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Die Pressekonferenz dauerte fast zwei Stunden. Nach den offiziellen Statements verlangten die Journalisten noch persönliche Interviews. Wie erwartet, hatte Kerner der Pressemeute völlig beherrscht Rede und Antwort gestanden. Er war Profi, seine Befindlichkeit war seine private Angelegenheit.

Nur einmal reagierte er etwas irritiert. Eine Journalistin fragte ihn, ob es zutreffend sei, dass er sich an eine andere Justizbehörde versetzen lassen wollte. Innerlich stieß Kerner einen Fluch aus, weil diese Behörde, was die Geheimhaltung von Personalinformationen betraf, offenbar löchrig wie ein Schweizer Käse war. Äußerlich ließ er sich jedoch nichts anmerken und gab eine diplomatische Antwort, die man auslegen konnte, wie man wollte.

Er betrat sein Büro und warf verärgert die Unterlagen aus der Pressekonferenz auf den Besprechungstisch in der Ecke. Eigentlich hatte er jetzt sofort nach Hause fahren wollen, aber auf seinem Schreibtisch lagen einige rote Akten, die alle den Merkzettel »Eilt sehr« trugen. Seufzend ließ er sich in seinen Bürosessel fallen. Eine halbe Stunde würde er wohl noch investieren müssen.

In diesem Augenblick klopfte es an seine Tür. Kerner runzelte die Stirne. Welche Störung gab es jetzt schon wieder? Unwirsch brummte er ein halblautes »Herein«.

Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner steckte den Kopf herein und musterte den Mann hinter dem Schreibtisch.

»Kann ich noch einmal kurz …?« Der Kriminalbeamte war Leiter des Dezernats für das organisierte Verbrechen der Kripo Würzburg und hatte in dieser Eigenschaft an der Pressekonferenz teilgenommen. Der Fall Emolino gehörte schon seit Jahren zum Dauerbrenner seiner Abteilung. Er war nach der Pressekonferenz noch von einigen Journalisten in Beschlag genommen worden und hatte deshalb nicht mehr mit Kerner sprechen können.

»Wird sich wohl nicht verhindern lassen«, erwiderte der Oberstaatsanwalt jetzt gespielt brummig.

Der Kriminalbeamte grinste und schloss die Türe. Ohne Umstände näherte er sich der Sitzgruppe am Besprechungstisch und ließ sich unaufgefordert in einen der Sessel fallen. Brunner und Kerner kannten sich seit dem Tag, an dem Kerner in der Staatsanwaltschaft das Morddezernat übernommen hatte. Die beiden hatten sich im Laufe der Jahre kennen und schätzen gelernt und, das konnte man ohne Übertreibung sagen, dabei eine freundschaftliche Beziehung entwickelt. Die brummige Reaktion des Staatsanwalts beachtete Brunner gar nicht. Die brutale Hinrichtung des Kronzeugen in dem Verfahren gegen Emolino hatte auch den Kriminalisten schwer getroffen. Schließlich war dadurch die Ermittlungsarbeit mehrerer Monate weitgehend nicht einmal mehr das Papier wert, aus dem die Akten bestanden.

Kerner unterschrieb noch schnell einen Antrag auf eine richterliche Durchsuchungsanordnung, dann klappte er die Akten zu und legte sie in den Postauslauf. Ein Mitarbeiter würde sie später abholen. Er legte seinen Füllfederhalter in die Ablageschale und sah Brunner wortlos an.

»Ich hoffe, die Frage lautet: Wie machen wir weiter … und nicht ob? Oder?« Brunner beugte sich nach vorne und musterte Kerner durchdringend. Er war einige Jahre jünger als Kerner. Ebenfalls sportliche Figur, militärisch kurz geschnittene Haare, gekleidet in legerem Denim – damit entsprach er durchaus dem Klischee eines Serienkommissars aus dem Fernsehen. Das war aber auch alles, was er mit diesen Krachbumm-Typen, wie er sie nannte, gemeinsam hatte. Brunner war ein sehr fähiger Ermittler. Ein Kriminalbeamter mit menschlichem Tiefgang, psychologischem Einfühlungsvermögen und hoher Intelligenz.

»Simon, du hast mir ja anvertraut, dass du einen beruflichen Karriereschritt anstrebst. Ich hoffe aber, dass das mit den Ereignissen des heutigen Tages hinfällig ist. Wir können und müssen diesem verdammten Verbrecher und seiner sogenannten Familie das Handwerk legen! Früher oder später macht er einen Fehler und dann …«

Er machte eine bezeichnende Handbewegung mit seiner flachen Hand an seinem Kehlkopf vorbei. »Je dichter wir ihm aufs Fell rücken, desto eher wird das passieren. Die angrenzenden Dons in Bayern und Hessen sind massiv beunruhigt, wie ich aus Kollegenkreisen erfahren habe. Durch unsere intensiven Ermittlungen gegen Emolino bleibt das Interesse der Behörden auch an ihren Aktivitäten für sie unerfreulich wach. Das ist schlecht fürs Geschäft. Wenn Emolino so weitermacht, bekommen wir möglicherweise sogar Tipps aus dem Milieu. Er dürfte einigen Herren unangenehm aufstoßen. Also, Simon, kneifen gilt nicht!«

Kerner rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Eberhard, das hat nichts mit Kneifen zu tun, das weißt du. Im Prinzip hast du natürlich recht. Nimm es mir aber bitte nicht übel, wenn ich darüber noch ein paar Tage nachdenke. So eine Entscheidung kann man nicht übers Knie brechen.« Er wechselte das Thema. »Was willst du jetzt als nächsten Schritt unternehmen?«

»Auf jeden Fall den ganzen Klan weiter observieren. Wir sind im Augenblick noch in der glücklichen Lage, in der Sonderkommission ausreichend Beamte zu haben, sodass wir uns das leisten können. Allerdings brauchen wir schnelle Erfolge, andernfalls wird man uns die Männer abziehen. Diese Bande darf meiner Meinung nach keine Zeit haben, Luft zu holen!«

Kerner nickte. »Was machen eigentlich die parallelen Ermittlungen der Steuerfahnder? Wegen des Prozesses habe ich mich in den letzten Tagen nicht mehr darum kümmern können. Wir benötigen möglichst schnell wieder einen Grund für einen Haftbefehl, wenn Emolino jetzt freikommt. Ich befürchte, dass er sich sonst ins Ausland absetzt. Die nötigen Verbindungen zur amerikanischen Mafia hat er ja, wie wir wissen.«

Brunner erhob sich und schlenderte zum Fenster, von dem man einen guten Blick auf die angrenzenden Grünanlagen hatte.

»Die haben bei der letzten Durchsuchung von Emolinos Büro, als der Kerl in Untersuchungshaft saß, kistenweise Beweismaterial mitgenommen. Akten, Computer und dieses ganze Zeug. Das dauert Wochen, bis sie alles gesichtet haben. Wenn das mit Mallepieri geklappt hätte, wäre das alles überflüssig gewesen. Jetzt müssen die Jungs wieder ran.«

Der Oberstaatsanwalt nickte zufrieden, dann stand auch er auf und stellte sich neben Brunner. »Bleiben wir an diesem Dreckskerl dran, wie du gesagt hast. Vielleicht kriegen wir ihn auf der Schiene Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Bei Al Capone hat es damals ja auch so geklappt. Observiert ihn weiter und sorgt dafür, dass er die Überwachung auch mitbekommt. Irgendwann verliert er vielleicht die Geduld, dreht durch und macht einen Fehler! Der Bursche ist es nicht gewohnt, dass man ihm auf die Pelle rückt. Das ist Majestätsbeleidigung, das schwächt sein Ansehen in der eigenen Familie und die Beziehung zu den anderen Mafiafamilien. Man darf nicht vergessen, auch die Tatsache, dass sich einer seiner Männer uns als Zeuge gegen ihn zur Verfügung gestellt hat, ist eine große Blamage. Don Emolino, das Alphatier, ist angeschlagen.«

»Du kannst dich darauf verlassen«, gab Brunner zurück. »Meine Männer sind vor Ort und lassen ihn nicht aus den Augen. Sobald er das Haus verlässt, kleben wir an ihm wie die Kletten. – Was machst du jetzt?«

»Ich fahre nach Hause und schlafe mich erst mal aus. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich fertig. Dieser Mist geht ziemlich an die Substanz.«

Der Kommissar nickte verständnisvoll. Er kannte den Zustand sehr gut, wenn man mit aller Energie in einem Fall ermittelt hatte und einem dann der Verbrecher um Haaresbreite durch die Maschen schlüpfte.

»Du hörst wieder von mir.« Er winkte knapp, dann drehte er sich um und verließ das Dienstzimmer.

Kerner blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete das intensive Grün der Bäume, die nur wenige Meter von seinem Fenster entfernt wuchsen. Er konnte nur hoffen, dass die Männer im Transporter nichts mehr mitbekommen hatten. Da schloss er Mallepieri nicht aus. So einen Tod wünschte man niemandem.

Schließlich gab er sich einen Ruck und vertrieb die grüblerischen Gedanken. Er zog sein Anzugjackett an und verließ das Dienstzimmer. An der bewachten Pforte vorbei verließ er das Haus. Der diensthabende Justizwachtmeister nickte ihm freundlich zu.

Wenig später saß er in seinem schwarzen Land Rover Defender. Wie immer hatte er ihn auf der Straße geparkt, da er mit dem hohen, sperrigen Geländefahrzeug in der Tiefgarage Platzprobleme hatte. Die Stellplätze waren alle für Normalmaße ausgelegt. Dadurch befand er sich jetzt in der glücklichen Lage, über seinen Wagen verfügen zu können. Andere Justizbedienstete, die in der Tiefgarage geparkt hatten, konnten wegen des durch die Explosion verbogenen Tores mit ihren Fahrzeugen nicht das Haus verlassen. Der Eingang zur Tiefgarage musste erst wieder provisorisch gerichtet werden.

Von seinen Kollegen wurde er häufig belächelt, weil er mit einem derart unbequemen Fahrzeug fuhr, aber das störte ihn nicht. Simon Kerner war passionierter Jäger. Eine Leidenschaft, die ihn unter anderem dazu veranlasst hatte, seinen Wohnsitz mehr als fünfzig Kilometer von Würzburg entfernt zu wählen. Am Rande des Spessartdorfes Parten-stein hatte er sich ein Einfamilienhaus gemietet. So hatte er mit dem Wagen nur fünf Minuten in das von ihm angepachtete Hochwildrevier, wo er, wann immer ihm Zeit blieb, seiner Jagdleidenschaft frönte.

Zehn Minuten später war er auf der B 27 in Richtung Gemünden unterwegs und gab Gas. Der flotte Turbodiesel röhrte auf, und einhundertsechzig Pferdestärken trieben den schweren Geländewagen mühelos voran.

Blutiger Spessart

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