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3. Kapitel

Butter gegen schwarze Strümpfe • »Aus

gutem Grund ist ›Juno‹ rund« • Mutters Hausmittel • Mein Cousin und die

Gesundheitsfürsorge in der DDR • Die Ruhr einmal nicht als Krankheit • »Waputa,

die Geierkralle« • Weiße »Ammerbacher« • Der schwarze Peter • Ein freundlicher

alter Nazi

An den Inhalt meiner Schultüte kann ich mich nicht erinnern, aber ich ging vom ersten Tag an gern in die Schule. Das Schulgebäude stand gleich neben der Kirche, wie sich das früher für ein ordentliches Dorf gehörte. Wenn man der alten Dorfchronik Glauben schenken kann, stand es dort schon seit 1667.

Unsere Dorfschule war 1955 noch eine Einklassen­schule. Die Kinder aller Altersklassen bis zur Klasse fünf saßen in einem Raum und hatten gleichzeitig Unterricht. Es gab auch nur eine Lehrerin. Sie unterrichtete alle ­Fächer, auch Turnen, denn wir verfügten auch über eine Turnhalle. Die zweite Respektsperson war die Reine­machefrau Hertha. Sie war klein, krummbeinig, etwas herrisch, aber niemals bösartig. War unsere Lehrerin kurzzeitig verhindert, saß Hertha am Lehrertisch und hatte alles im Griff. Sie wohnte im kleinsten Haus im Dorf, das früher einmal das Armenhaus gewesen war. Auch wenn es sich nun um eine sozialistische Einklassenschule handelte, das Schlagen der Kinder war verboten, ob mit oder ohne Rohrstock.

Ich erinnere mich an einen besonders heißen Sommer, vielleicht war es der von 1957. Vor der Schule hielt der Überlandbus, ein schwerer »Büssing«. Das stand vorn drauf, und lesen konnte ich schon. Er war immer krachend voll, denn er hatte eine ganze Reihe von Dörfern abzufahren, bevor er nach Jena zurückkehrte. Als er sich schwerfällig wieder in Bewegung setzte, knirschte es deutlich unter den hinteren Doppelrädern. Wir Ammer­bacher Schulkinder standen wie immer herum und konnten sehen, wie sich der Straßenbelag aus Braunkohlenteer, mit Splitt vermischt, langsam wie ein nasser Lappen um die Räder wickelte. Der Busfahrer bemerkte es erst, als nichts mehr ging. Endlich war wieder mal etwas los!

Alle Fahrgäste mussten aussteigen, und am nächsten Morgen wurde der Bus abgeschleppt. Bald darauf kam das Teer-Auto, um den Schaden zu reparieren. In die beiden langen Furchen, die der Bus hinterlassen hatte, wurde Splitt geschaufelt. Dann kam ein Arbeiter mit einem Schlauch und einer Teerspritze, mit der er die lauwarme Teerbrühe über die Steine verteilte. Ein zweiter Arbeiter walzte das Ganze fest. Wir standen da, barfuß und in Turnhosen, popelten in der Nase und beobachteten den Vorgang. Plötzlich grinste der Arbeiter mit der Teer­spritze und fragte uns, ob wir schwarze Strümpfe haben wollten. Das war doch mal was! Natürlich wollten wir. Nach wenigen Minuten hatten wir prima schwarze Strümpfe bis zum Knie. Die Straßenarbeiter lachten sich kaputt, und wir freuten uns nicht minder.

Meine Mutter freute sich nicht. Das einzige Haus­mittel, was ihrer Meinung nach gegen Teerstrümpfe half, war Butter. Zwei Pfund Butter waren nötig, um die Strümpfe zu entfernen. Die Butter kam aus der Sowjetunion und wurde in Kisten in den Konsum geliefert. Sie war so heftig gesalzen, dass man das sogar durch die Marmelade hindurchschmeckte. Viele Jahre später erkannte ich diese Butterkisten wieder, doch da waren sie dunkelgrün, und es war Munition darin.

Einmal entdeckte ich im Waschhaus in einer Ecke einen Stapel Zigarettenpackungen. Es handelte sich um Zigaretten der Marke »Juno«. Ich belauerte diesen Stapel ­lange, aber eines Tages schnappte ich mir doch eine Schachtel. Mit meinen beiden Freunden, Günter und Wolfgang, wollte ich versuchen, zu rauchen. Zuerst probierten wir es, ohne die Zigaretten anzuzünden, das hatte aber keinen Reiz, also pafften wir dann richtig. Wir hatten uns ein passendes Versteck ausgesucht und dort auch unsere Raucherutensilien deponiert. Wir qualmten wie die Schlote, bis wir einen ekligen Geschmack im Mund bekamen.

Langsam sprach sich unsere Unternehmung unter den anderen Freunden herum, und ich verteilte generös »Juno«-Zigarettenpackungen aus dem Waschhaus, die mit Sicherheit aus dem Konsum meiner Mutter stammten. Natürlich kam alles heraus. Die Zigaretten waren – weil zu feucht gelagert – abgeschrieben worden. Mein ­Vater hatte einfach vergessen, sie wegzuwerfen. Ich musste nun im ganzen Dorf herumlaufen und bei meinen Freunden die Packungen wieder einsammeln. Wie peinlich!

Mutter hatte eine unverstellte und unkritische Haltung zu Hausmitteln. Die Quelle war natürlich Elsa und ihr dickes Doktorbuch, in das ich nur heimlich Einblick nehmen konnte. Darin waren eine Frau und ein Mann abgebildet, bei denen man die Gedärme herausklappen konnte. Das war lustig. Wer Mann oder wer Frau war, konnte man nur am Kopf erkennen, die äußeren Geschlechtsteile waren irgendwie nicht vorhanden.

Als ich einmal eine größere Brandblase an der Hand hatte, sollte eines dieser Hausmittel zum Einsatz kommen. Gegen Brandblasen helfe nur essigsaure Tonerde, meinte Mutter. Meine chemischen Kenntnisse waren zu der Zeit gleich null, und ich hatte Schmerzen. Meine Mutter hatte auch keine Ahnung und keine essigsaure Tonerde, aber sie wollte mir helfen. Essig hatte sie. Dass auf der Flasche »Essigessenz 40 Prozent« stand, war für sie nicht so bedeutend, und ich bekam einen Umschlag mit dem sauren Konzentrat – ohne Tonerde –, das mächtig in der Nase stach. Der Schmerz wurde nicht schwächer, höchstens anders. Und die Blase vergrößerte sich merklich.

Schließlich musste doch der Arzt helfen. Mutter und ich hielten dicht, wir hatten den verräterischen Geruch mit viel Wasser bekämpft und nannten das experimentelle Hausmittel nicht. Schmerzen und Blase waren bald vergessen. Später als Chemiker wusste ich, dass das mit der essigsauren Tonerde aus dem Doktorbuch korrekt war, nicht aber die freie Interpretation meiner Mutter.

Eines Tages kündigte sich Besuch aus dem Westen an. Tante Inge – diesmal eine echte Tante, die Schwester meiner Mutter – kam mit ihrem Sohn Wolfgang aus Essen zu uns. Wolfgang litt unter den Folgen der Kinderlähmung. Die Familie hatte schon viel Geld für Operationen ausgegeben, aber die Probleme waren nicht kleiner geworden. Als Tante Inges Arzt erfuhr, dass sie eine Schwester im Osten hatte, riet er ihr, doch dorthin zu fahren. Das ­Gesundheitssystem »in der Zone« sei sehr gut.

Wolfgang wurde in Jena den Ärzten vorgestellt, und die Ostmediziner verschrieben dem Westkind auf DDR-Staatskosten eine vierwöchige Kur bei uns im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Wir bekamen dadurch Zeit, uns ausgiebig kennenzulernen und herumzustromern. Das tat uns beiden gut. Als die Ärzte rieten, die Kur kostenlos zu verlängern, verstand meine Tante Inge das offensichtlich falsch und trat den Rückzug in Richtung Westen an. Sie war nicht davon zu überzeugen, dass das ein wirklich gutgemeinter Vorschlag war. Offensichtlich hatte die Indoktrination auch im Westen Deutschlands bereits erhebliche Erfolge erzielt. So kinderlieb konnte der Osten ihrer Meinung nach gar nicht sein. Vielleicht hatte sie Angst, dass sie irgendwo in Sibirien landen würde.

Als Ostkind musste ich dann natürlich die Schluck­impfung gegen Kinderlähmung mitmachen, die gerade in der DDR zwangsweise eingeführt wurde. Zu diesem Zweck kam eine Krankenschwester in die Schulklasse und verpasste jedem ein Schnapsglas voll mit einer trüben Flüssigkeit, die erbärmlich schmeckte. Die Kinderlähmung war schließlich in der DDR ausgerottet. Jetzt ist sie wieder da. Auch die Tuberkulose galt als aus der DDR verschwundene Krankheit. Der Grund war die gesetzliche Impfpflicht, der man sich auch mit Tricks nicht entziehen konnte. Dazu war das repressive System zu gut eingefädelt worden. Nach der Wende war die erste schwere Erkrankung, die sich meine Frau einhandelte, eine ­Tuberkulose. Auch diese Infektionskrankheit ist also wieder auf dem Vormarsch.

Kurz nachdem der Besuch aus dem Westen wieder fort war, hatte ich das Glück, mit meinem Vater nach Westdeutschland zu reisen. Die Mauer gab es noch nicht, und so fuhren wir mit dem Interzonenzug hinter den Eisernen Vorhang, oder wir fuhren davor – je nachdem, aus welchem Fenster man schaute. Vater wollte seine Eltern besuchen. Zwischenaufenthalte waren bei meiner anderen Westoma und bei meiner Tante Inge und meinem Onkel Ernst geplant.

Die Eltern meines Vaters hausten in Stuttgart-Bern­hausen in einer ähnlichen Baracke für Zwangsarbeiter wie jene bei uns im Dorf, die nun als Kindergarten fungierte. Dort, am Rande des Flugplatzes, gab es mindestens zwanzig solcher Behelfsunterkünfte, alle belegt mit »Vertriebenen«, die bei uns »Umsiedler« hießen. Dieses leidige Thema hat mich später noch oft beschäftigt.

Großvater war fast siebzig. Neubauernstellen wie im Osten gab es für sie in Westdeutschland nicht; hier wurde kein Land verteilt, und die, welche Land hatten, teilten nicht freiwillig mit ihren Brüdern und Schwestern aus den deutschen Ostgebieten. In der DDR wurde das dazu notwendige Land den Junkern und Großbauern einfach weggenommen. Die meisten von denen übersiedelten deshalb lieber in den Westen. Bis zu ihrem Lebensende blieben meine Großeltern als Vertriebene in dieser Ba­racke. Statt Russen liefen dort am Flugplatz Amis herum, und statt roter Sterne gab es Kaugummis.

Mein Großvater war klein und untersetzt, man sah ihm den Bauern deutlich an. Meine Großmutter dagegen war lang und hager, war schwarz gekleidet, als käme sie direkt vom Friedhof, und trug ein ebenso schwarzes Kopftuch, das so eng um den Kopf herum anlag, dass man kein Haar sehen konnte. Mein Vater erzählte mir später, dass er sie ganz selten ohne Kopftuch gesehen hätte. Bei ihr wäre ein Kopftuchverbot wohl ebenso aussichtslos gewesen, aber Großmutter war ja katholisch und kannte Mohamed und seine diversen Nachfahren nicht. Sie versuchte, mir das Musizieren mit der Maultrommel beizubringen. Dazu klemmte sie sich ein Gummiband zwischen die Zähne und zog es straff. Zupfte sie dann das Band, ähnlich wie bei einer Gitarre, konnte sie mit wechselnder Mund­öffnung unterschiedliche Töne erzeugen. Ich fand die dabei auftretenden technischen Probleme lustiger als die Töne, die sie hervorbrachte. Großmutter trug nämlich ein ziemlich schlechtsitzendes Gebiss. Manchmal fanden wir das Gebiss erst nach langer Suche wieder …

Ich lernte auch meine Tante Mizzi kennen, die zwei Kinder in meinem Alter hatte und in der Nachbarbaracke wohnte. Als wir uns von Stuttgart verabschiedeten, war ich froh. Ich konnte jetzt ein wenig besser verstehen, was es bedeutete, zu Hause zu sein.

Die Stadt Essen machte damals auf mich den gleichen Eindruck, wie wohl zur Wende die Stadt Borna bei Leipzig auf einen Westbesucher. Die Ruhr war mir als Krankheit bekannt. Als ich sie als Fluss kennenlernte, erkannte ich sofort die großen Ähnlichkeiten zwischen beiden. Trotzdem spielte ich mit meinem Cousin Wolfgang dort ausgiebig. Jeder hatte zwei Indianer. Am ersten Tag hatte Wolfgang mir von seinen vier Indianern zwei abgegeben. Zum Abschied schenkte er mir noch ein Fahrten­messer mit Hirschhorngriff. Man konnte damit keine Äpfel schälen und auch nicht schnitzen, aber als Andenken und zum Vorzeigen war es gut. Ich habe es heute noch und leihe es ab und zu meinem Enkel Anton. Die Indianer sind mir allerdings abhandengekommen.

An den Besuch bei meiner anderen Westoma in Ellwangen an der Jagst erinnere ich mich kaum. Ich konnte sie nicht leiden, das erwähnte ich ja bereits.

Keine guten Erinnerungen habe ich auch an die Bekleidung, die mir meine Verwandten auf diesem Teil unserer Reise verpassten. Die Lederhose konnte ich noch ­akzeptieren, die war praktisch, aber bei den Hosen­trägern hörte es schon auf. Die Verzierungen mit Edelweiß und grüner Filzborte fand ich hässlich. Die gestrickten Waden­wärmer, die angeblich »Loferl« hießen, und die dazugehörigen Haferlschuhe waren in meinen Augen der Gipfel. Ich konnte in beiden nicht gut laufen. Die Schuhe wurden natürlich bei »Salamander« gekauft. Zur ­Anprobe stellte man den Fuß mit dem neuen Schuh in eine Kiste und konnte dann seine Fußknochen mit dem Schuh auf dem Bildschirm betrachten und mit den Zehen wackeln. Ich kannte das schon, nur anders. In der DDR hieß das »Röntgen-Reihenuntersuchung«. Man nahm aber dort nicht die Füße ins Visier, und es wurde auch nicht kontrolliert, ob das Hemd passte. Vater tat dazu sein Übriges, meine Abneigung gegen die Schuhe zu vergrößern, indem er die überlangen Senkel so fest zuschnürte, dass mir die Zehen einschliefen. Die Enden stopfte er überflüssigerweise noch mit seinen großen Fingern hinter den Schuhrand. Das hatte er wohl zu Hause so gelernt.

Zu Hause, in Thüringen, wieder angekommen, verschwanden die Hosenträger, das alberne Jäckchen mit den Hornknöpfen und die »Loferl« auf für meine Mutter unerklärliche Weise. Nur die Schuhe konnte ich nicht beseitigen. Ich ignorierte sie, so gut es ging.

Meine Lehrerin entdeckte in mir Fähigkeiten, über die ich mir selbst keine Gedanken machte, doch sie hielt es für angebracht, mich für eine andere Schule zu empfehlen. Eine Schule mit erweitertem Russischunterricht wäre genau das Richtige für mich, meinte sie. Einen Haken hatte die Geschichte aber doch: Die Schule befand sich in Jena, und das erschien einem Dorfjungen wie mir unendlich weit entfernt, die schlechte Verbindung dorthin nicht einmal mit eingerechnet.

Meine Eltern waren dennoch einverstanden. Aus mir sollte schließlich einmal »etwas Besseres« werden als aus ihnen. Dieser Wunsch ist wohl allen Eltern eigen. Mein Vater war zu der Zeit nach der damals üblichen DDR-Skala als Arbeiter eingestuft, und Arbeiterkinder wurden besonders gefördert. Als Schüler der zweiten Klasse einer einklassigen Dorfschule hatte ich keine schlagkräftigen Argumente dagegenzusetzen. Aber der Sommer ging ­vorüber, die Ferien waren vorbei, und niemand hatte sich bei mir wegen dieser anderen Schule gemeldet.

So ging ich pünktlich am 1. September um acht Uhr wieder in meine geliebte Dorfschule quer über die Straße. Die Lehrerin war entsetzt, als sie mich in meiner Bank sitzen sah. Sie sagte sofort, das würde sie umgehend klären. Die erste Woche war noch nicht vergangen, da hatte sie es geklärt, und ich machte mich auf den Weg zur Grete-­Unrein-Schule nach Jena in die neue Russischklasse.

Der Weg war für mich nicht gänzlich neu, aber ungewöhnlich lang: Einen knappen Kilometer Fußmarsch bis zur Bushaltestelle, eine relativ kurze Busfahrt und dann noch einmal anderthalb Kilometer zu Fuß den Saulauf – der hieß tatsächlich so – hinunter um den Friedensberg herum bis zur Schule.

Einen Teil der Strecke kannte ich schon, das war meine Route zum Friseursalon Benthin. Für fünfzig Pfennige musste ich mir dort regelmäßig die Haare schneiden lassen, obwohl ich das unnötig fand und das Geld lieber für etwas anderes ausgegeben hätte. Meistens durfte ich eine Weile warten, bevor ich drankam. Diese Zeit verbrachte ich damit, in den dort ausgelegten Zeitschriften herumzustöbern. Besonders angetan hatte es mir Das Magazin, eine in der DDR überaus beliebte Zeitschrift, die seit 1954 einmal im Monat erschien. Ich wusste genau, dass in jeder Nummer eine Seite mit einer abgebildeten nackten Frau enthalten war. Komischerweise fehlte im Magazin-Exemplar des Friseurladens immer genau diese Seite. Ich traute mich aber nicht, den Friseur danach zu fragen. So nahm ich dann eben mit einer im Magazin enthal­tenen Bildergeschichte über die Bonner Ultras vorlieb. Sie hieß »Waputa, die Geierkralle«. Als politisch gebildeter DDR-Schüler erkannte ich die halbe Regierung der BRD wieder, nur wurde sie im Comic mit viel lustigeren Namen ausgestattet. »Ollenkott« war der Erich Ollenhauer von der SPD, und der »Häuptling der Bösen« war »Conny« Adenauer.

War ich endlich an der Reihe, wurde ich meistens zwischen zwei alten Herren in einen der hohen Lederstühle platziert, wobei mir noch eine Kiste unter den Hintern geschoben wurde, damit sich mein Kopf auf der Höhe der Rentnerköpfe zu beiden Seiten befand. Der Friseur konnte dann von dem Alten links, dem er gerade mit einem Rasiermesser den Bart abschabte, zu dem Herrn rechts wechseln, dem er den Kopf wusch. Kam er dabei an mir vorbei, schnippelte er an meinen Haaren herum, wobei er mit einer handbetriebenen Haarschneidemaschine die Haare mehr herausriss als abschnitt. Dabei quasselten sie unablässig vom Fußball. Davon hatte ich nun keine Ahnung, und ich war froh, wenn ich wieder mit kühlem Kopf meinen Heimweg antreten konnte.

Nach wenigen Monaten zog meine Klasse in die Adolf-Reichwein-Schule um. An dieser Schule fuhr der Bus vorbei, und so blieb nur noch der Fußweg zur Haltestelle übrig. Diese Schule hatte einen ganz besonderen Vorteil: Schräg gegenüber gab es einen Eckladen mit einem Bäcker, bei dem man Kümmelbrötchen kaufen konnte, herrlich knusprig, mit Kümmel obendrauf und Salzkristallen, das Stück für einen Fünfer. Jahre später fand ich genau solche Kümmelbrötchen wieder, bei einem Urlaub in Mähren. Mähren und Thüringen sind sich nicht nur darin irgendwie ähnlich, glaube ich.

Meine Mutter war zu dieser Zeit Hausfrau, und mein Vater verdiente als Glasarbeiter 350 Mark brutto im Monat. Das war für eine Familie mit drei Kindern wahrlich nicht viel. Ich bekam Freifahrtscheine für den Bus, jeden Monat ein Päckchen, dick wie ein Abreißkalender. Einmal fuhr mein Vater – weil er verschlafen hatte – mit einem Fahrrad zur Arbeit, um nicht zu spät zu kommen. Das Fahrrad stand eigentlich bei uns im Konsum zum Verkauf, aber selbst den Bauern war es zu teuer, also stand es herum. Es kostete 280 Mark, einen ganzen Monatslohn. Meine Eltern brauchten lange, um diese Summe zusammenzusparen. Dann kauften sie das Fahrrad. Danach stand es eigentlich immer noch herum. Ich kann mich nicht erinnern, meinen Vater jemals gesehen zu haben, wie er damit zur Arbeit fuhr. Ich selbst war nicht an dem Gefährt interessiert. Meine Fahrräder waren aus den Einzelteilen zusammengeschraubt, die die Bauern auf dem Müllplatz in den »Backsteinländern« weggeworfen hatten. Solche Räder hatten alle Jungen meines Alters im Dorf.

Die »Backsteinländer« waren ein Gebiet außerhalb des Dorfes, auf dem der aus dem Coppanzer Tal kommende Bach in Jahrtausenden weißen Schwemmkalk abgelagert hatte. Die Schicht war meterdick und der weiße Schlamm für die Herstellung luftgetrockneter Ziegelsteine vorzüglich geeignet. Diese Ziegelsteine, auch »Backsteine« genannt, wurden in vielen Dörfern um Ammerbach in die Fachwerkhäuser und -scheunen verbaut und hießen also genauso wie die Einwohner »Ammerbacher«. Mit dem Aufkommen gebrannter Ziegel aus Ton versiegte dieser Erwerbszweig, und die Bauern nutzten nun das Gelände als Müllplatz. Für uns Kinder war das eine wahre Schatz­truhe. Bauern werfen nur etwas auf den Müll, wenn man es noch gebrauchen kann, dachten wir damals.

Einmal fanden wir einige Kugellager, etwas rostig und festgefahren, aber das schien nicht hoffnungslos ­ir­reparabel zu sein. Mein Freund Peter suchte sich ein besonders schönes Stück aus, und es verschwand in seiner neuen Trainingshose. Leider vergaß er es dort, obwohl er beim Spielen die Hose ständig hochziehen musste, weil das Kugellager sie herunterzog. Als wir bei ihm zu Hause ankamen, schafften wir es nicht, an seiner Mutter vorbeizukommen. Wir sahen wie üblich nicht besonders sauber aus, und seine pingelige Mutter war deshalb außer sich. Er musste seine Hose ausziehen, und sie schlug ihm die verdreckte, ehemals neue Trainingshose um die Ohren. Jetzt erinnerten wir uns wieder an das Kugellager, leider zu spät. Peter fiel um. Sie änderte die Tonlage und kniete sich schluchzend neben ihr Peterle. Der blinzelte mir mit einem Auge zu, also lebte er noch. Das war für alle schließlich beruhigend.

Kinder vergessen leicht, auch wenn ihnen ihre Spielkameraden tatsächlich einmal Leid zugefügt haben. Das schon erwähnte Peterle hatte einen Roller zum Geburtstag geschenkt bekommen. Er gab damit an wie mit einer Tüte Mücken. Natürlich wollte ich auch mit dem Roller fahren, aber er ließ mich schmoren, ich hatte ja nichts Gleichwertiges im Angebot. Ich bot ihm meine Schippe an, aber das war nichts. Schließlich nahm er sie doch, und ich stellte mich auf den Roller und fuhr ein Stück den Weg hinunter. Ich freute mich riesig und machte das auch lautstark deutlich. Die Fahrt nahm aber ein unerwartetes Ende, weil Peter mir meine Schippe mit voller Wucht gegen den Kopf knallte. Ich schmiss heulend den Roller hin und rannte zu meiner Mutter, die nur ein paar Meter entfernt im Konsum stand. Als ich die Tür zum Laden aufgerissen hatte, scharten sich sogleich die Frauen um mich und versuchten, mich zu verarzten. Ich hatte in meinem seelischen Leid nicht bemerkt, dass mir ziemlich viel Blut über das Gesicht lief. Die Freundschaft zu Peter war für einige Wochen eingetrübt, aber dann war alles vergessen.

Wenn ich mich recht entsinne, waren nur zwei Arbeiterkinder in meiner Klasse: ein Mädchen mit Namen Anne­liese und ich. Alle anderen waren Kinder von Eltern, die der Kategorie »Intelligenz« zugeordnet wurden oder Handwerker waren. Diese Eltern hatten schneller begriffen, dass die Russischklassen im jungen Staat DDR eine besondere Stufe auf den neuen Leitern nach oben waren. Die alten Leitern waren ja längst abgeschafft.

Einmal versuchte ich, meinen Banknachbarn Rolf zu verprügeln, weil er meinte, mein Vater sei doch »bloß Arbeiter«. Seiner war Zahnarzt, aber die Eltern waren geschieden. Da hatte ich es wiederum besser. Unser Klassenlehrer »Brotbüchse« ging dazwischen. »Brotbüchse« hieß natürlich nicht so, aber sein Markenzeichen war eine große, für mindestens drei Stullen ausgelegte Brotbüchse aus Aluminium. Mit Rolf habe ich mich später wieder vertragen. Die Integration hat also funktioniert. Jetzt – nach sechzig Jahren – veranstalten wir immer noch regelmäßig Klassentreffen, und keiner wirft dem anderen seinen Lebensweg oder seine Herkunft vor. Rolf und ich sind jedes Mal dabei. Andere mögen das anders sehen, aber ich finde, wir haben in diesen Jahren mächtig dazugelernt.

Auf meinem Schulweg begegnete mir oft ein freund­licher alter Herr. Das war der Opa eines Jungen, mit dem ich häufig zusammen spielte, was aber ein wenig kompliziert war, weil er zu Hause ziemlich strenge Regeln befolgen musste. So war sonnabends zum Beispiel um fünfzehn Uhr Kaffeetrinken und vorher Baden in einer echten Badewanne für ihn angesagt. Das störte uns erheblich beim Spielen. Ich musste mich nicht so oft ­waschen, wir besaßen auch keine Badewanne. Ich erinnere mich noch, dass er einmal nach dem Baden zu mir kam in einer weißen pludrigen, kurzbeinigen Latzhose mit großen Taschen und einem Bärchen vorn drauf. Mit so einem Ding wäre ich nicht einmal ins Bett gegangen. Ich war gerade mit einem anderen Jungen vom Müllplatz in den »Backsteinländern« zurückgekommen. Wir hatten von dort einen ganzen Eimer großer rostiger Schrauben und Muttern mitgebracht, die wir in unserem Waschhaus blank putzen wollten, für später. Mit Mutters Waschbürste und ihrem Waschpulver, von dem es ja reichlich gab, schrubbten wir fleißig drauflos. Blank bekamen wir die Schrauben nicht, aber die Spuren im Waschhaus und an unseren Sachen waren unübersehbar. Schließlich teilten wir Schrauben und Muttern brüderlich, zu jeder Schraube gehörte eine Mutter, und mein Freund verschwand mit der Latzhosentasche voller nasser rostiger Schrauben und Muttern Richtung Elternhaus. Ich habe ihn danach mindesten vier Wochen nicht gesehen. Er bekam Stuben­arrest.

Mit seinem Opa ging ich also öfter ein Stück gemeinsam, und wir unterhielten uns meistens über die Schule. Das verkürzte uns beiden den Weg. Jahre später war dieser alte Herr Hauptperson einer öffentlichen Versammlung im Gasthof, die von einem Staatsanwalt geleitet wurde. Gegenstand waren anonyme Briefe, die an Personen in der Umgebung, unter ihnen Pfarrer und Pastoren, geschickt worden waren, in denen man den sogenannten Schweinepriestern androhte, sie aufzuhängen, wenn es mal wieder andersherum käme. Der Verfasser dieser Briefe war jener Opa, der sich als alter unverbesserlicher Nazi entpuppte. Da der Opa schon lange im Dorf wohnte, konnte das den Dorfbewohnern doch nicht entgangen sein, aber viele taten verwundert, wie immer. Eine junge Frau äußerte sogar, das hätte er doch sicher nicht ernst gemeint, er sei doch schon ein alter Mann. Das sah das Gericht anders und verurteilte den alten Mann zu acht Jahren Haft. Mein Freund verschwand mit seiner Familie in Richtung Westen. Der Opa wird ihnen später wohl auch dahin gefolgt sein.

Der Fälscher

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