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Sonntag, 31. Juli

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Sie kommt tatsächlich.

Bereits seit kurz nach halb drei steht mein Wagen absichtlich im vorderen Bereich des Parkstreifens, damit er leicht zu sehen ist, wenn man von Falkenstein her den Waldweg erreicht. Erwartung und eine ungeahnte Spur Aufregung haben mir daheim keine Ruhe gelassen.

Frau Sandner kommt einige Minuten nach drei. Sie sitzt etwas vorgebeugt, suchend in einem beigemetallicfarbigen Vectra GTS der letzten Serie mit Schrägheck und markanten Spoilerkanten unter den Stoßstangen; meiner Meinung nach ein gutes Auto mit gefälligem Aussehen und solider Technik. Allerdings mit dem Makel, ein Opel zu sein. Sie rollt im Schritttempo an meinem BMW vorbei, stoppt etwas weiter oben und setzt in schwungvollem Bogen zurück in eine Lücke zwischen zwei Autos auf der gegenüber liegenden Seite.

Sie sieht nach Freizeit aus, trägt eine leichte, hellblaue Sommerjeans und eine mit bunten Blumen bedruckte kurzärmelige Bluse, dazu blaue Schuhe mit weißen Streifen, wie Tennis- oder Jogging-Schuhe. Als sie aussteigt, zögert sie einen Augenblick. Sie öffnet die hintere Tür, holt ein leichtes rot-grün-kariertes Jackett heraus und zieht es über. Hier im Wald ist die Luft zwar angenehm, aber kühler als in der Stadt. Frau Sandner schließt ihren Vectra ab, steckt den Schlüssel in die linke Jeanstasche und geht schräg hinüber zu meinem Wagen. Da sie unter dem Schatten der Bäume niemanden davor oder darin sehen kann, hält sie ihre Hand wie ein Lichtschild an die Stirn und beugt sich gegen die Scheibe auf der Beifahrerseite.

„Das letzte Mal, als sich jemand an dem Wagen zu schaffen gemacht hat, ging es gar nicht gut aus. Hoffentlich wird das heute anders,“ verkünde ich und trete hinter dem Baum hervor, von wo aus ich sie beobachtet habe.

„Dann sollten wir vielleicht besser gleich die Polizei rufen,“ antwortet sie und zieht die Augenbrauen hoch in Richtung Lächeln.

„Und ich sage Ihnen: Die ist manchmal schneller zur Stelle als man glaubt. Hallo Frau Sandner, schön Sie zu sehen.“

„Tag, Herr Berkamp. Ich dachte mir, da es nicht regnet ...“

Sie reicht mir die Hand, sieht erfreut, na ja, mindestens heiter, an mir vorbei. Oh, die Dame ist nervös. Dann sind wir schon zwei.

„Eh, das ist ja hübsch hier. Ich glaub’, ich bin schon ewig nicht mehr hier oben gewesen.“

Sie deutet mit der linken Hand weg vom Parkplatz.

„Ich nehme an, da geht ’s lang, da hoch?“

„Stimmt. Ich wusste übrigens, dass Sie kommen, Frau Sandner.“

„Ah ja. Und woher wussten Sie das? Haben Sie mich beschattet?“

Weil sie stehen bleibt, drehe ich mich zu ihr.

Ich muss loslachen.

„Das fehlte noch. Nein, meine Intuition hat ’s mir verraten.“

„Aha, Ihre Intuition. Schon wieder.“

Ihr wissender Blick wandert langsam an mir herab und verweilt unmissverständlich in der Gegend unterhalb der Gürtelschnalle meiner Jeans. Mit entwaffnend unschuldigem Augenaufschlag fragt sie:

„Und wo sitzt Ihre Intuition, hier etwa?“

Sie führt ihre linke Hand in Richtung ihrer Bauchgegend.

Ich schüttele grinsend den Kopf.

„Ne, das ist ’ne andere Art. Meine Intuition erscheint hier vor mir.“

Dabei bewege ich meine flache linke Hand kurz vor meiner Stirn kreisend hin und her. Zwei Sekunden lang sieht die Sandner mich an, als könnte sie erkennen, aus welcher Anstalt ich entflohen sein muss. Dabei habe ich nur ehrlich geantwortet.

Dann rucken ihre Stirnfalten etwas nach oben.

„Ja logisch! Völlig klar. Da oben, hätte ich eigentlich gleich draufkommen können“, zuckt sie mit der rechten Schulter und grinst kopfschüttelnd. „Nein, ungefähr so verrückt wie die Tatsache, dass wir uns hier treffen. Rein zufällig, natürlich.“

„Zufällig können wir bald wieder heimfahren, wenn wir hier noch länger stehen. Laufen in frischer Luft ist angesagt, Frau Sandner. Also, gehen wir?! Wenn wir Glück haben, sehen wie auch ein paar Monokatis. Die sollen sich ja seit einiger Zeit hier wieder angesiedelt haben.“

Sie bleibt erneut stehen.

„Monokatis, was ist das? Wie sehen die aus?“

Ich drehe mich wieder zu ihr.

„Ich weiß es nicht. Ich hab noch keine gesehen.“

Sie lachte los, kopfschüttelnd. Strahlende Augen und diese leicht und treffsicher wechselnde Mimik.

„Also, Sie sind unmöglich, Herr Berkamp. Bestimmt müssen Sie betteln gehen. Ich wette, wenn Sie Ihr Coachen genauso machen, laufen Ihnen die Kunden in Scharen davon.“

Allmählich verfallen wir in ein gleichmäßiges Gehen und verlassen den langgestreckten Parkstreifen.

„Von wegen. Lachen gehört dazu. Es hilft, Ängste zu überwinden und öffnet die Tür für neue Gedanken. Und ist nebenbei einfach gesund.“

„Eigentlich bin ich ja nur hier,“ erklärt sie gespielt abfällig, „weil Sie mir noch nicht verraten haben, was Sie mit Ihrem Klienten, diesem männlichen Stalking-Opfer, gemacht haben, erinnern Sie sich; wie Sie dem geholfen haben. Wenn Sie mögen, zumindest allgemein; oder verletzt das Ihre Berufsehre?“

Hallo, die Dame hat aufmerksam zugehört am Freitag.

„Ja, ja, kann ich Ihnen sagen, ohne in persönliche Einzelheiten zu gehen. Ich habe ihn seine Erfahrungen, Gedanken und Gefühle bezüglich der Frau, die ihn verfolgt hat, auf ein paar Blätter Papier schreiben lassen. Ohne mich.“

Was er geschrieben hat, habe ich nicht gelesen. Danach sind wir im Feld bei mir in der Nähe spazieren gegangen. Ich habe den Kunden gebeten, sich von den niedergeschriebenen Gedanken zu verabschieden; dann hat er die Blätter verbrannt. Das war ’s. Ein paar Tage später kam er noch einmal, und wir haben das Thema Vertrauen bearbeitet. Seine Ehefrau, die Ärmste, letztlich unbeteiligt, hatte verständlicherweise ziemliche Schwierigkeiten, das Stalking zu verstehen.

„Weil sie natürlich erst mal unterstellt hat, ihr Mann hätte etwas mit der fremden Frau.“

„Aufgeschrieben und verbrannt ... schön. Auf den Gedanken kommt man nicht von allein. Ob ich ... darf ich?“

„Das hängt davon ab, was Sie wollen, Frau Sandner.“

Sie stutzt, kichert in sich hinein.

„Mann, das mit dem Papier natürlich. Darf ich das auch machen, mit unserer russischen Prostituierten; ihre Idee mit dem Aufschreiben und Verbrennen klauen, genaugenommen?“

„Jetzt, hier? Haben Sie Papier dabei?“

„Nein, natürlich nicht. Ich meine allgemein, wenn ich zuhause bin, heute Abend zum Beispiel.“

„Ja klar, tun Sie. Ich gebe Ihnen noch einen Tipp dazu. Machen Sie es im Beisein eines Menschen, der Ihnen wohlgesonnen ist. Aus irgend einem Grund funktioniert es besser als allein. Aber sprechen Sie nicht über das, was Sie aufgeschrieben haben. Außerdem war das nicht meine Idee, Sie klauen also nichts.“

„Und wo lernt man solche Sachen?“ fragt sie, während sie einem Mountain-Biker ausweicht, der schnaufend zwischen uns bergan strampelt.

„Das meiste habe ich in privaten Workshops in den USA gelernt. Aus eigenem Fortbildungsinteresse. Das passte damals gut zu meiner Arbeit als Organisationsberater.“

„Als Organisationsberater, privat oder in einer Firma?“

„Eine Firma, KM und Partner. In Fachkreisen ziemlich bekannt. Autobranche, Zulieferbetriebe waren unsere Kunden. Das heißt zwar Mittelstand, sind aber oft ziemlich große Firmen, mit Produktionsstätten im In- und Ausland; Brasilien, China, USA, in der Türkei. In Ägypten vor allem Lastwagen. Mein Gebiet war Betriebsorganisation, Arbeitsabläufe, Personalstruktur.“

Der Weg wird steiler und wir atmen vernehmbar. Mann, ist das schön hier zu laufen, mit ihr. Wer hätte das gedacht.

„Und Sie konnten viel reisen?“

Ihre Wangen haben deutlich Farbe bekommen.

„Ja, regelmäßig und meist für mehrere Wochen. Klingt toll. Das war ’s zunächst auch. Allerdings nicht besonders sozialverträglich. Nicht gut für die Familie. Oder die Freunde – außerhalb der Firma wurde es immer schwieriger. Gisela, meine Frau, also jetzt Ex-Frau, hat darunter mehr gelitten, als ich wahrhaben wollte. Zu der Zeit hat noch keiner von Globalisierung geschwafelt. Unsere Nachbarn haben mich um meinen Beruf beneidet. Es ging aufwärts. Trotzdem, ich frage mich, wie wir es damals geschafft haben, ein halbwegs gutes Familienleben zu führen. Rückblickend ist mir das ein völliges Rätsel.“

„Und dann haben Sie da aufgehört. Weswegen?“ fragt Frau Sandner.

„Ich wurde aufgehört.“

„Wie, verstehe ich nicht.“

„War auch nicht ganz einfach. Bei uns war es üblich, die Kunden, also deren Betriebe, zu zweit zu besuchen und zu beraten, als Team.“

Einer für das Finanzielle; Buchhaltung, Gehälter, Materialkosten, Steuern etc.. Bereiche, die für die Führung der Firmen selbst oft undurchschaubar waren. Wenn dann noch Nebengeschäfte oder Korruption ins Spiel kamen – kein Betrieb lässt sich gern unter die ungemachten Betten gucken. Der Andere im Team kümmerte sich um alles, was die Organisation betrifft. Das war mein Ding. So weit so gut. Nur haben sich seit Jahren die Gewichte immer weiter verschoben.

„Im Denken der jungen Kolleginnen und Kollegen zählten nur noch Excel und Laptop; wer braucht da noch langjährige Arbeitserfahrung und gesunden Menschenverstand? Viel wissen, wenig verstehen und sich dabei super dynamisch fühlen. Das wurde der neue Arbeitsstil.“

Was kurzfristig unterm Strich steht, die nackten Zahlen und Bilanzen wurden immer wichtiger. Organisationsprobleme schrumpften zu lästigem Beiwerk. Ziemlicher Unsinn. Wenn die Strukturen eines Betriebes nicht stimmen, darf man nicht die Mitarbeiter dafür kritisieren.

„Das fand ich immer falsch und ungerecht. Und letztlich schädlich für den Betrieb.“

„Man könnte meinen, Sie sprechen über unseren Laden,“ unterbricht sie mich. „Ich gebe Ihnen mal die Nummer unserer Oberindianer.“

„Ehrlich, geht ’s bei Ihnen auch so zu?! Klar, warum nicht. Es hat sehr viel mit der Betriebsgröße zu tun. Und mit der Zeit. Solche Schwierigkeiten entstehen nicht über Nacht. Wo war ich? Ah ja: Bei mir kam dazu: Von einem bestimmten Alter an kuschst du nicht mehr so leicht. Zumal ich mich wiederholt in meiner Meinung bestätigt fühlte.“

„In wiefern bestätigt?“

Was von außen betrachtet richtig erscheint, kann innen unangemessen sein. In vielen Fällen gingen die forschen Betriebsveränderungen krachend daneben, trotz der tollen Leitsätze, Re-Engineering-Pläne und Powerpoint-Präsentationen. Wenn auch meist später, wenn unser Auftrag längst beendet war.

„Das wollte allerdings niemand hören. Will sagen, ich passte immer weniger in das kollegiale Umfeld.“

Sie lacht kurz und humorlos:

„Auch das kommt mit bekannt vor.“

„Jedenfalls kam mir die Lust an der Arbeit zunehmend abhanden. Das Ende der Geschichte war trotzdem okay.“

Die Firma gab mir einen „Goldenen Handschlag“, gutes Geld, wir haben uns einvernehmlich getrennt. Mit der Abfindung habe ich mir zwei Eigentumswohnungen gekauft. Das bringt ordentliche Mieteinnahmen. Wirtschaftlich geht mir ’s gut seit dem. Das Coachen kommt dazu; vor allem mache ich es gern. Ich muss nicht davon leben. Außerdem kann ich reisen. Zu meiner Tochter und ihrer Familie. Im März war ich für zwei Wochen in Palma de Mallorca. Was will man mehr?

Ein bisschen Stolz empfinde ich schon beim Sprechen über mein Arbeitsleben. Es gefällt mir, mit ihr darüber zu reden. Hoffentlich hält sie mich nicht für angeberisch. Frau Hauptkommissarin, ich bin mehr als ein Zeuge in einer Strafsache; bin ein Mensch mit einem Leben, zu dem ich stehe.

Wie wird sie über ihr beamtetes Polizeileben sprechen? Egal, ich genieße das Gehen mit ihr. Vertraut? Obwohl ich wenig über sie weiß, erscheint sie mir kaum noch als eine fremde Person.

Der Weg ist ebener geworden als weiter unten. Wir laufen eine Weile recht zügig. An einzelnen Stellen fällt Sonnenlicht durch die hohen Baumkronen und bildet große helle, grün und braun gefärbte Flecken auf dem Boden links und rechts des Weges.

Frau Sandner schweigt. Ich drehe meinen Kopf in ihre Richtung. Sie schaut geradeaus. Als ich meinen Blick nicht abwende, errötet sie ein wenig.

„Was?,“ fragt sie ein paar Sekunden später.

„Es ist schön, so zu laufen hier,“ antworte ich und schaue wieder nach vorn. „Schön, dass Sie dabei sind.“

Nach einigen Schritten meint sie unvermittelt:

„Okay, schweigen wir über was anderes.“

„Schaffen wir mühelos.“

Im Weitergehen trete ich hinter sie, fasse sie mit beiden Händen sanft an den Schultern und schiebe sie behutsam seitwärts. Nun geht Frau Sandner rechts von mir, wo ich bisher war.

„Okay, Ende meiner Erzählungen. Sie wissen eh schon viel zu viel von mir, allein durch die Vernehmung. Jetzt sind Sie dran.“

„Wir sagen Befragung. Was gibt es von mir groß zu berichten? Dass ich mich jeden Morgen über meinen Wecker ärgere?“

Sie zögert, sieht mich mit dem Schatten eines schelmischen Lächelns an. „Weil – ich schlafe gern. Ehrlich, gut schlafen und dabei toll träumen ist für mich etwas Wunderbares.“

„Ihre Arbeit raubt Ihnen demnach nicht den Nachtschlaf.“

„Manchmal schon. Vor allem, wenn die Lösung eines Falls zum Greifen nah erscheint und du denkst, irgend etwas fehlt, irgend etwas hast du übersehen, obwohl es direkt vor deinen Augen ist.“

„Finde ich gut, wenn man die Arbeit hinter sich lassen kann, statt Horrorbilder von Gewaltszenen oder Toten mit nachhause zu nehmen.“

Frau Sandner hält inne, setzt sich aber sofort wieder in Bewegung.

„Früher fiel mir das schwerer. Da hatte ich mit Tötungsdelikten zu tun. Jetzt, Raub, da halten sich die Schreckensbilder in Grenzen.“

„Finden Sie Ihren Beruf, besser gesagt, Ihre Arbeit aufregend?“

„Sie hält mich jung, tröste ich mich selbst.“

„Was nun? Geruhsames Beamten-Dasein oder wilde Verbrecherjagd?“

„Weder noch, Herr Berkamp. Verbrecher jagt bei uns die Fahndung. Die meisten Menschen können sich nicht vorstellen, wie gewöhnlich, normal langweilig der größte Teil von Polizeiarbeit ist. Sogar bei Verbrechen, die Schlagzeilen machen. Gründliche Sachbearbeitung, jede Menge Schreibtischroutine, dauernd mit der Staatsanwaltschaft telefonieren, bergeweise Berichte schreiben und lesen, Personen, Adressen oder Termine überprüfen und vergleichen, Hinweise aussortieren. Manchmal ist es aufregend. Manchmal denke ich, unsere Arbeit besteht zur Hälfte aus Warten.“

„Warten, auf wen, worauf?“

„Was wir machen, erfordert Geduld und Aufmerksamkeit für Kleinigkeiten. Mit dem, was die Leute in den „Tatort“-Filmen sehen, hat das nichts zu tun. Bis Sie all die beweiskräftigen Kleinigkeiten zusammenkriegen, das kostet Zeit und Nerven. Sie arbeiten ja nicht allein. Das verursachst viel von dem Warten. Auf Entscheidungen von Vorgesetzten oder Leuten aus anderen Abteilungen; Warten auf Technikergebnisse, Spurenanalyse, Zugriff der Fahnder oder die Rückkehr möglicher Zeugen aus dem Urlaub, warten auf Kleinkram eben, der aber fallentscheidend sein kann.“

„Das war gerade ein überzeugender Werbespot für Ihre Arbeit.“

„Danke, sagen Sie es meinem Chef.“

Das Ende der Knechtschaft

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