Читать книгу Das Ende der Knechtschaft - Günter Billy Hollenbach - Страница 23

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Wir gehen etwas langsamer weiter. Wie in einem abschließenden Gedanken überlegt Frau Sandner laut:

„Gibt es eigentlich noch etwas Anderes als Arbeit?“

Sie hebt den Kopf, deutet mit dem Kinn nach vorn. Rechts des Weges steht – sonnenerleuchtet – eine Bank. Sie ist frei, obwohl zahlreiche Spaziergänger unterwegs sind. Frau Sandner geht hin, setzt sich und streckt die Beine leicht gespreizt von sich.

„Ist das schön hier! Mann, das tut gut. Sie dürfen sich gerne setzen.“ Sie klopft mit der linken Handfläche auf die Holzbalken neben sich.

„Und wenn Sie artig sind, erzähle ich Ihnen auch einen Schwank aus meinem Leben.“

Ich hocke mich hin, halb zu ihr gedreht.

„Artig genug? Na denn, ich höre. Zum Beispiel, wie und wo Sie als Jugendliche geschwankt haben.“

Sie lacht kurz los.

„Oh ja! Jugendliche. Grauenhafte Zeit. Als Kind in Hannover, dann hier in Frankfurt. Ich war ein ziemlicher Wildfang. Bin mit sieben oder acht Jahren noch auf Bäumen rumgeklettert, habe lieber mit den Jungens gespielt als mit Puppen. Manchmal hab ich sie auch verhauen, die Jungens. Nur meinen Bruder nicht, Bernhard. Der ist neun Jahre jünger, ein Nachzügler, und ganz anders als ich.“

„Wo lebt der? Entschuldigung, ... ich hab Sie unterbrochen.“

Sie kommt wieder ins Reden.

„Macht nichts. Wir sehen uns nur selten. Hin und wieder telefonieren wir. Er züchtet in großem Stil Bienen in der Lüneburger Heide; in einem Kaff hinter Munster. Da passt er hin, zu den Heidschnucken.“

Sie lächelt beinahe andächtig vor sich hin.

„Er ist ein lieber Kerl. Nur dass er immer mehr durfte als ich fand ich ungerecht. Verwöhntes Nesthäkchen. Meine Pubertät war schlimm, soweit ich mich erinnere. Da fing das an ...“

Sie schaut mich prüfend an, unsicher, wie viel Persönliches sie mir anvertrauen will.

„Ich habe selbst eine Tochter, Frau Sandner. Da lernt man Geduld. Also, was fing an?”

„Geduld? Kann sein. Ich ... ich wurde allmählich zur Einzelgängerin. Oder sagen wir so: Ich wollte mich behaupten bei Sachen, die gemeinhin nichts für Mädchen waren. Was die machten, fand ich meist langweilig. In der Schule habe ich oft gestört, und zuhause gab es häufig Krach wegen mir. Manchmal denke ich, ich war unterfordert, hätte echte Herausforderungen gebraucht. Verstehen Sie, nicht den Zwang zum Gehorchen und Anpassen, nicht diese Art. Sondern Aufgaben, die etwas bedeuten.“

Sie holt Luft, schiebt ihre Lippen zu einer Schnute nach vorn und betrachtet versonnen auf ihre blaugrauen Sportschuhe.

„Nicht rumalbern sondern bewähren. Was weiß ich?!“

Damit dreht sie sich auffordernd zu mir.

„Na, was schließen Sie daraus?“

Dass sie keine Antwort erwartet, ist ihr anzusehen.

„Ich höre einfach zu.“

Ich schaue sie erwartungsvoll an, möchte mehr erfahren, ohne zu werten.

„Und warum sind Sie Polizistin geworden? Rein privat gefragt; wir reden heute nichts Dienstliches.“

Sie schluckt kurz.

„Schon klar. Das war leider kein Schwank sondern ein ziemlich fester Entschluss. Das wusste ich bereits vor dem Abitur, als ich siebzehn, achtzehn war. Nicht aus Familientradition. Sondern weil ich es unbedingt anders machen wollte.“

„Anders?,“ frage ich nach.

„Als er. Mein Vater war Polizist, ein Leuchtturm von einem Ordnungshüter. Hauptwachtmeister Kropaczek. “

„Polnische Wurzeln?,“ entfährt mir.

„Nee, böhmisch-österreichisch. Mein Gott, was hab ich den Namen gehasst, als Kind und Jugendliche. Und gelegentlich meinen Vater auch, sogar später noch. Weil er meine Berufswahl bestimmt hat, ohne je ein Wort darüber zu verlieren. Und wegen des Namens. Ich glaube, ich habe nur geheiratet, um ihn loszuwerden und einen normalen, ordentlichen Namen zu bekommen. Den habe ich ja nun. Und Mona natürlich, die habe ich auch. Sie ist ein Goldstück, ein echter Schatz, meine Tochter.“

*

„Wo Sie das sagen, wie geht es ihr jetzt? Ich meine, wie ist das ausgegangen am Freitag mit Monas verflossenem Freund?“

Frau Sandner verzieht die Lippen, als hätte sie etwas Unappetitliches zwischen den Zähnen.

„Schwierig. Ich weiß nicht; sie redet immer noch nicht offen darüber.“

Die Feststellung, in die Betonung einer Frage gekleidet, und ihr erwartungsvoller Blick wirkten wie das Einverständnis, ausführlicher über die Angelegenheit zu sprechen.

„Sind Sie zu ihr gefahren?“

„Selbstverständlich. Es wurde ein geschäftiger Samstag Nachmittag. Ihr Herz hat sie mir trotzdem nicht ausgeschüttet. Immerhin haben wir etwas für ihre Sicherheit getan.“

Ein Bekannter aus der Haustechnik im Präsidium hat neue Türschlösser eingebaut, die ziemlich schwer zu knacken sind; dazu einen stählernen Sicherheitsbalken an der Innenseite der Tür. Wer da jetzt reinwill, braucht eine Sprengladung.

„Aber richtig geredet ... wie gesagt. Ich kann es nicht ändern; ich fürchte, das hat sie von mir.“

Frau Sandner sieht mich zwar entschuldigend an, scheint aber noch an dem Thema zu hängen. Mir dagegen bereitet es wachsendes Unbehagen. Im Geist sehe ich eine Wohnungstür nach einem derben Fußtritt aus dem Rahmen fliegen. Und meine herangewachsene Claudia, wie sie mit erschrockenen Augen in heller Angst eine Gestalt im Türrahmen anstarrt, die einst ihr Geliebter war.

Meine rege Phantasie.

„War das denn so heftig vor ... wie viel ... vor zwei Monaten, als sich ihre Tochter von dem Freund getrennt hat?“

Frau Sandner antwortete bereitwillig:

„Ende Mai. Wie man ’s nimmt. Er hat ihre Meditationsecke zertrümmert, sie hatte eine Platzwunde an der Stirn, und er hat den Briefkasten demoliert, sozusagen als letzte Amtshandlung im Rausgehen.“

Wie bitte?! Seltsame Wortwahl – als letzte Amtshandlung.

„Oh, heftig, in der Tat. Hat sie ihn angezeigt?“

„Nein.“

Nur ein kleines Wort, doch der Ton und Frau Sandners Blick dabei sagen weit mehr: schicksalsergeben. Irgendwie unpassend; verärgert, wenn nicht gar empört hätte ich erwartet. Vor allem, das Verhalten der Tochter verstehe ich nicht.

„Sie hat ihn nicht angezeigt? Obwohl ihre Mutter ..., obwohl Sie bei der Polizei sind?“

Wie um der wärmenden Sonne und dem würzigen Geruch von Erde und Blättern um uns herum eine Nase zu drehen, kriecht eine unangenehme Spannung in mir hoch. Als spüre ich den Widerspruch, der sich für Frau Sandner aufgetan haben muss. Sie ist zwar die Mutter, aber zugleich eine Frau „vom Fach“.

Vielleicht redet es sich im Laufen leichter.

„Was ist, gehen wir weiter? Auf dem Fuchstanz gibt es guten Bienenstich. Wie wär’s, haben Sie Appetit darauf?“

Wenn sie nicht reden will, soll sie es bleiben lassen. Ich bin hier nicht zum Coachen!

Frau Sandner schüttelt gedankenabwesend den Kopf.

„Nee, heute nicht, wirklich nicht. Ein paar Minuten noch in der Sonne; dann lassen Sie uns zurückgehen. Ich bin kein Lauftier.“

Sie ist unruhig geworden, schaut auf ihre schmale Armbanduhr.

„Sie, Herr Berkamp, wir sind schon über eine Stunde unterwegs. Es reicht. Gehen wir zurück.“

Ohne meine Antwort abzuwarten steht sie auf. Ich wäre gern noch sitzen geblieben.

„Na schön, dann eben keinen Bienenstich. Selbst schuld.“

Dass eine Mutter wie sie die Tochter nicht zu einer Anzeige überreden kann, will mir nicht in den Kopf.

„Wenn Ihnen das unangenehm ist, Frau Sandner, dann lassen wir ’s. Aber wieso hat Ihre Tochter den Kerl nicht angezeigt?“

Sie bleibt stehen, beide Hände in die Seiten gestützt, und fragt beinahe vorwurfsvoll:

„Führen Sie jetzt das Verhör als Fachmann für Beziehungskrach?“

Oh, hallo! Bei dem Thema zeigt die Dame Nerven.

„Entschuldigung, ich wollte Ihr berufliches Können nicht in Frage stellen, Frau Sandner. Ich merke nur, dass Ihnen das Ganze zu schaffen macht. Wenn der eigenen Tochter so etwas widerfährt ...“

Sie senkt angekratzt den Blick und schneidet mir den Satz ab.

„Sie haben recht, es belastet mich. Tut mir leid. Gerade weil wir als Polizei damit Erfahrung haben, mehr als genug.“

„Womit?“

„Kennen Sie die inneren Triebkräfte bei Auseinandersetzungen in vielen Partnerbeziehungen, Herr Berkamp? Schwer verständlich für Außenstehende, können Sie mir glauben.“

Zu viele geprügelte Frauen erfinden die beklopptesten Ausreden für ihre aufgeschlagenen Lippen, die Veilchen unter den Augen oder angebrochene Rippen. Nur um ihre häuslichen Schläger zu schützen. Das tun sie nicht nur aus Angst.

Frau Sandner spricht immer erregter.

„Nein, die Frauen geben sich selbst die Schuld dafür, dass er sie verdrischt! Er kann nichts dafür, meint es nicht so; und sie haben es irgendwie verdient. Viele Frauen schämen sich, schaffen es nicht, sich und der Polizei die eigene Schwäche einzugestehen, weil sie Matschbirnen sind, die es mit sich machen lassen.“

Ich berühre sanft ihren rechten Ellbogen.

„Kommen Sie, lassen Sie uns weitergehen.“

Sie lächelt knapp, fast dankbar, geht dennoch langsamer weiter, klingt zunehmend vorwurfvoll. Es gilt teilweise mir sowie ihrer abwesenden Tochter.

„Oh ja! Ich weiß nur zu gut, wovon ich rede. Dass müssten Sie doch verstehen können. Als Mutter gelingt es mir, eine Spur von Mitleid und Verständnis aufzubringen. Aber als Polizistin, ne! Wenn ich mich nicht zusammennehme, könnte mich eine ungeheuere Wut packen. Mona ist nicht abhängig von ihm. Aber lässt sich trotzdem nicht zu einer Anzeige bewegen.“

Sie steht wieder, schaut mich verständnissuchend an.

„Stop. Aufhören! Wenn Sie weiter derart laut reden, vertreiben Sie die wenigen Monokatis. Die sind nämlich sehr scheu.“

Ihr kurzes, verlegenes Lächeln verfliegt im Nu.

Wir gehen eine Weile schweigend. Bis sie leise meint:

„Sie haben recht. Entschuldigen Sie, was gehen Sie unsere Wehwehchen an?! Es beschäftigt mich halt. Mona wollte keine Anzeige ... auch aus Rücksicht auf mich. Das macht es für mich noch schwerer.“

Das Ende der Knechtschaft

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