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7. Kapitel

Ich werde Chemiker • Ein Freund fürs

Leben • Die Sphäre Gottes • Brennende Probleme • Der Rosenkeller • Bierfassrollen und Jazz • Dersu Usala am Ropotamo • Der Prager Frühling in Budapest

Am 1. September 1967 nahm ich mein Chemiestudium auf. Wir waren knapp hundert Studienanfänger. Zusammengefasst waren wir in Seminargruppen mit je einem Assistenten. In diesen Gruppen fanden auch die Seminare zur Vertiefung des Stoffs der Vorlesungen statt. Diese Lerngemeinschaften blieben das ganze Studium organisatorisch zusammen, was durchaus den Vergleich mit der gerade beendeten Schule zuließ und später als »Verschulung der Universität« kritisiert wurde. Wir sahen das aber nicht so, sondern begannen unverzüglich, unsere regelmäßigen Seminargruppenfeten zu organisieren. Inhalte und Methoden wurden von den oberen Studienjahren übernommen. Wenn es Traditionen gab, musste man nicht unbedingt etwas Neues erfinden.

Die relativ hohe Zahl an Chemiestudenten ergab sich aus dem Plan der Regierung, in verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften Großforschungszentren zu errichten. Das Zentrum für Chemie sollte in Leuna entstehen. Da das Chemiestudium fünf Jahre dauerte, war es erforderlich, die entsprechende Zahl von Wissenschaftlern langfristig vorher auszubilden. Regierungschef war zu der Zeit Walter Ulbricht, und es war wohl dem Grunde nach seine Idee.

Eingebettet war das Ganze in die Dritte Hochschul­reform der DDR. Sie strebte eine umfassende Umgestaltung der Hochschulen an. Alle bürgerlichen Zöpfe sollten abgeschnitten werden. Das Studium wollte man im Rahmen der Hochschulreform von fünf auf vier Jahre verkürzen. Wir waren als Studenten daran nicht unbeteiligt und wurden aufgefordert, mitzumachen. Stundenlang diskutierten wir mit Professoren und Hochschullehrern über Studienpläne und Praktika.

Mit vertreten war die damals jüngste Professorin der DDR, Prof. Dr. Helga D. Das imponierte mir, denn sie war nicht viel älter als wir. Man erzählte sich von ihr, dass sie auf einer Dienstreise nach Berlin bei einer Reifen­panne aktiv beim Radwechsel mit zupackte, was sichtbare Spuren an ihrer festlichen Garderobe hinterließ. Damals ahnte ich noch nicht, dass sie wenige Jahre später meine Gutachterin für die Promotion sein und ich vorher mit ihr in einen heftigen politischen Streit geraten würde.

Wir Studierenden freuten uns, dass wir gefragt wurden und man Wert auf unsere Meinung legte. Im November 1967 hatten Studenten der Uni Hamburg bei der Einführung eines ungeliebten neuen Rektors ein Transparent enthüllt: Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren! Wir waren sicher, dass wir es besser konnten. Einige Zeit nach der Wende hatten wir ein Studienjahrestreffen und besuchten auch das »Traditionskabinett« der Universität. Angesichts der dort ausgestellten Devotionalien raunte mir unser alter Professor Egon U. eben diesen Satz über den Muff unter den Talaren zu. Er wusste, wovon er sprach.

Für jedes Studienfach in der DDR gab es feste Zulassungszahlen. Zugelassen wurde in der Regel nach den Ergebnissen der Aufnahmeprüfungen. Wir hatten also auch Pfarrerskinder und christlich orientierte Studenten im Studienjahr. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an zwei Mitschülerinnen aus der Erweiterten Oberschule. Die eine hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt Arabistik zu studieren. Dieses Fach gab es damals nur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Aufgenommen wurden aber nur zwei Bewerber. Sie schaffte das tatsächlich und arbeitete später in Kairo. Die andere hatte mich einmal mitleidig wegen meines arg ramponierten Portemonnaies angeblickt: »Wenn ich einmal Opernsängerin bin, kaufe ich dir von meiner ersten Gage ein neues!« Auch sie schaffte ihr hochgestecktes Ziel. Auf das Portemonnaie warte ich noch heute. Meinetwegen hätte es auch leer sein können.

Wer jemals das Industriegebiet Leuna in den 1960er Jahren gesehen hat, wird bestätigen können, dass diese Gegend nicht zu den landschaftlich schönen Gebieten gezählt werden konnte. Als wir einmal als Studenten eine Informationsreise nach Leuna unternahmen, besichtigten wir auch die chemischen Labors. Sie hinterließen auf mich einen niederschmetternden Eindruck. Meine Vorstellung von der Arbeit eines Chemikers in der Industrie war wohl zu romantisch. Aber noch war es nicht so weit mit diesen Forschungszentren.

In meiner Seminargruppe freundete ich mich mit einem Studenten an. Er war lang und dünn und ein begeisterter Basketballspieler. Albrecht war sehr klug und stand gewissermaßen über dem Stoff. Die Gegend, aus der er kam, war die Lausitz, und im Vergleich dazu war Jena eine Großstadt im Gebirge. Wir hatten beide genügend Zeit und viele gemeinsame Interessen. Ich wohnte zu Hause bei meinen Eltern, er im Studentenwohnheim. An den Wochenenden blieb er häufig in Jena. Die anderen Studenten fuhren nach Hause. Seine Bindungen an die Familie waren wohl nicht so eng, aber darüber schwieg er sich aus. Meine Mutter mochte ihn auch und lud ihn oft am Wochenende zu uns zum Mittagessen ein.

Alle Studenten – auch die *innen – bekamen 180 Mark ­Stipendium unabhängig von der Vermögenslage der Eltern. Davon konnte man locker die 10 Mark für das Wohnheim und die Essenmarken für die Mensa begleichen. Ein kleines Bier kostete 49 Pfennige und eine Bratwurst mit Brötchen 1,05 Mark. Relativ teuer waren die Fachbücher, vor allem dann, wenn sie aus dem Westen kamen. So kostete zum Beispiel der sogenannte Cotton/Wilkinson, ein Lehrbuch mit dem Titel Anorganische Chemie, um die 50 Mark. Das Lehrbuch für die Organik des US-amerikanischen Chemiker-Ehepaars Fieser war ebenso teuer. Das war aber auch noch erträglich, zumal Anorganische Chemie und Organische Chemie zeitlich auseinanderliegend gelehrt wurden. Oft wurden dann die Bücher von älteren Semestern an jüngere zu günstigeren Preisen verkauft.

Die Fiesers waren mir von Anfang an als Erfinder des Napalms suspekt. Napalm warf die US-Armee gerade über Vietnam ab, um die gooks auszuräuchern. gooks ­waren in den Augen der Amerikaner auch die Vietnamesen des Südens, die um ihre Freiheit kämpften. Die deutschen Nazis hatten sich da verständlicher ausgedrückt. Sie nannten Menschen, die nicht ihren rassistischen Maßstäben entsprachen, einfach »Untermenschen«. Wissen­schaftlich war an dem Buch der Fiesers nichts auszusetzen, Poli­tisches stand nicht drin. Trotzdem kaufte ich mir das Buch nicht, das mit dem Napalm nahm ich den Fiesers übel.

Dass Wissenschaftler sich an verantwortlichen Stellen an Kriegen beteiligten, war mir nicht neu, und eine ­Liste dieser Berühmtheiten wäre lang. Ich will nur an den ­Nobelpreisträger Fritz Haber erinnern, der so nebenbei für das Deutsche Reich den Giftgaskrieg erfand. Da war ich aber inkonsequent. Die Haber-Bosch-Synthese zur Herstellung von Ammoniak aus Luftstickstoff lernte ich auswendig.

Etwas anderes war es dagegen mit dem Lehrbuch der Anorganischen Chemie des Duos Holleman-Wiberg aus dem Westen. Ganz zum Schluss gab es ein kleines Kapitel über die Chemie der radioaktiven Elemente. Die Autoren beschlossen es mit dem Satz: »Man hüte sich aber, weiter in die Geheimnisse der Radioaktivität einzudringen, da man dann die Sphäre Gottes verletzt.« Damit schossen sich die Herren Chemiker freiwillig ins Bein. Mir ist es heute noch unverständlich, wie man als Wissenschaftler auf eine solche Idee kommen kann. Sonst aber war das Buch ohne Tadel. Klugheit, auch wenn sie noch so groß ist, schützt also nicht vor kapitalen Irrtümern.

Nicht einmal vier Wochen nach Studienbeginn wurde ich aus dem Labor zum Fachbereichsleiter gerufen. Er kam ohne Umschweife zur Sache und fragte mich nach meiner Reise nach Polen. Ich erzählte ihm, wie ich in diese missliche Lage gekommen war. Ich hatte den Eindruck, dass er der Sache keine große Bedeutung beimaß – und so war es auch. Er teilte mir mit, dass das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden sei. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Seine Ermahnungen, in Zukunft besser vorher nachzudenken, quittierte ich mit einem Kopfnicken. Nach nicht einmal zehn Minuten war ich wieder im Labor.

Das erste Studienjahr verging schnell, es gab viel Neues, und das Arbeiten im Labor machte Spaß. Das Institut für Anorganische Chemie war vor 1945 Amtsgericht gewesen. Das nebenan gelegene Untersuchungsgefängnis hatte seine Funktion behalten. Das führte manchmal zu Irritationen, da sich die Einsitzenden über den Gestank beschwerten, der aus den Abflüssen in ihren ­Zellen aufstieg. Die Gebäude hatten wohl ein gemeinsames Abwasser­system.

Benötigten wir im Labor einmal eine längere Pause, reichte es, drei Bunsenbrenner unter die Brandmelde­anlage zu stellen. Ertönte die Sirene, stellten wir sie wieder an ihren alten Platz und uns dumm. Das Haus wurde evakuiert, und wir hatten unsere Rauchpause.

Einmal geriet mein Freund Albrecht in Brand. Er hatte sich zu nahe an einen Brenner gesetzt, so dass sein ­Kittel Feuer fing. Ruhig stieg er vom Labortisch und verkündete: »Ich glaube, ich brenne.« Das entsprach den Tat­sachen. Die Menge an Wasser, die wir zum Löschen verwendeten, ging über die zum Löschen erforderliche weit hinaus, und er stand schließlich wie ein begossener Pudel vor uns. Der Kittel war hinüber und sein Hemd auch. Nur sein Unterhemd hatte ihn vor schweren Brand­wunden bewahrt. Das Hemd aus Dederon – das war die DDR-­Variante von Perlon – war geschmolzen und hatte sich fest mit dem Unterhemd verbunden. Seine Mutter schnitt später das verbrannte Stück heraus und ersetzte es durch grauen Stoff. Gewissermaßen blieb nur ein Vorhemd ­übrig, das er seelenruhig weiterhin trug.

1966 war sozusagen ein historischer Wendepunkt in der Nachkriegsgeschichte der Jenenser Universität. ­Studenten gründeten nach dem Kasseturm in Weimar den zweiten Studentenklub der DDR. Politisch korrekt waren es FDJ-Studenten, und der Klub hieß dann auch FDJ-Studentenklub Rosenkeller oder einfacher: Keller beziehungsweise Rose. Es war tatsächlich ein Keller: der alte Weinkeller der ehrwürdigen Gaststätte Zur Rose, die sich schon seit dem 16. Jahrhundert im Besitz der Universität befand und jetzt als Professorenkasino diente.

Zum fünfzigsten Jahrestag des Kellers versuchte ein zugereister Rektor der Universität den Anteil der FDJ und der Leitung der Universität, einschließlich der Partei­leitung der SED, herunterzuspielen, aber die meisten Festgäste wussten es besser und nahmen ihn nicht so recht ernst. Ohne die Erlaubnis staatlicher Stellen hätte es diesen Klub nicht gegeben. Das Geld allein, das die Univer­sität und die FDJ bereitstellten, machte es auch nicht, wenn man kein Material hatte. Eigeninitiative und Findigkeit und natürlich unzählige freiwillige Stunden waren notwendig. Von den Aktivisten der ersten Stunde machten einige nach ihrem Studium bemerkenswerte ­Karrieren: Einer wurde Parteisekretär an der Universität, ein anderer Thüringer Landesbischof, ein dritter verteidigte als Rechtsanwalt nach der Wende die von der BRD-Justiz angeklagte DDR-Obrigkeit.

In den Gründungsjahren des Kellers und lange darüber hinaus genossen die jeweiligen Rektoren die Hochachtung aller Klubmitglieder, weil sie dem Klub immer gewogen waren. Prof. Dr. Dr. Drefahl, ein Chemiker, bekam für seinen persönlichen Anteil an der Gründung des Klubs einen gedrechselten Ehrensessel in einer speziellen Nische. Auf einem Schild darüber stand in respektloser Zuneigung: Drefahl’n sei Stuhl. Er nahm oft die Gelegen­heit wahr, sich in diesen Stuhl zu setzen und mit den Studenten zu sprechen. Als der Mediziner Prof. Dr. Franz Bolck ihm auf dem Rektorposten folgte, wurde nur das Schild ausgetauscht: Ab nu’ Bolck’n seiner.

Genau dieser Studentenklub hatte es mir von Anfang an angetan. Bereits nach kurzer Zeit wurde ich in die Barmannschaft der Chemiker aufgenommen. Von meinem Zuhause hatte ich knappe fünf Minuten Fußweg bis zum Keller. Das erleichterte es beträchtlich, dort Stammgast zu werden. Noch wichtiger war diese kurze Strecke für den oft späten Heimweg im angeheiterten Zustand.

Es existierten mehrere Mannschaften, die einzelnen Fachrichtungen zugeordnet waren und aus fünf bis sechs Studenten und Studentinnen bestanden. Die Landwirte, die Chemiker, die Juristen und die Sportler hatten eine eigene Mannschaft. Eine Woche im Monat von Dienstag bis Sonnabend hatte jede Mannschaft Dienst und war für den kompletten Betrieb zuständig. Die Einnahmen wurden bei der Leitung der FDJ abgerechnet, die für den Klub ein separates Konto führte. Es gab einen symbo­lischen Stundenlohn. Das Trinkgeld konnten wir behalten, was sich bald als willkommene Aufstockung des Stipendiums erwies.

Wir hatten den Status einer Betriebsgaststätte und damit keine Polizeistunde. Das hatte einen unbestreitbaren Vorteil: Wir konnten den Klub so lange geöffnet halten, wie wir wollten, und – was in jeder anderen Gaststätte sonst üblich war – es kam keine Streife der Volkspolizei oder der Nationalen Volksarmee (NVA) zur Kontrolle der Gäste vorbei. Zutritt hatten unter anderem deshalb nur Studenten und Uni-Angehörige beziehungsweise geladene Gäste mit ihrem jeweiligen Partner. Ausnahmen waren natürlich immer möglich.

Soldaten, auch sowjetische, durften den Klub nicht betreten, denn dann hätte man auch den jeweiligen Armeestreifen den Zutritt gestatten müssen. Das war allerdings nicht unproblematisch. Der Chef der Volkspolizei drohte uns einmal nach einer großen Prügelei, die sich auf der Johannisstraße vor dem Rosenkeller fortgesetzt hatte, dieses Privileg zu streichen, sollten wir jemals die Polizei in unseren Klub zu Hilfe rufen müssen. Die Warnung verstanden wir unverzüglich und lösten unsere Probleme immer ohne Polizei. Den Krach, den wir unten in unseren Keller­räumen machten, konnte sowieso oben keiner hören.

Als einmal ein leicht angetrunkener sowjetischer Major in den Klub wollte, versuchte ich, ihm zu erklären, warum das nicht möglich sei. Er wurde wütend und beschimpfte mich als Faschisten. Ich ließ ihn trotzdem nicht hinein, obwohl mir mulmig wurde, denn er war bewaffnet. Schließlich trollte er sich krakeelend von dannen.

Jeden Sonnabend war Tanz. Wir achteten beim Karten­verkauf streng auf ein ausgewogenes Verhältnis von Mädchen und Jungen. Solotänzer waren ausgesprochen selten. Einen hatten wir aber doch: Er war Theologie­student, hatte rote Haare und einen Bart wie Wallenstein. Er kam öfter zum Tanz. Seine Begleiterin war die Frau eines Mediziners, der zu Hause lieber mit der elektrischen Eisenbahn spielte. Die Tanzeinlagen der beiden waren legendär, und man räumte ihnen auf der ziemlich engen Tanzfläche freiwillig Platz ein und schaute zu.

Es spielten die besten Bands der DDR zu für uns erschwinglichen Preisen, da wir immer unter Geldnot litten. Der Eintritt kostete selten mehr als eine Mark, da kam bei maximal zweihundert Gästen nicht viel zusammen. Trotzdem waren wir eine gute Adresse. Unsere Hausband war die schon erwähnte Band Tutti. Die spielten auch dann noch, wenn ihnen ein trunkener Student einen halben Liter Bier ins Saxophon goss oder sie selbst mehr getrunken hatten, als für ihre Musik notwendig war.

Der Bierkonsum im Klub war recht hoch, an manchen Abenden schenkten wir mehr als zehn Fässer Bier aus, das waren rund fünfhundert Liter. Als uns einmal kurz vor Mitternacht das Bier ausgegangen war, wurde ich beauftragt, ein neues Fass zu besorgen. Zu diesem Zweck hatten wir mit dem FDGB-Haus, einer Gaststätte, die nur wenige Hundert Meter von uns entfernt war, eine stille Vereinbarung, dass wir uns bei Bedarf ein Fass von ­ihnen holen könnten. Es klappte, und ich machte mich mit meinem Hundert-Liter-Fass auf den Rückweg. Da ich es ­natürlich nicht tragen konnte, musste ich es rollen. Um die Uhrzeit war in Jena kein Mensch mehr auf der Straße, also beschloss ich, das Fass quer über die Kreuzung zu rollen. Je kürzer der Weg, je geringer war die Gefahr, dass der Korken dem Druck nicht standhielt. Dummerweise lief ich einem Volkspolizisten direkt in die Arme. Mitten auf der Kreuzung hielt er mir einen dämlichen Vortrag über die Einhaltung von Verkehrsregeln auch auf leeren Straßen. Offensichtlich ärgerte er sich darüber, dass er bei Nacht hier herumlaufen musste. Den Wettstreit »Logik gegen Vorschrift« verlor ich. Als Trostpreis bekam ich eine Ordnungsstrafe über 5 Mark »wegen Bierfassrollens auf der Straße« – so der denkwürdige Text auf der Quittung. Gehorsam rollte ich das Fass zurück auf den Gehsteig und ordnungsgemäß über die Fußgängerüberwege. Ich hatte gerade die Tür zur Rose erreicht, als das Fass hochging. Einhundert Liter Bier verflossen im Rinnstein.

In diesen Jahren war Jena neben Berlin und Dresden eine der Jazz-Hochburgen in der DDR. Das hing vielleicht mit dem legendären Auftritt von Louis Armstrong in Berlin zusammen. Jena hatte aber mit den beliebten ­Jenaer Oldtimers und den Jenaer Dixieland Stompers zwei beliebte Jazz-Formationen, die im Studentenklub häufig zu Gast waren. Auch im Jenaer Volkshaus, dem größten Saal der Stadt, fanden Jazz-Konzerte statt. So entstand die Idee, den Keller für Jazz-Sessions zu nutzen.

Wir waren natürlich nicht in der Lage, die großen Jazzer selbst einzuladen. Aber vielleicht konnte man sie mit der Örtlichkeit beeindrucken? Mindestens zweimal gelang uns das. Wir schlichen uns in der Pause eines Konzerts von Kenny Ball im Volkshaus hinter die Bühne und machten den Musikern das Angebot, nach diesem Konzert bei uns im Keller weiterzujazzen. Bier und belegte Brötchen waren die Gage. Irgendeiner musste gepetzt haben, aber bereits um siebzehn Uhr sammelten sich die ersten Interessenten vor der Keller-Tür. Es war schon nach elf, als die Musiker eintrafen. Jeder, der in Jena Jazz machte, war erschienen und hatte auch ein Instrument dabei. Es war eine tolle Veranstaltung, die mindestens bis früh um drei ging. Ähnliches gelang uns dann noch einmal mit der Dutch Swing College Band aus Holland. Dann machte uns die Konzert- und Gastspieldirektion Gera einen Strich durch die Rechnung. Eigentlich hatten wir vor, mit ihnen einen Deal zu vereinbaren, um den illegalen Anstrich unserer Sessions zu vermeiden. Sie ließen sich aber darauf nicht ein. Wir wurden angewiesen, solche Aktionen in Zukunft zu unterlassen.

Im Sommer 1968 reiste ich im Urlaub nach Burgas in Bulgarien. Ich hatte dort eine Brieffreundin, die mich eingeladen hatte. Ich blieb aber nicht lange in Burgas, sondern nahm ein Angebot ihrer Freunde an, gemeinsam mit ihnen in einem Boot den Ropotamo hinaufzufahren. Der Ropotamo ist ein kleiner Fluss, der ins Schwarze Meer mündet. Die Gegend war unberührt und wunderschön. Sie war damals schon Naturschutzgebiet.

Wir fuhren zu dritt mit einem kleinen Boot mit ­Außenbordmotor von Burgas aus über mehrere Stunden immer an der Küste entlang bis an die Mündung des Flusses in der Nähe des Ortes Arkutino und dann noch einige ­Kilometer den Fluss hinauf. Ziel war eine kleine Hütte, die denen nicht unähnlich war, die wir als Kinder im Wald gebaut hatten. Die Wände bestanden aus arm­dicken Stangen, das Dach war mit Laub und langem Gras gedeckt, nur die Tür hatte schon in ihrem früheren Leben eine ähnliche Aufgabe gehabt. Warum sich jemand die Mühe gemacht hatte, sie in diese weglose Wildnis zu schleppen, war mir rätselhaft.

Der einzige Zeitvertreib war Angeln. Angeln war notwendig, da die mitgebrachten Vorräte sehr begrenzt waren. Aber es gab reichlich Fische, und die anderen drei waren gute Angler. Man konnte auch noch miteinander reden, aber die einzige Sprache, die alle einigermaßen beherrschten, war Russisch. Da hatten die Bulgaren zweifellos Vorteile gegenüber einem Deutschen.

Am ersten Abend gab es also zum Wein in Öl gebra­tenen Fisch mit Salz, Weißbrot und eingelegte Oliven. Das war alles recht passabel, doch als ich mir eine der eingelegten Oliven in den Mund steckte, wurde mir sofort übel – die Oliven waren ranzig. Es schwammen auch irgendwelche Fliegen in der Olivenbrühe herum, aber bei dem Petroleumfunzellicht hätten das auch Gewürze sein können. Das schien die anderen nicht zu stören, und ich versuchte verzweifelt, die erste Olive meines Lebens wieder loszuwerden, wobei ich einen ständigen Brechreiz unterdrücken musste. Schließlich blieb mir keine andere Wahl, und ich schluckte sie hinunter. Ich schwor mir, dass das auch die letzte Olive meines Lebens sein sollte. Zum Glück gab es in der DDR so etwas nicht im Konsum. Später musste ich diesen Schwur in die Kategorie »nicht erfüllt« einordnen, wo er sich dann in guter Gesellschaft mit vielen anderen nichterfüllten befand.

So vergingen ein paar Tage. Ich kam mir ein wenig vor wie Dersu Usala, der Taigajäger. Der war so etwas wie ein sowjetischer Lederstrumpf, allerdings nicht der von James Fenimore Cooper, sondern von einem Wladimir ­Arsenjew. Der Film über Usala lief Anfang der 1960er Jahre erfolgreich in den DDR-Kinos, obwohl es darin nur einen einzigen Schauspieler gab, der sich dazu auch noch selbst spielte. Dialoge waren bei dieser Besetzung nicht zu erwarten. Wir waren zwar drei, aber unsere Dialoge waren, wie gesagt, recht sparsam. Sonst stimmte fast alles. Nachts, auf der etwas muffig riechenden Decke, knisterte das Laub darunter laut in den Ohren, und ich merkte, dass wir nicht die einzigen Lebewesen in diesem Wald waren. Tagsüber saßen wir am Fluss, rauchten und ­angelten oder sammelten Brennholz. Der dürre Wald und die knochentrockenen Büsche waren eine beständige ­Warnung, achtsam mit dem Feuer umzugehen.

Schließlich brachte mich einer der Waldläufer mit dem Boot wieder hinunter an die Küste. Die beiden Bulgaren wollten noch bleiben. Ich stellte mich an die Straße und versuchte, zu trampen. Das war erfolglos. Die Autos, die vorbeikamen, konnte man an einer Hand abzählen, und die meisten fuhren auch noch in die andere Richtung. Schließlich lief ich bei sengender Hitze einfach in Richtung Burgas los.

Glücklicherweise gelangte ich bald an eine Bushalte­stelle, an der eine Menge Leute standen. Einen Fahrplan gab es nicht, aber Warten hatte ich gelernt. Der erste Bus, der kam, hielt nicht an – er war so überfüllt, dass die Fahrgäste schon draußen auf dem Trittbrett standen. Keiner regte sich auf. Beim zweiten Bus war es ebenso. Als der dritte Bus auch vorüberrauschte, begann ich, zu fluchen. Einer der Wartenden klopfte mir besänftigend auf die Schulter und riet mir, wenn ich es eilig hätte, solle ich einfach in die entgegengesetzte Richtung nach Rezovo – einem Ort nahe der türkischen Grenze – fahren. Dort drehe der Bus um, und ich könne gleich sitzenbleiben.

Ich wechselte die Straßenseite und war nun der Einzige an der Haltestelle. Der erste Bus hielt. Er war so voll wie die anderen vorher in der Gegenrichtung, aber er hatte gehalten, und so zwängte ich mich hinein. Als Trittbrett­fahrer fühlte ich mich ungeeignet, doch es wäre besser gewesen, hätte ich die Umstände geahnt, die mich im Inneren des Busses erwarteten. Ich stand eingezwängt zwischen bartstoppeligen verschwitzten Männern, die unglaublich heftig nach Knoblauch rochen und sich über die Köpfe hinweg lautstark unterhielten. Frauen waren scheinbar nicht im Bus, dafür Hühner und Enten, die das Ihre zu Lärm und Gestank beitrugen. Nach einer guten Stunde erreichten wir den Ort Rezovo. Der Bus leerte sich, und ich konnte mich endlich setzen. Der Lärm verebbte, der Geruch blieb. Ehrlich, wie ich war, ging ich zum Fahrer und bezahlte für eine Fahrt nach Burgas. Dass ich schon ein ganzes Stück mitgefahren war, sagte ich ihm nicht. Ehrlichkeit ist eben doch relativ.

Der Fälscher

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