Читать книгу Alkoholprobleme überwinden - Günter Faßbender - Страница 4
Einleitung
ОглавлениеIn der Gesellschaft besteht immer noch ein Tabu, über Al-
koholprobleme zu sprechen. Alkoholabhängigkeit wird von
vielen immer noch als Charakterschwäche angesehen. Ein
Problem, das nur willensschwache, labile Menschen haben.
Oft wird der Obdachlose, der morgens am Kiosk steht und
sein Bier trinkt, als typischer Alkoholiker gesehen. Dabei
sind in Deutschland 1,6 Millionen Menschen alkoholabhän-
gig (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, Jahrbuch Sucht
2019). Jeder zehnte Erwachsene gilt als alkoholgefährdet.
Mehr als 2,5 Millionen Kinder unter 18 Jahren wachsen mit
mindestens einem suchtkranken Elternteil auf. Die Gefahr,
durch den Konsum von Alkohol abhängig zu werden und die
Folgen für den Betroffenen sowie für Angehörige, werden in
der Gesellschaft unterschätzt. Suchtkranke leben in allen
gesellschaftlichen Schichten, Berufen und Altersklassen.
Die hohe Zahl der Alkoholabhängigen sagt nichts über die
Einzelschicksale, die dahinter stehen, und das Leid der Be-
troffenen und der Angehörigen aus. Zählt man zu jedem
Suchtkranken nur drei Angehörige, ergeben dies etwa zehn
Mil ionen Partner, Kinder und Eltern, die als „Mitleidende“
gesehen werden müssen.
Nur etwa drei Prozent der Betroffenen finden den Weg in
eine Suchtberatungsstelle. Ich hoffe daher, dass ich mit die-
sem Buch möglichst vielen Menschen helfen kann über ih-
ren Umgang mit Alkohol bzw. den Umgang mit den Alkohol-
problemen ihres Partners nachzudenken und hierdurch viel-
leicht schneller den Weg zu einer Suchtberatungsstelle fin-
den.
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Dieses Buch soll in erster Linie ein Ratgeber für Menschen
sein, die Probleme mit Alkohol haben (im Buch „Betroffene“
genannt), oder als Angehörige mit betroffen sind. Darüber
hinaus kann der interessierte und selbstkritische Leser sei-
nen Umgang mit Alkohol hinterfragen, um vielleicht einer
Alkoholabhängigkeit vorzubeugen.
Meine Erfahrungen und Kenntnisse, die ich in diesem Buch
wiedergebe, stammen aus meiner achtunddreißigjährigen
Arbeit in der Fachambulanz für Suchtkranke der Caritas
Sozialdienste Rhein-Kreis Neuss GmbH. Im Rahmen der
Beratung und ambulanten Behandlung von alkoholgefährde-
ten und alkoholabhängigen Menschen und deren Angehöri-
ge, habe ich in dieser Zeit über 16.000 Einzel- Paar- und
Familiengespräche geführt. Im Rahmen meiner beruflichen
Tätigkeit hatte ich im Laufe der Jahre mit über 2.000 Men-
schen Kontakt, die sich an die Fachambulanz um Hilfe
wandten. Zu etwa 80 % waren dies Menschen mit Alkoholp-
roblemen oder deren Angehörige. Einen Teil dieser Perso-
nen habe ich innerhalb einer ambulanten Behandlung bis zu
18 Monate auf dem Weg der Bewältigung ihrer Alkoholprob-
leme begleitet. Zu manchen Betroffenen hatte ich über Jah-
re Kontakt, da sie mehrere Versuche unternahmen, ihre
Suchtprobleme zu überwinden. Viele dieser Betroffene ha-
ben es geschafft und sind „trocken“. Einige haben es nicht
geschafft oder sind zwischenzeitlich an den Folgen ihres
Alkoholmissbrauchs verstorben.
Je eher jemand es schafft, sich seine Alkoholprobleme bzw.
als Angehöriger sein Co-abhängiges Verhalten einzugeste-
hen, desto höhere Erfolgsaussichten hat er, sie mithilfe ei-
ner Beratung oder einer Behandlung zu überwinden. Ich
hoffe daher, mit diesem Buch sowohl Menschen, die Prob-
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leme im Umgang mit Alkohol haben als auch Angehörigen,
die von den Suchtproblemen ihres Partners betroffen sind,
hilfreiche Informationen und Anregungen zu geben, ihre
Schwierigkeiten überwinden zu können.
Die meisten Inhalte dieses Buches können auf andere For-
men der Suchterkrankung wie Medikamentenabhängigkeit,
Glückspielabhängigkeit oder die Abhängigkeit von illegalen
Drogen übertragen werden.
Im ersten Kapitel geht es um die Beschreibung und Unter-
scheidung von Genuss, kritischem Konsum und Abhängig-
keit von Alkohol. Der Leser mag selbst entscheiden, wo er
seinen Umgang mit Alkohol einordnen kann.
Im zweiten Kapitel versuche ich einige der häufigsten Ursa-
chen bzw. Hintergründe für die Entwicklung von Problemen
im Umgang mit Alkohol bzw. einer Alkoholabhängigkeit auf-
zuzeigen. Die hier dargestellten Problemfelder können na-
türlich genauso zu anderen Formen der Abhängigkeit, zu
psychischen, psychosomatischen und physischen Proble-
men führen.
Im dritten Kapitel werden die verschiedenen Hilfsmöglichkei-
ten zur Überwindung von Problemen im Umgang mit Alkohol
und Alkoholabhängigkeit beschrieben. Darüber hinaus habe
ich versucht, die wesentlichen Inhalte und Ziele einer Bera-
tung und der ambulanten wie stationären Behandlung auf-
zuzeigen.
Im vierten Kapitel „Lebensgeschichten“ schildern Betroffene
selbst ihre Entwicklung bis hin zur Alkoholabhängigkeit und
deren Überwindung mithilfe einer stationären oder ambulan-
ten Behandlung. An dieser Stelle ein ganz herzlicher Dank
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an die Betroffenen, die mir ihre „Lebensgeschichte“ zur Ver-
fügung gestellt haben, um sie in diesem Buch zu veröffentli-
chen.
Im fünften Kapitel habe ich die nach meiner Erfahrung häu-
figsten Rückfallgefahren und Möglichkeiten der Rückfallvor-
beugung aufgezeigt.
Im sechsten Kapitel wird das „Co–abhängige Verhalten“
vieler Angehöriger beschrieben und im siebten Kapitel wer-
den Hilfestellungen aufgezeigt, wie Angehörige mit der Al-
koholproblematik ihres Partners umgehen können. Darüber
hinaus wird beschrieben, wie sie ihren suchtkranken Partner
auf dem Weg zur Überwindung seiner Alkoholprobleme un-
terstützen können.
Im Anhang befinden sich neben dem Verzeichnis der im
Buch genannten Literatur einige Empfehlungen zu weiter-
führender Literatur, Informationsquellen und Internetadres-
sen. Je mehr Sie über die Wirkung, das spezielle Suchtpo-
tenzial und die Gefahren im Umgang mit den verschiedenen
Suchtmitteln informiert sind, desto eher können Sie einer
Suchtentwicklung vorbeugen bzw. bestehende Suchtprob-
leme überwinden.
Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird in diesem Buch die
auf der männlichen Form basierende Schreibweise verwen-
det. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter ge-
meint. Wenn Sie als Leser Fragen, Anregungen oder Kritik
zu diesem Buch haben, schreiben Sie mir oder senden Sie
mir eine E-Mail –guenterfassbender@web.de.
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1 Vom Genuss zur Abhängigkeit
Alkohol ist kein notwendiges Nahrungsmittel. Als Genuss-
mittel gehört es jedoch bei zahlreichen gesellschaftlichen
Anlässen wie selbstverständlich dazu. Stellen Sie sich doch
einmal eine Geburtstagsparty, eine Karnevalsfeier oder ein
Volksfest ohne Alkohol vor! Genauso selbstverständlich
gehört der Alkoholkonsum bei Anlässen wie Geburt, Hoch-
zeit, Beerdigung oder Jubiläumsfeiern dazu. Die Werbung
suggeriert Ihnen darüber hinaus durch Werbesprüche wie
„Heute ein König.“ oder „Darauf einen…“ noch andere An-
lässe und Gründe, in den es scheinbar selbstverständlich
ist, Alkohol zu trinken. Zudem gehört es wohl zu den
„Volksweisheiten“, dass, „man auf einem Bein nicht stehen
kann“, „wer Sorgen hat, hat auch…“ „ein richtiger Mann was
vertragen muss“. So wird auch der übermäßige Alkoholkon-
sum zur Normalität erklärt. Trinkfestigkeit wird zur Prestige-
frage. Gerade Jugendliche unterschätzen beim „Koma sau-
fen“ oder „Flatrate trinken“ die Risiken, die mit dem übermä-
ßigen Alkoholkonsum verbunden sind.
Die Grenzen zwischen unschädlichem und schädlichem
Konsum, zwischen Genuss und riskantem Konsum sowie
zwischen riskantem Konsum und Abhängigkeit sind flie-
ßend. Der arglose Umgang mit Alkohol kann daher irgend-
wann schleichend zur Alkoholabhängigkeit führen.
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Der gesunde bzw. unkritische Umgang mit Alkohol
Beim Genuss von Alkohol geht es mehr um den Geschmack
als um die Wirkung.
Der hohe Stellenwert von Alkohol in der Gesellschaft beruht
jedoch nach meiner Einschätzung weniger auf seinem Ge-
schmack. Beim Konsum von Alkohol werden unter anderem
im Körper sogenannte „Glückshormone“, Endorphine, Do-
pamin und Serotonin freigesetzt. Diese bewirken eine ra-
sche Stimmungsaufhellung, Stress wird gedämpft, Ängste
lösen sich. Diese Wirkungen treten auch beim Genuss von
Alkohol ein.
Genusstrinker trinken Alkohol nicht bis zur Bewusstlosigkeit
bzw. bis zum Vollrausch.
Die Wirkung von Alkohol hängt jedoch nicht nur von der
Menge, sondern auch vom körperlichen und seelischen Zu-
stand des Konsumenten ab.
Gelegentlich bei Festlichkeiten auch mal „einen über den
Durst“ zu trinken, wird in der Gesel schaft oft als „normal“
angesehen, selbst wenn hierdurch unter anderem die Un-
fallgefahr und die Aggressionsbereitschaft steigen. Was in
der Gesellschaft noch als normaler Umgang mit Alkohol
angesehen wird, hängt auch damit zusammen, in welchem
Land bzw. Bundesland man lebt. So hatte ich vor Jahren
einen Mann aus Bayern in der Beratung, der versuchte mir
klar zu machen, dass Bier in Bayern ein „Grundnahrungs-
mittel“ sei. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es möglich
sein soll, hierauf auch nur einige Tage zu verzichten.
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Genusstrinker trinken nicht täglich Alkohol. Kontrollierter
bzw. gesunder Umgang mit Alkohol bedeutet, dauerhaft so
mit Alkohol umgehen zu können, dass dies nicht immer wie-
der zu körperlichen, psychischen oder sozialen Schwierig-
keiten führt. Hierzu gehört auch, nicht täglich, nicht zu „un-
passenden Gelegenheiten“ oder bei ungeeigneten Anlässen
Alkohol zu konsumieren. Alkoholkonsum vor und während
der Arbeit, vor einer Autofahrt, während der Schwanger-
schaft, bei der Einnahme von Medikamenten, vor wichtigen
Terminen, vor und während sportlicher Aktivitäten, muss als
kritischer Umgang mit Alkohol angesehen werden. Unge-
eignete Anlässe für den Konsum von Alkohol sind zum Bei-
spiel der Alkoholkonsum bei Ärger und Stress, bei Schmer-
zen, Schlafstörungen, Ängsten und Depressionen.
Genusstrinker trinken Alkohol nicht als Durstlöscher. Hierzu
eignen sich alkoholhaltige Getränke eher schlecht, da sie
dem Körper Wasser entziehen, das zur Verarbeitung des
Alkohols benötigt wird. Die besten Durstlöscher sind Mine-
ralwasser oder Saftschorlen (ein Drittel Saft und zwei Drittel
Mineralwasser).
Immer dann, wenn Sie Alkohol einsetzen, um hierdurch eine
bestimmte Wirkung zu erzielen, wie abzuschalten, zu ver-
gessen oder negative Gefühle auszuhalten, laufen Sie Ge-
fahr, immer mehr auch psychisch von Alkohol abhängig zu
werden.
Nähere Informationen über den verantwortungsvollen Um-
gang mit Alkohol finden Sie in der Broschüre „Al es klar?“
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (siehe
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Lesetipps im Anhang). Hier können Sie einen „Selbst-Test“
finden, um Ihren Umgang mit Alkohol kritisch zu prüfen.
Der kritische Umgang mit Alkohol
Wer regelmäßig Alkohol in hohen Mengen trinkt, ist suchtge-
fährdet.
Lediglich für die körperliche Verträglichkeit von Alkohol gibt
es Grenzwerte. Bei Frauen liegt dieser Grenzwert bei 10-12
Gramm (dies entspricht etwa einem Glas Bier mit 0,2 Liter)
und bei Männern bei 20-24 Gramm Alkohol täglich. Dies
entspricht etwa zwei Glas Bier (0,5 Liter) oder einem Glas
Wein (DHS, Jahrbuch Sucht 2007). Dass der Grenzwert bei
Frauen niedriger ist, liegt daran, dass Alkohol vom weibli-
chen Organismus schlechter verarbeitet werden kann als
vom männlichen Organismus.
Liegt Ihre gewohnheitsmäßige, tägliche Trinkmenge höher,
betreiben Sie einen kritischen, riskanten bzw. schädlichen
Alkoholkonsum. Das Risiko für eine Vielzahl gesundheitli-
cher Schäden durch Alkohol und die Gefahr der physischen
und psychischen Gewöhnung an Alkohol ist dann bei Ihnen
deutlich erhöht.
Die schwersten alkoholbedingten Krankheiten, die durch
den gewohnheitsmäßigen, überhöhten Alkoholkonsum ent-
stehen, sind Erkrankungen der Leber, der Bauchspeichel-
drüse und des Herzens sowie die Schädigungen des Ner-
vensystems. Die Schädigung des Nervensystems durch
Alkohol kann sich z. B. äußern durch Kribbeln und Taub-
heitsgefühl in den Beinen. So war bei mir in der Beratung
eine gerade einmal zweiundzwanzigjährige Frau, die auf-
grund einer alkoholbedingten Nervenschädigung ein halbes
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Jahr im Rollstuhl saß. Es brauchte über ein Jahr, bis sie
durch abstinente Lebensführung und medikamentöse Be-
handlung wieder normal gehen konnte bzw. sich ihre Ner-
venzellen wieder regeneriert hatten.
Manch einer trinkt sich regelrecht um den Verstand. Dies
fängt mit gelegentlichen Aussetzern bzw. Gedächtnislücken
und Konzentrationsschwierigkeiten an und kann zu dauer-
haften Gedächtnisstörungen und Hirnschäden führen. Über-
höhter Alkoholkonsum führt nicht nur zu Rauschzuständen,
sondern im Entzug auch zum Delirium tremens. Dies ist ein
Wahnzustand, der durch optische Täuschungen (zum Bei-
spiel weiße Mäuse sehen) und akustische Halluzinationen
(zum Beispiel Stimmen hören) gekennzeichnet ist. Das Deli-
rium tremens kann ohne eine medizinische Behandlung zum
Tode führen. Dies sind nur die häufigsten körperlichen Fol-
gen des regelmäßigen und überhöhten Alkoholkonsums.
Alkohol schädigt den gesamten Körper. Nach dem Rauchen
und dem Bluthochdruck ist der Alkoholkonsum der drittgröß-
te Risikofaktor für gesundheitliche Schäden.
Der übermäßige Alkoholkonsum führt zudem zur erhöhten
Unfallgefahr, erhöhter Risikobereitschaft und zu Gewalttaten
unter Alkoholeinfluss. Allein in 2005 starben in Deutschland
603 Personen infolge so genannter „Alkoholunfälle“, dies
sind Verkehrsunfälle, bei denen zumindest einer der betei-
ligten Personen unter Alkoholeinfluss stand (DHS, Jahrbuch
Sucht 2007).
Die Gewalttaten unter Alkoholeinfluss reichen von Prügelei-
en unter Betrunkenen, Gewalt gegenüber dem Partner und
den Kindern, bis hin zur Tötung eines anderen Menschen.
So hatte ich vor Jahren in der ambulanten Behandlung zwei
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junge Männer, die ihre Freundinnen im Affekt und unter ho-
hem Alkoholeinfluss erwürgt bzw. erstickt haben. Alkohol
löst nicht nur Hemmungen, sondern setzt auch Aggressio-
nen frei, die sich manchmal über Jahre aufgestaut haben.
Auch ein gesundheitlich bzw. körperlich unbedenklicher Al-
koholkonsum kann eine Gefährdung darstellen. Wer täglich
Alkohol konsumiert, sei es auch nur in geringen Mengen,
läuft Gefahr, sich psychisch immer mehr an Alkohol zu ge-
wöhnen. Alkohol gehört dann schnell zu Ihrem alltäglichen
Wohlbefinden, wie selbstverständlich dazu. Ihr Alltag wird
immer mehr vom Rhythmus des Alkoholkonsums bestimmt.
Mit dem täglichen Konsum von Alkohol steigt mit der Zeit
auch die körperliche Verträglichkeit, es kommt zur soge-
nannten Toleranzsteigerung. Dies bedeutet, dass sich je-
mand, der regelmäßig Alkohol trinkt, immer mehr an den
Alkohol gewöhnt und mit der Zeit immer mehr „vertragen
kann“. Daher finden sich Personen, die mit über 1,6 Promil e
Auto fahren, subjektiv noch fahrtüchtig. Die hohen Zahlen
der Verkehrsunfälle und der Verkehrstoten, die auf Fahren
unter Alkoholeinfluss zurückgeführt werden müssen, bele-
gen das Gegenteil.
Der Betreffende braucht mit der Zeit immer mehr Alkohol,
um die gleiche Wirkung zu erzielen. Hierdurch kommt es oft
zur Steigerung der Trinkmenge. Alkohol ist dann nicht län-
ger Genussmittel, sondern wird zum Suchtmittel, von dem
der Betroffene immer mehr körperlich und psychisch abhän-
gig ist.
Die Gefahr alkoholabhängig zu werden beginnt da, wo Sie
Alkohol nicht als Genussmittel, sondern insbesondere we-
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gen seiner Wirkung konsumieren. Betroffene in der Bera-
tung und der Therapie geben meist folgende Gründe für
ihren regelmäßigen und übermäßigen Alkoholkonsum an:
„Alkohol erleichterte mir den Kontakt mit anderen Men-
schen, machte mich gesprächiger, half mir vom Alltagstrott
abschalten zu können, erleichterte mir Belastungen, Stress,
Leere und Einsamkeit besser ertragen zu können“.
Wie eine fünfzigjährige Frau, die sich zur Entgiftung in ei-
nem Krankenhaus befand, es ausdrückt: “ Früher habe ich
gelegentlich nach der Arbeit, mit Freunden oder bei Fest-
lichkeiten mal ein Glas Wein oder ein Bier genossen. Nach
der Scheidung von meinem Mann und nachdem mein Sohn
ein Alter erreicht hatte, wo er viel mit Freunden unterwegs
war, ich viel alleine zuhause war und nur noch vor dem
Fernseher saß, habe ich angefangen vermehrt Alkohol zu
trinken. Alkohol half mir die Langeweile und Einsamkeit
besser ertragen zu können“.
Alkoholabhängigkeit
Bei der Alkoholabhängigkeit unterscheidet man die körperli-
che und die psychische Abhängigkeit. Die körperliche Ab-
hängigkeit vom Alkohol äußert sich in sogenannten Ent-
zugserscheinungen. Der Körper gewöhnt sich mit der Zeit
an Alkohol und reagiert mit Entzug, wenn der Alkoholspiegel
nachlässt. Diese Entzugserscheinungen reichen von innerer
Unruhe, dem starken Verlangen wieder Alkohol zu trinken
bis zum morgendlichen Zittern der Hände, vermehrtem
Schwitzen, Schlafstörungen, Abgeschlagenheit, Übelkeit
und Angstgefühlen bis hin zu Krampfanfällen. Alkohol wird
dann oft schon am Morgen eingesetzt, um diese Entzugser-
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scheinungen zumindest vorübergehend wieder zu beseiti-
gen. Dies ist der „körperliche Teufelskreis der Sucht“.
Ich habe in der Beratung und in der Therapie mit vielen Be-
troffenen Kontakt, die noch nie Entzugserscheinungen hat-
ten, für sich jedoch trotzdem klar haben alkoholabhängig zu
sein. Die Frage der körperlichen Abhängigkeit bzw. ob und
wann jemand gesundheitliche Schäden durch Alkohol auf-
weist, wird nicht nur von der Menge und der Häufigkeit des
Alkoholkonsums, sondern noch von vielen anderen Fakto-
ren beeinflusst. Es spielt zum Beispiel eine Rolle, ob sich
jemand irgendwann fast nur noch durch Alkohol ernährt o-
der ob er auch noch normale Nahrungsmittel zu sich nimmt.
Der regelmäßige und überhöhte Alkoholkonsum führt jedoch
nicht nur zu körperlichen Folgeschäden, sondern auch zu
psychischen und sozialen Problemen. Alkohol verstärkt auf
Dauer genau das, wofür man ihn einsetzt und schafft dar-
über hinaus zusätzliche Probleme. Jemand der Alkohol ein-
setzt, um Ängste und Unsicherheit, Minderwertigkeitsgefüh-
le und mangelndes Selbstvertrauen zu überwinden, der traut
sich mit der Zeit nüchtern immer weniger zu. Wer aufgrund
beruflicher Probleme zum Alkohol greift, läuft Gefahr, hier-
durch irgendwann seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Wer sei-
ne Einsamkeit durch Alkohol glaubt erträglicher machen zu
können, der wird durch den überhöhten Alkoholkonsum im-
mer einsamer. Bekannte, Nachbarn und auch Familienan-
gehörige ziehen sich mit der Zeit immer mehr zurück. Wer
viel vertragen kann, ist ein ganzer Kerl, wer jedoch immer
wieder durch überhöhten Alkoholkonsum auffällt, der wird
gemieden, auf den zeigt man mit den Fingern. Betroffene
selbst ziehen sich immer mehr zurück, um in Gesellschaft
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nicht aufzufallen bzw. um es zu vermeiden, auf den über-
höhten Alkoholkonsum angesprochen zu werden.
Die Übergänge vom Genuss zur Gewöhnung bis hin zur
Abhängigkeit sind fließend. Auch derjenige, der vom Alkohol
abhängig wird, hat Alkohol nicht bewusst konsumiert, um
irgendwann einmal suchtkrank zu werden.
Meist erst, wenn die körperlichen, psychischen und sozialen
Folgeschäden durch den gewohnheitsmäßigen, überhöhten
Alkoholkonsum unübersehbar werden, fangen Menschen
an, sich mit ihrem Alkoholkonsum auseinanderzusetzen.
Manche jedoch nicht einmal dann. So hatte ich einmal einen
etwa 30-jährigen Mann in der Beratung, bei dem fast alles
zutraf, was man sich an Schäden durch Alkohol vorstellen
kann: überhöhte Leberwerte, körperliche Zusammenbrüche,
alkoholbedingte Nervenschädigung in den Beinen, wieder-
holter Verlust des Partners und der Arbeitsstelle durch Alko-
hol, Führerscheinverlust, Straftaten unter vermehrtem Alko-
holkonsum etc. Trotzdem sitzt der Mann mir in der Beratung
gegenüber und erklärt: “Sie haben recht, ich sollte etwas
weniger trinken, aber suchtkrank sein und abstinent leben,
nein, soweit ist das bei mir noch nicht“. Dieses Beispiel
zeigt, wie subjektiv es ist und wie unterschiedlich lange es
dauern kann, bis jemand zur Einsicht kommt, mit Alkohol
nicht mehr umgehen zu können.
Ich hatte nicht selten Menschen in der Beratung, die durch
ihren Hausarzt oder andere Personen die Diagnose Alko-
holabhängigkeit erhalten haben. Für sich selbst jedoch wa-
ren sie überzeugt, noch kein Problem mit Alkohol zu haben
bzw. noch kontrolliert mit Alkohol umgehen zu können. Die
persönliche Kapitulation, das Eingeständnis: Ich kann nicht
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mehr mit Alkohol umgehen, ich bin Alkoholiker, wird von
Betroffenen so lange wie möglich vermieden. Es würde ja
auch nicht nur bedeuten, zukünftig auf Alkohol verzichten zu
müssen, sondern auch, sich seinen persönlichen Schwierig-
keiten zu stellen. Genau dies versuchen Alkoholiker lange
Zeit durch den Alkohol zu vermeiden. Dies ist nach meiner
Einschätzung einer der Hauptgründe, warum alkoholgefähr-
dete und suchtkranke Menschen, trotz massiver Probleme
durch ihren Umgang mit dem Suchtmittel, solange warten,
bis sie Hilfe in Anspruch nehmen.
So kommt es, dass bei manchen Betroffenen über Jahre
Phasen des überhöhten Alkoholkonsums wechseln mit Pha-
sen der Abstinenz oder des reduzierten Konsums von Alko-
hol. Etwa 40 % der Personen, die mit einer Suchtberatung
Kontakt aufnehmen, brechen diesen Kontakt nach einem
oder mehreren Gesprächen wieder ab. Dies ist nicht nur
nach meinen Erfahrungen so, sondern auch bundesweit in
allen Suchtberatungsstellen zu beobachten. Manche Hilfe-
suchende melden sich erst nach Jahren wieder und erklären
meist schon am Telefon, dass sie zwischenzeitlich durch
entsprechende Erfahrungen erkannt haben, mit Alkohol
nicht mehr umgehen zu können bzw. dass sie eine Behand-
lung absolvieren möchten, um ihre Alkoholprobleme zu
überwinden.
Selbst nach wiederholter stationärer Behandlung und länge-
ren Zeiten der Abstinenz zeigt sich manchmal, dass die abs-
tinente Lebensführung des Betroffenen nicht gegründet ist
auf der persönlichen Einsicht, nicht mehr mit Alkohol umge-
hen zu können bzw. dem persönlichen Entschluss, auf Dau-
er ohne Alkohol leben zu wollen. Alkoholiker äußern dann
nach einem „Rückfall“ oft: „Ich habe die Therapie nur ge-
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macht, um meine Arbeitsstelle nicht zu verlieren“ – „Ich ha-
be abstinent gelebt, weil mein Partner gedroht hat mich zu
verlassen, wenn ich noch mal Alkohol trinke“, „ich habe abs-
tinent gelebt, um meinen Führerschein zurückzuerhalten“,
„ich habe die Therapie gemacht, um nicht in Haft zu müs-
sen“.
Die meisten Menschen, die zur Suchtberatung kommen,
haben bereits seit Jahren, oft schon Jahrzehnte vermehrt
Alkohol konsumiert. Die „Suchtspirale“, die sich meist über
10 bis 15 Jahre entwickelt, wird von Betroffenen so lange
wie möglich nicht gesehen bzw. geleugnet.
Alkoholiker versuchen oft auch durch ein Trinksystem sich
und der Umwelt zu beweisen, dass sie mit Alkohol kein
Problem haben. Sie trinken Alkohol nur zu bestimmten Zei-
ten, z. B. nur am Wochenende oder nur in Gesellschaft und
versuchen eine bestimmte Menge nicht zu überschreiten.
Selbst wenn dies jemand über einige Wochen und Monate
schafft, hat dies wenig mit gesundem bzw. kontrolliertem
Alkoholkonsum zu tun.
Kontrolliert mit Alkohol umgehen zu können bedeutet nicht,
eine Strichliste über die Häufigkeit und die Menge des Alko-
holkonsums führen zu müssen, um keine Probleme durch
Alkohol zu bekommen.
Es gibt zahlreiche Fragebögen, sogenannte Selbsttests zum
Umgang mit Alkohol, die Ihnen helfen können, Ihr eigenes
Trinkverhalten kritisch zu hinterfragen. Es handelt sich hier-
bei meist um eine Auflistung der bekannten körperlichen,
psychischen und sozialen Folgen sowie Kennzeichen der
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verschiedenen Phasen in der Entwicklung einer Alkoholab-
hängigkeit (siehe Arenz-Greiving).
Selbst, wenn viele der beschriebenen Faktoren auf Sie zu-
treffen, bleibt immer noch die entscheidende Frage:
„Sind Sie noch in der Lage Ihr Trinkverhalten dauerhaft auf
ein Maß und auf eine Häufigkeit des Konsums von Alkohol
zu reduzieren, sodass Sie hierdurch keine physische, psy-
chische oder soziale Probleme bekommen“?
Sind Sie hierzu dauerhaft, das heißt, nicht nur einige Wo-
chen lang, nicht mehr in der Lage, dann müssen Sie sich
eingestehen, dass Sie Ihren Alkoholkonsum nicht mehr kon-
trollieren können.
Dieser „Kontrollverlust“, seinen Umgang mit Alkohol nicht
mehr willentlich steuern zu können, ist der Übergang zwi-
schen Alkoholgefährdung und Alkoholabhängigkeit.
Der Kontrollverlust setzt meist nicht bereits beim ersten Glas
Alkohol ein und tritt auch bei den meisten Alkoholikern nicht
jedes Mal ein, wenn Alkohol konsumiert wird. Jedoch, wie
man bei den Anonymen Alkoholikern sagt: „Wenn der Alko-
holkonsum immer wieder zu Problemen führt, dann ist Alko-
hol das Problem“.
Der Konsum von Alkohol wird immer mehr zum zwanghaf-
ten Verhalten. Das Denken und Handeln konzentriert sich
irgendwann nur noch auf den Alkohol. Andere Interessen,
Freunde, Familie und Beruf werden immer mehr vernach-
lässigt. Gedächtnislücken, so genannte „Filmrisse“ nehmen
immer mehr zu. Auch die Anlässe, bei denen der Betroffene
glaubt, Alkohol zu brauchen, werden immer häufiger und
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nichtiger. Selbst „das schlechte Wetter“ muss dann dafür
herhalten, dass ein Alkoholiker glaubt, das Leben sei nur
noch mit Alkohol zu ertragen.
So frage ich in der Beratung den Hilfesuchenden zunächst,
ob er bereits einmal ernsthaft versucht hat, seinen Alkohol-
konsum zu reduzieren und welche Erfahrungen er hierbei
gemacht hat.
Nicht erst derjenige, der täglich eine bestimmte Menge Al-
kohol braucht, um sich wohlzufühlen, bzw. der glaubt, den
Schwierigkeiten des Alltags ohne den täglichen Konsum von
Alkohol nicht mehr gewachsen zu sein (sogenannte Spiegel-
trinker), ist Alkoholiker. Auch jemand, der tage- und wochen-
lang auf Alkohol verzichten bzw. scheinbar kontrolliert damit
umgehen kann, jedoch immer wieder phasenweise vermehrt
Alkohol konsumiert (sogenannte Phasentrinker, früher
„Quartalssäufer“ genannt) ist alkoholabhängig. Mit der Zeit
werden die Phasen der Abstinenz bzw. des scheinbaren,
kontrollierten Umgangs mit Alkohol immer kürzer und die
Phasen des massiven Alkoholkonsums werden immer län-
ger.
Auch die sogenannte Alkoholverträglichkeit kippt irgend-
wann. Zunächst kann jemand mit wachsender Gewöhnung
an Alkohol körperlich immer mehr „vertragen“, aber später
reichen geringe Mengen Alkohol, um einen Rauschzustand
auszulösen.
In der Gesellschaft hält sich trotz vermehrter Aufklärung
über Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit immer
noch das Bild vom Alkoholiker, der morgens am Kiosk steht,
seinen Flachmann oder eine Flasche Bier trinkt, körperlich
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runtergekommen, obdachlos und ohne Arbeit und Familie
ist. Dieses Bild eines Alkoholikers trifft nach meiner Erfah-
rung lediglich auf etwa fünf Prozent der Suchtkranken zu.
Den wenigsten Menschen, die ich in der Suchtberatung
kennengelernt habe, würde jemand ansehen, dass sie Alko-
holprobleme haben. Wie es auf einem Plakat des Caritas-
verbandes heißt „Aus ganz normale Familien kommen ganz
normale Suchtkranke“. Das Bild vom alkoholabhängigen
Obdachlosen hält sich wohl in der Gesellschaft so hartnä-
ckig, weil es hilft, nicht über den eigenen Umgang mit Alko-
hol nachdenken zu müssen. Es fällt hierdurch leichter sagen
zu können „so weit bin ich ja noch lange nicht“. Bei der ge-
schätzten Anzahl von 1,6 Millionen Alkoholikern in Deutsch-
land kann man jedoch eher davon ausgehen, dass fast jeder
in seiner Verwandtschaft oder zumindest in seinem Bekann-
tenkreis jemanden kennt, von dem er annimmt, dass er
Probleme im Umgang mit Alkohol hat. Auch in einer Selbst-
hilfegruppe finden Hilfesuchende immer jemand, wo sie sa-
gen können, so viel und so häufig habe ich ja nicht getrun-
ken oder so viele Probleme durch Alkohol habe ich ja noch
nicht. Gleichwohl finden Betroffene, wenn sie ehrlich zu sich
selbst sind, oft auch jemanden, von dem sie sagen müssen,
der hat ja wesentlich weniger Alkohol konsumiert und weni-
ger Probleme durch Alkohol als ich.
Es gibt für Sie, wenn Sie Probleme im Umgang mit Alkohol
haben, nur die Möglichkeit, aufgrund Ihrer persönlichen Er-
fahrungen sich darüber klar zu werden, alkoholgefährdet
oder bereits alkoholabhängig zu sein. Können Sie dies für
sich persönlich nicht akzeptieren, werden Sie weiter Alkohol
konsumieren.
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Jeder Mensch kann nur für sich persönlich entscheiden, wie
viele bzw. welche Probleme infolge des überhöhten Alko-
holkonsums entstehen müssen, bevor er bereit ist, ernsthaft
über seinen Umgang mit Alkohol nachzudenken bzw. sich
einzugestehen, mit Alkohol nicht mehr umgehen zu können.
2 Mögliche Ursachen der Sucht
Die Ursachen, die zur Entwicklung einer Alkoholabhängig-
keit führen können, sind so vielschichtig wie das Leben.
Auch den zeitlichen Übergang vom unproblematischen zum
überhöhten bzw. problematischen Alkoholkonsum können
Betroffene meist nicht genau benennen.
Zudem liegen Ursachen und Wirkungen des übermäßigen
Alkoholkonsums oft nahe beieinander. Körperliche, familiä-
re, berufliche, psychische und soziale Probleme sind mögli-
che Ursachen bzw. Hintergründe für die Entwicklung einer
Alkoholabhängigkeit. Bestehende Probleme werden durch
den gewohnheitsmäßigen und übermäßigen Alkoholkonsum
verstärkt. Die gleichen Probleme, die zur Abhängigkeit füh-
ren, entstehen oft erst durch den dauerhaften und übermä-
ßigen Alkoholkonsum.
Sucht und Abhängigkeit scheinen auch geschlechtsspezi-
fisch zu sein bzw. zu tun zu haben mit weiblicher oder
männlicher Prägung in der Kindheit und der Stellung von
Mann und Frau in der Gesellschaft überhaupt. So handelt es
sich bei der Alkoholabhängigkeit um eine Suchtform, von
der Zweidrittel Männer betroffen sind. Genau umgekehrt ist
dies bei der Medikamentenabhängigkeit, hier sind zu mehr
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als Zweidrittel Frauen betroffen. Bei den Glücksspielabhän-
gigen handelt es sich bei ca. 90 % der Betroffenen um Män-
ner. Von krankhaftem Essverhalten wie Anorexie (Mager-
sucht), Bulimie (Ess-Brechsucht) oder Adipositas (Fettsucht)
sind wiederum meist Frauen betroffen.
Kaufsucht, PC-und Internetsucht, Sexsucht, Arbeitssucht
sind Formen der Sucht, die noch nicht als Suchterkrankun-
gen anerkannt sind.
Alles, was man im Leben zu intensiv und zu einseitig be-
treibt, und was dazu dient, dem Alltag zu entfliehen, kann zu
zwanghaftem bzw. süchtigem Verhalten führen. Zu welchem
„Suchtmittel“ jemand greift, scheint eher zufällig zu sein
bzw. von den individuellen Lebensgegebenheiten abzuhän-
gen. So soll es in Amerika sogar Selbsthilfegruppen für
„flugsüchtige Ärzte“ geben.
Alkoholabhängigkeit ist wie jedes andere Suchtverhalten,
ein Versuch Probleme zu lösen, der nicht nur erfolglos ist,
sondern selbst zum Problem wird.