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Eine Stunde nach der Explosion konnten die Behördenangehörigen, deren Zimmer nicht betroffen waren, wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Währenddessen tigerte Oberstaatsanwalt Dr. Simon Kerner ruhelos im Dienstzimmer seines Vorgesetzen, des Leitenden Oberstaatsanwalts Armin Rothemund, auf und ab. Er trug noch immer die schwarze Amtsrobe und die weiße Krawatte, die er für die Schwurgerichtsverhandlung angezogen hatte. Durch den Alarm hatte er sich nicht umziehen können. Der grau-melierte Teppichboden dämpfte seine energischen Schritte nur dürftig.

Die beiden Männer waren ziemlich unterschiedlich.

Kerner, 46 Jahre alt, 182 cm groß, sportlich, um nicht zu sagen athletisch gebaut, kurze brünette Haare.

Rothemund, elf Jahre älter, 176 cm groß, mit schütterem Haarwuchs, figürlich eher mager, mehr der Typ zerstreuter Professor, im dunkelblauen Anzug, mit hellblauem Hemd und einer passenden Fliege.

»… es bleibt dem Schwurgericht jetzt gar nichts anderes übrig, als diesen Verbrecher freizusprechen. Ohne Mallepieri sind wir, was die Beweislage betrifft, so gut wie blank. Die Indizien reichen für eine Verurteilung nicht aus. Verdammter Mist! Mehr als zwei Jahre Ermittlungsarbeit praktisch für die Katz. Nach dieser Explosion – besser sollte ich sagen Hinrichtung – werden wir keinen Menschen mehr aus seinem Umfeld finden, der gegen Emolino auch nur die Stirne runzelt. Das Härteste ist, dass ich auch noch derjenige sein werde, der auf Freispruch plädieren muss. Ich hoffe nur, dass ich nicht die Beherrschung verliere.«

Er schlug sich wütend mit der geballten Hand in die Handfläche der anderen. »Ich kann mir diese Gaunervisage bildlich vorstellen, wie er bei der Urteilsverkündung auf der Anklagebank sitzt und feixt.«

Rothemund klopfte rhythmisch mit einem Füllfederhalter auf seine lederne Schreibtischunterlage. Auch ein Zeichen seiner immensen Anspannung. Allerdings hatte er in seinem langen Juristenleben, darunter die meiste Zeit in führender Position bei der Staatsanwaltschaft, schon einige Niederlagen einstecken müssen. Nicht immer war der Anspruch des Staates auf Strafverfolgung zu realisieren. Die Ermordung des Kronzeugen in der Emolino-Sache war allerdings bisher die spektakulärste Pleite. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es, je nach Temperament des zuständigen Staatsanwalts, Tage bis Wochen dauern konnte, bis man den Frust über derartige schlimme Erfahrungen überwunden hatte. Und Kerner war ein ausgesprochen ehrgeiziger Strafverfolger. Einer seiner Besten.

»Ist nun mal nicht zu ändern, Simon«, warf er ein. »Viel schlimmer ist der sinnlose Tod der drei jungen Polizeibeamten des Sondereinsatzkommandos. Zwei hinterlassen Frau und Kinder, wie ich gerade vom Polizeipräsidenten erfahren habe.«

Kerner ließ sich auf einen der Sessel fallen, die rund um eine Sitzgruppe platziert waren.

»Dafür wird mir dieses Schwein Emolino bezahlen!«

Er spuckte die Worte regelrecht aus.

»Ich werde keine Ruhe geben, bis wir diesen Verbrecher hinter Gitter bringen und den Schlüssel zu seiner Zelle wegwerfen können. Sicherungsverwahrung bis zum Lebensende! Keine Gnade! Die drei Männer und der Kronzeuge hatten keine Chance.«

Beide Männer wussten natürlich, dass dieser Ausbruch lediglich ein Ventil für die soeben erlittene Niederlage war. Die Entscheidung darüber, wie ein Urteil lautete, lag selbstverständlich im Ermessen des Gerichts und nicht im Wunschdenken eines enttäuschten Staatsanwalts.

»Die Kriminaltechniker, die schon vor Ort sind, haben bereits anhand des Ausmaßes der Explosion Vermutungen geäußert, dass das Fahrzeug von einer Rakete oder einer Panzerabwehrgranate getroffen wurde. Einzelheiten werden wir allerdings erst erhalten, wenn die Ermittler an das Fahrzeug herantreten können. Im Augenblick ist das immer noch eine Gluthölle. Das kann noch dauern. Ich habe mir aber sagen lassen, dass es mit entsprechenden Verbindungen kein Problem ist, sich so ein Geschoss auf dem schwarzen Markt zu besorgen.

Der Mörder muss sich in den Grünanlagen neben der Einfahrt versteckt gehalten haben. Man konnte die Stelle, wo er stand, genau ermitteln. Schuhabdrücke im regennassen Erdreich und die vermutlich durch den Raketenantrieb des Geschosses angesengten Büsche waren deutliche Hinweise. Die Zeiten, in denen die Mafiosi ihre Killer mit einer abgesägten Schrotflinte losschickten, sind lange vorbei.«

»Was mich viel mehr bedrückt, ist die Tatsache, dass dieser Abschaum offenbar genau wusste, wann der Gefangenentransport hier eintreffen würde. Die konkreten Uhrzeiten haben nur wenige Personen gewusst. Diese Verbrecher müssen von Insidern Informationen bekommen haben, womöglich sogar aus der Justizvollzugsanstalt.« Kerner schüttelte den Kopf.

Rothemund zuckte mit den Schultern. »Ich werde nach unserem Gespräch mit dem Leiter der Anstalt telefonieren. Es wird dann sicher interne Ermittlungen geben, aber es wird vermutlich nicht viel dabei herauskommen. Es gibt auch noch einige andere Möglichkeiten. Eventuell waren die Verteidiger oder deren Umfeld durchlässig. Der Gerichtstermin war ja zwangsläufig einer ganzen Anzahl von Leuten bekannt. Für eine entsprechende Summe ist eine unterbezahlte Sekretärin womöglich bereit, ein paar Informationen weiterzugeben.«

Rothemund wechselte das Thema. »Du denkst an die Pressekonferenz heute Nachmittag, die ich kurzfristig in Abstimmung mit der Frau Landgerichtspräsidentin einberufen habe? Der Vorfall wird heute Abend in allen Medien sein. Einige private TV-Anstalten haben sich auch angekündigt. Wir machen das im großen Besprechungsraum. Ich werde kurz einleiten, dann übergebe ich dir das Wort. Du schilderst lediglich den Sachverhalt mit den formaljuristischen Konsequenzen. Ich werde noch eine schriftliche Presseerklärung vorbereiten. Lies sie dir vorher bitte durch. Mir wäre recht, wenn du dich an das Konzept halten würdest. Emotionen sollten wir möglichst raushalten – zumindest vor der Presse. Du kannst sicher sein, dass der Generalstaatsanwalt und das Justizministerium jede veröffentlichte Zeile kritisch lesen werden. Da können wir uns keine Blöße leisten.«

Kerner verzog ärgerlich das Gesicht. »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung, mich mit dieser Pressemeute herumzuschlagen.«

Rothemund machte eine entschiedene Handbewegung. »Lieber Simon, da kommen wir leider nicht drum herum. Das gehört zum Geschäft. Das weißt du. – Übrigens, Kommissar Brunner wird auch dabei sein. Er soll ein paar Einzelheiten zum Anschlag berichten, dann haben die Herrschaften genügend Stoff für ihre Artikel. Ich werde abschließend erklären, dass wir das Ganze als ein verlorenes Scharmützel im Kampf gegen das organisierte Verbrechen betrachten, den Krieg aber selbstverständlich nicht verloren geben.« Rothemund legte eine kurze Pause ein, dann sprach er noch einen anderen Punkt an, der ihm seit dem Attentat auf der Seele brannte.

»Simon, die heutigen Ereignisse werfen auch Fragen auf, die deine berufliche Lebensplanung unter einem anderen Blickwinkel erscheinen lassen. Du hast dich ja auf mein Anraten hin auf die wegen Erkrankung des derzeitigen Amtsinhabers frei werdende Direktorenstelle beim Amtsgericht Gemünden am Main beworben. So wie ich die Signale aus dem Justizministerium beurteile, hast du gute Chancen, die Stelle auch zu bekommen. Dabei haben deine Erfolge in Bezug auf die Strafverfolgung der unterfränkischen Mafia eine wesentliche Rolle gespielt. Wir hatten ja darüber gesprochen, dass du einige Zeit in die Provinz hinausgehst, dir dort Erfahrungen als Behördenleiter aneignest und dann, wenn ich in einigen Jahren diese Behörde verlasse, mein Nachfolger wirst.«

Kerner nickte. Rothemund war ihm Freund und Mentor zugleich. Er hatte die überdurchschnittlichen Fähigkeiten Kerners als Jurist schon bald erkannt und gefördert. Kerner hatte gleich nach seinem Dienst als Zeitsoldat bei der Bundeswehr ein Jurastudium begonnen und innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen. Sein Examen hatte er mit einer Spitzennote abgelegt und war sofort bei der Staatsanwaltschaft in Würzburg eingesetzt worden. Zwischendurch hatte er einige Jahre als Richter am Amtsgericht Bamberg gearbeitet, um dann wieder an die Würzburger Behörde zurückzukehren. Dort hatte er es bis zum Oberstaatsanwalt und Vertreter des Behördenleiters gebracht. Eine Bilderbuchkarriere.

»Wir sind bei diesen Überlegungen natürlich davon ausgegangen, dass bis dahin das Verfahren gegen Emolino beendet und der Kerl verurteilt ist. Das wäre ein hervorragender Abschluss deiner Tätigkeit hier gewesen. Da die Entscheidung über die Stellenbesetzung in diesen Tagen fallen wird, solltest du dir Gedanken machen, ob du die Bewerbung unter den gegebenen Umständen aufrechterhalten willst. Du bist wie kein anderer in der Materie der Verfolgung dieses Verbrechers drin. Ich könnte mir vorstellen, dass man im Ministerium einer Entscheidung gegen den Direktorenposten nach den heutigen Ereignissen Respekt zollen wird. Meine Nachfolge ist für dich damit sicher nicht vom Tisch. Simon, im Augenblick wirst du hier gebraucht.«

Kerner erhob sich. »Ich muss dir ehrlich sagen, dass mir meine Karriere im Augenblick ziemlich egal ist. Glaube mir, Emolino zur Strecke zu bringen ist nach den heutigen Geschehnissen mein Hauptanliegen, noch mehr als zuvor.«

Er zog seine Robe aus und warf sie sich über den Arm.

»Armin, nimm es mir bitte nicht übel, dass ich dieses Thema zunächst hintanstelle. Jetzt müssen wir erst einmal diese Pressekonferenz hinter uns bringen. Danach werde ich nach Hause fahren. Ich benötige dringend zehn Stunden Schlaf. Die Vorbereitung auf den Prozess und jetzt das alles hier – das geht ganz schön an die Substanz.«

»Mach das, Simon. Aber denk daran, der Kampf muss weitergehen! Wir benötigen dafür motivierte Männer. Männer wie dich!« Er legte dem Oberstaatsanwalt väterlich seine Hand auf die Schulter und brachte ihn zur Tür.

Nachdem Kerner das Büro verlassen hatte, blieb der Leitende Oberstaatsanwalt noch eine ganze Weile mitten im Zimmer stehen und starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus. Von seinem Dienstzimmer bis zu der Stelle, von der der Schütze den Anschlag auf den Gefangenentransport durchgeführt hatte, war es Luftlinie nur eine kurze Strecke. Auch er hatte den Knall der Explosion und die Erschütterung des Gebäudes deutlich mitbekommen. Dieser Anschlag hatte ihm wieder einmal drastisch vor Augen geführt, wie verletzlich und angreifbar die Justiz dieser Republik war.

Er riss sich aus seinen Gedanken. Um Kerner machte er sich keine größeren Sorgen. Der würde sich seine Worte durch den Kopf gehen lassen und eine Entscheidung treffen, die der Sache dienlich war, da war er sich sicher. Nach einigen Tagen würde er den Schock überwunden haben und mit der ihm eigenen Zähigkeit die Ermittlungen gegen den Emolino-Klan weiterbetreiben. Als sein Vorgesetzter musste er nur ein wenig aufpassen, dass Simon Kerner die Sache nicht zu persönlich nahm.

Er griff zum Telefon und wählte eine Nummer im Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Über seine Verbindungen konnte er vielleicht schon einen Tipp erhalten, wie die Chancen Kerners im Auswahlverfahren um den Direktorenposten standen.

Blutiger Spessart

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