Читать книгу Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach - Страница 27

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Dreißig Sekunden später sitze ich wieder auf dem Fußboden neben meiner Telefonkonsole.

„Merkst Du was, Robert? Wir reden wieder nur über meine Arbeit?! Schluss damit! Jetzt erzählst Du von dir und deinem Innersten.“

Natürlich zögere ich. Über das Coachen habe ich bereits berichtet. Fass dir ein Herz. Es zu verschweigen wäre feige, nachdem sie ziemlich offen von sich erzählt hat. Wie wird sie es aufnehmen? Früher, wenn ich mich getraut habe, brachte es mir verstörte Blicke, spöttische, sogar gehässige Bemerkungen ein. Selbst Gisela gegenüber war ich vorsichtig mit diesbezüglichen Andeutungen gewesen.

„Na, so schlimm?,“ hakt Corinna nach. „Sag schon. Es bleibt unter uns.“

„Du bis durch deinen Beruf einiges gewöhnt. Trotzdem, mir fällt es schwer; versprich mir, dass Du gelassen zuhörst ...“

„Angeber!“ unterbricht sie herausfordernd.

„Ne, dazu taugt das nicht. Also, Du bis gewarnt.“

Ich habe einen Schlag zum Hellsichtigen, erkläre ich kurz und bündig.

„Oh!“

Eine Weile stilles Atmen im Telefonhörer.

„Aha. Das ist kein Witz?“

Diesmal schweige ich.

„Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, dazu etwas zu sagen, Robert. Dafür kommt es zu überraschend. Ist mir zu fremd.“

„Keine Sorge. Es ist nicht ansteckend.“

Gespannt wäre untertrieben; ich lauere geradezu auf ihre nächste Bemerkung. Sie lässt sich Zeit damit. So etwas gibt es tatsächlich? Wie äußert sich das? Ist es erblich? Wie kriegt man das?

Ausatmen, Finger entkrampfen. Ich nehme es als Ermutigung zum Weitersprechen.

„Lässt Du dich darauf ein?“

„Hm,“ antwortet sie vorsichtig, „warum nicht?“

„Es gibt Leute, die von Geburt an hellsichtig sind. Jeder Mensch trägt die Fähigkeit dazu in sich. In abgeschwächter Form wird es Intuition genannt. Bei mir ist es stärker, fing an, als ich neun Jahre alt war.“

Auch wenn sie still ist, spüre ich, sie hört aufmerksam zu.

„Intuition. Am Sonntag im Wald. Das war mehr für dich als eine Redewendung. Wie geht das praktisch? Wo kommt es her?“

„Es fing an mit einer Blinddarmvereiterung, hochakut, wie die Ärzte das nannten. Jedenfalls soll es mehr als kritisch gewesen sein; ich war ...“ Es stand auf der Kippe. In der Uniklinik Göttingen. Als ich aus der Narkose aufgewacht bin, hat meine Oma Anna am Bett gesessen, meine Hand gestreichelt und dauernd gesagt: ,mein Junge, dass du überhaupt lebst,’ und dass der liebe Gott das gewollt hätte. Meine Mutter war zu der Zeit im Ausland. Im Bett gegenüber lag ein Mann. Als ich halbwegs wach war, habe ich Oma ins Ohr geflüstert: ,Oma, der Mann da drüben ist tot.’ Einfach so, keine Angst oder Trauer; als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Oma hat sich erschrocken zu ihm umgedreht und mich anschließend streng ermahnt: ,Mein Junge, so etwas darfst du nicht sagen, noch nicht einmal denken darfst du das.’ Dann hat der Mann seine Hand bewegt und gehustet.

„Am nächsten Morgen war er tot. Richtig gestorben. Das vergisst du nicht. Meine Oma musste mich einige Male trösten. Weil ich dachte, ich wäre schuld an seinem Tod, irgendwie durch meine Gedanken.“

„Pah! Mann, Robert, wie wird man als Kind damit fertig?“

„Na ja, ich hab ’s überstanden. ... Du hast natürlich recht. Es war nicht besonders schön. Anfangs habe ich mir nicht viel gedacht bei solchen Eingebungen. Für mich erschien das normal. Die Leute um mich herum waren schwierig; wie die damit umgingen.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Unser Pfarrer war eklig. Der Knallkopf hat von Besessenheit durch böse Geister geredet. Seiner Ermahnung nach hätte ich den ganzen Tag Rosenkranz beten müssen. Mir tat das sehr leid – für Oma.“

„Wieso für die? Deine Oma konnte doch nichts dafür.“

„Natürlich nicht. Wegen dem blöden Geschwätz des Pfarrers. Wie sollte die damit umgehen? Wir waren schließlich gut katholisch.“

Ich wartet einige Augenblicke.

Corinna sagt nur trocken:

„Weiter, ich höre.“

„Danke. Okay, in der Schule wurde es schlimmer.“

Obwohl ich ein guter Schüler war, musste Oma mehrmals hin. Einmal, da war ich zehn oder elf, zur Klassenlehrerin und zu unserer Kunstlehrerin. Wir sollten Dinge malen, die wir kannten. Die Mitschüler haben Autos, Häuser, Kühe oder Bäume gemalt. Ich habe am liebsten Bilder gemalt mit einem blauen Vogel über dem Meer, oder Treppen, die in den Wolken enden oder vor einem großen Holztor, das im Himmel schwebte.

„Wieso, das sind ziemlich hübsche Motive,“ findet Corinna.

Der Klassenlehrerin haben meine auch Bilder gefallen. Die Kunstlehrerin war allerdings anderer Meinung. Weil ich auf ihre Frage, warum ich das male, ,da war ich schon mal’ geantwortet hatte. War wohl ein Fehler; das habe ich aber erst später kapiert. Wir mussten dann nach Eschwege zu einem Psychologen fahren.

„Der ließ mich verschiedenfarbige Bauklötze sortieren und ähnlichen Mist machen.“

„Typisch. Wie ging das weiter?“

Die Frage tut mir gut. Corinna lässt sich darauf ein. Für die meisten Menschen klingen meine Schilderungen nur befremdlich oder verrückt, jagen ihnen einen gehörigen Schrecken ein oder machen so viel Angst, dass sie nichts davon wissen wollen.

„Manchmal habe ich merkwürdige Sachen gesehen, meistens abends vor dem Einschlafen.“

In Witzenhausen gab es damals noch viele Bauernhöfe. Bei einem ist die Scheune abgebrannt. Die Leute haben gesagt, das Feuer sei von selbst entstanden. Das passiert manchmal, wenn das Stroh feucht ist, gärt und heiß wird. Aber in der Nacht, noch bevor es gebrannt hat, habe ich meine Oma gerufen. Weil ich im Traum das Feuer dicht vor mir gesehen habe. Und einen Mann. Und wusste, er hat das Feuer gelegt. Am anderen Morgen hat Oma Anna mir verboten, darüber zu sprechen. Da war ich wohl zwölf Jahre alt.

„Aber sie hat mir geglaubt. In der Hinsicht war sie immer auf meiner Seite. Der Brandstifter wurde übrigens Monate später geschnappt und hat gestanden.“

„Klasse, Mann. Schade, dass wir uns nicht früher begegnet sind. Jemanden wie dich hätte unser Daschner haben müssen. Der hat damals bis zur Gewaltandrohung alles Mögliche angestellt, um diesem Markus Gefken zu entlocken, wo er den entführten Jungen, den Banker-Sohn, versteckt hielt. Obwohl der da schon tot war. Erdrosselt von diesem Psychopathen. Siehst Du solche Sachen heute noch?“

„Weniger. Nach dem Beginn der Pubertät mochte ich die hellsichtigen Träume nicht mehr, habe mich dafür geschämt. Und hatte Angst, dass ich nicht ganz normal wäre. Mit fünfzehn ist etwas sehr Verwirrendes passiert. Eines nachts hatte ich mitten im Schlaf eine Erscheinung.“

„Ein Gespenst?!,“ ruft sie dazwischen.

„Nein, Gespenst klingt nach Sinnestäuschung. Es war ein Wesen, vor mir, nicht in mir. Anders als ein Traum; die Gestalt war wirklicher, ließ sich nicht einfach wegdenken. Sie sprach mit einer Stimme, die ich vorher nie gehört hatte. Klar verständlich in englischer Sprache sagte sie: „Hello, Robert, I am Cassandra, ...

„Habe ich verstanden“ unterbricht Corinna, „so weit reicht mein Englisch noch.“

„Schön; also, dann sagte die Stimme: ,I am here to guide you and to protect you’, also mich führen und beschützen. Und weiter ,I am always with you,’“ – „dass sie immer bei dir ist“ unterbricht Corinna erneut – „genau. Und: ,All you have to do is call me, ask me and trust me.’ Ich bräuchte sie nur zu rufen, zu bitten und ihr vertrauen. Dann standen ihre Augen vor meiner Stirn und alles wurde schwarz.“

„Wauw, wenn das nichts ist. Und dann?“

Ich muss einige Male schlucken. Die Frau hört wirklich zu.

„Robert, was geschah dann? Falls Du dich daran noch erinnerst.“

„Ich spreche nur ungern darüber. Glaub mir, Corinna, das vergesse ich nie.“

Am Morgen danach habe ich die Schule geschwänzt. Natürlich gab es Krach deswegen. Ich war im Bett liegengeblieben, bis meine Mutter zur Arbeit gefahren war. Weil ... ich ins Bett gepisst hatte. Mit fünfzehn. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt.

„Aber Oma Anna war toll. Die hat das mitgekriegt, als ich mit dem nassen Bettzeug in den Waschkeller schleichen wollte. Weißt Du, was sie gesagt hat ...?“

„Keine Ahnung. Sag mal.“

Mit einem ordentlichen Kloß im Hals, wie jedes Mal, wenn ich daran zurückdenke, und Mühe beim Sprechen:

,Junge’, hat sie gesagt, ,das ist doch nicht schlimm, da hat dein Geist nur vergessen, den Körper mitzunehmen, als er pinkeln gegangen ist.’“

Corinnas lautes Ausatmen hört sich richtig gut an.

„Mann, was für eine Frau!“

„Da hast Du recht. Meine Oma Anna. Die war einfach klasse. Und das hat richtig funktioniert. Das mit den Augen vor der Stirn und der Cassandra-Stimme. Immer in Englisch. Ist okay für mich, ist ja fast meine zweite Muttersprache, Vatersprache.“

Als ich bei der Bundeswehr war, mit der üblichen Sauferei, oder danach während des Studiums, die reine Lehre der Vernunft, und im Berufsalltag geriet die Fähigkeit beinahe in Vergessenheit. Immerhin, als Gisela mir eröffnet hat, dass sie schwanger ist, wusste ich augenblicklich, es wird ein Mädchen. Frag mich nicht wie.

„Allerdings, als ich Gisela davon erzählen wollte, hat sie nur das Gesicht verzogen. Sie meinte: ,Nee, Mann, bleib mir weg mit deiner Spökenkiekerei’ und hat mich ausgelacht. Schon lieb gemeint, aber trotzdem schade.“

„Und das war ’s seitdem?“

„Natürlich nicht. Wiederentdeckt habe ich die höhere Begleiterin mehr durch einen Zufall.“

1988 besuchte ich im kalifornischen San Francisco einen Workshop mit Richard Bandler. Ein irrer Typ; sah aus wie ein Hells Angel; mit Bierbauch, Rockerjacke und Pferdeschwanz; war aber ein genialer Kommunikationstrainer. Der hat uns eine sehr wirksame Übungsmethode für Reden und Vorträge beigebracht. Man sucht sich eine freundliche Person, die einfach nur zuhört, während man ihr das Thema erklärt. Dann ergänzte Bandler sinngemäß: ,Und wenn ihr gerade keinen habt, der sich euren Mist anhören will, stellt euch Jemanden vor. Tut es in eurer Phantasie. Das machen mehr Menschen als ihr denkt. Die sind völlig normal in der Birne. Stellt euch eine Person vor, die euch sympathisch ist, einen Engel zum Beispiel mit Flügeln oder auf einer Harley-Davidson, und haltet dem euren Vortrag. Glaubt mir, das wirkt wahre Wunder. Und ist nebenbei die einfachste und billigste Methode, nicht allein zu sein’.

Der Workshop brachte für mich die unerwartete Erweckung.

Gemischt mit halblautem Kichern erklärt Corinna:

„Das mit sich selbst Reden ... kann ich ... bestätigen.“

„Na, also. Okay, seit diesem Workshop spreche ich wieder mit meiner Cassandra-Intuition. Ging leicht wie nach langer Pause auf ein Fahrrad steigen. Cassandra hat mich sogar begrüßt ,Long time no see!’.

„Und damit läufst Du jetzt durch die Gegend?“

„Ich schätze, ja. Nur dass ich sie nicht andauernd sehe. Ich muss mich in Ruhe darauf einstellen. Und einfache, klare Fragen stellen. Bei einer Sache, die mir wichtig ist, geht es am besten. Ich bin geradezu ehrfurchtsvoll geworden im Umgang damit. Jedenfalls taugt es nicht als Partyspaß.“

Das Ende der Knechtschaft

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