren. Wenn du klug bist, dann packst du deine Sachen zusammen, nimmst deine doofe Tochter und verschwindest. Denn wenn du das nicht machst, wirst es dir leid tun.«

Lauren spürte, wie ihr Herz schneller schlug, was nicht nur an dem Ernst des Tonfalls, sondern auch an der Ungehörigkeit der übermittelten Botschaft lag. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, das war eine Drohung.«

Aber ihre Worte fanden kein Gehör, offenbar war Emily losgeworden, was sie hatte loswerden wollen. Und als ob nichts Beleidigendes zwischen ihnen vorgefallen wäre, nahm sie ihr Thunfischsandwich in die Hand und biß genüßlich hinein.

Der Fremde in meinem Haus

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