Читать книгу Der Fälscher - Günter Pelzl - Страница 5
Оглавление2. Kapitel
Die Soldaten mit den roten Sternen •
Panjepferde und Panzer • Die Russen,
der Schnaps und der Konsum • Der
kommunistische Weihnachtsmann • Wenn es Raachermannel nabelt • Weihnachten in der Familie • Auf Schusters Rappen • Das Wunder mit den Bratheringen • Elsas
Koch- und Backkunst • Zucker für den Storch • Brotsuppe • Glück im Unglück • Ferienlager an der Ostsee
Die Russen gehörten seit 1945 zum Dorf. Sie kampierten in der Kaserne hoch auf dem Berg, für uns Kinder unerreichbar. Die Russenkaserne war früher eine Wehrmachtskaserne gewesen, hatte für uns also einfach nur andere Bewohner. Aus welchem Grund die Russen nach Ammerbach gekommen waren, wussten wir nicht. Der Krieg spielte im Denken von uns Kindern nur eine untergeordnete Rolle, obwohl wir schon ahnten, dass es da etwas gab, was die Erwachsenen in unserer Gegenwart bei Gesprächen immer peinlich umschifften. Wir konnten nicht wissen, dass das Land, aus dem die Soldaten mit den roten Sternen an den Mützen kamen, in einem erbarmungslosen Krieg überfallen, niedergebrannt, verwüstet worden war. Die Täter waren Männer, wie mein Vater einer gewesen war, als er noch seine schmucke Uniform trug. Sie hatten Millionen Tote hinterlassen. Hätte man es mir gesagt, ich hätte es nicht geglaubt oder nicht verstanden. Ich hatte bis dahin noch nie einen toten Menschen gesehen. Alle, die ich liebte, lebten und waren um mich herum. Die Worte »Rache« und »Vergeltung« kannte ich nicht. Unbekümmert sangen wir zu jeder Gelegenheit: Maikäfer, flieg! / Der Vater ist im Krieg. / Die Mutter ist im Pommerland. / Pommerland ist abgebrannt … Oder: Rumbumbum, de Russen kumm’. / Der Vater trägt die Fahne … Niemand musste dafür nach Sibirien.
Im Dorf tauchten die Rotarmisten in der Regel in kleinen Gruppen auf, die lediglich ein Ziel hatten: den Dorfkonsum. Zu uns Kindern waren sie immer freundlich, und manchmal verschenkten sie auch kleine rote Sterne von ihren Mützen. Wir hörten ihnen gern zu, wenn sie sangen. Sie hatten Heimweh, das merkte man deutlich.
Gleich nach dem Einzug der Roten Armee in Thüringen hatte es einige Auseinandersetzungen im Dorf gegeben, als sie zum Beispiel einem Bauern eine Kuh mit der Maschinenpistole abmurksten und ihm dafür einen Stapel Reichsmark mit einem Bajonett an die Stalltür nagelten. Sie waren ja im Lande des Feindes, da mussten sie keine Rücksicht nehmen. Sie wussten nur zu gut, wie es bei ihnen zu Hause aussah, aber hier war noch jeder Stein auf dem anderen, und die Menschen gingen ihrem Tagewerk nach, als hätte es nie einen Krieg gegeben.
Solche Gedanken gingen uns damals nicht durch den Kopf. Inzwischen war etwas Ruhe eingekehrt. Manchmal gab es einen Auflauf, wenn größere Einheiten durch das Dorf zogen. Wir standen dann immer aufgeregt als Zuschauer an der Straße und bewunderten die vorbeidonnernden Panzer ebenso wie die flachen, breit ausladenden Wagen mit den kleinen zottigen Pferden. Dazu kamen noch komische Lastwagen, auf denen an der Seite ein Ofen qualmte. Der Holzvergaser war eine sinnreiche Einrichtung, die jede Menge Benzin sparte. Hinten war ein Aufbau, der einem Klohäuschen nicht unähnlich war. Ausgangs des Dorfes war eine scharfe Kurve, die bei vollem Tempo von den T-34-Panzern nicht einfach zu meistern war. Regelmäßig ging dabei der Gartenzaun des Bauern zu Bruch, und genauso regelmäßig wurde der Zaun neu errichtet, wanderte aber dabei immer ein wenig nach außen und vergrößerte so den Garten. Finanziert wurde der neue Zaun durch die Rote Armee. Besonders bemerkenswert war der Gestank, den die Militärfahrzeuge verbreiteten. Erst später als Chemiker wusste ich, dass dieser Geruch vom hohen Schwefelanteil des Erdöls aus Baku herrührte, das die Wehrmacht so gern erobert hätte. Es gelang ihr aber nicht. Vielleicht hätte sie den von Deutschland angezettelten Krieg dann sogar noch gewonnen.
Ein Bauer unseres Dorfes, der im Krieg im Gesicht schwer verwundet worden war und vor dem wir Kinder uns immer etwas fürchteten, hatte von den sowjetischen Soldaten ein offensichtlich ausgedientes, kriegsmüdes Panjepferd erhalten. Er konnte kein Russisch, doch das Pferd gehorchte ihm auch auf Deutsch, und so hätten sie es beide gut haben können, wenn eben dieser Geruch nicht gewesen wäre. Jedes Mal, wenn der Bauer mit seinem Fuhrwerk unterwegs war und ein Russenauto qualmend vorbeifuhr, ging das Pferd durch. Die Zähne gefletscht, die Ohren aufgestellt und den Schwanz waagerecht nach hinten, raste es los wie ein geölter Blitz. Dem Bauern blieb nichts weiter übrig, als die Zügel loszulassen und sich am Wagen festzuhalten. Irgendwo außerhalb des Dorfes blieb dann das kriegserprobte Pferd schweißnass stehen. Es ging aber immer glimpflich aus. Wir brachten unsere Küchenabfälle regelmäßig zu dem Hof dieses Bauern und bekamen dann, wenn geschlachtet wurde, eine große Kanne Wurstbrühe mit einer Blut- oder Leberwurst darin. Es war eine alteingesessene Bauersfamilie. Die Bäuerin – eine kleine, herzensgute Frau – hatten die Nazis zwangsweise sterilisieren lassen, aber darüber schwiegen die Dorfbewohner, wie sie über alles schwiegen, was ihnen unangenehm war. Sie hatten sich schnell den neuen Verhältnissen angepasst, so wie sie sich den vorhergehenden angepasst hatten und den Verhältnissen davor. Erst als ich erwachsen war, habe ich das mit der Sterilisation erfahren. Die Bäuerin und ihr Mann adoptierten später in der DDR zwei Kinder.
Wir waren inzwischen zur Miete in ein schmuckes Haus in der Dorfmitte gezogen. Es gehörte einem Arzt aus Jena. Der Coppanzer Weg führte genau wie die Waldstraße nach oben. Etwas anderes ließ die Landschaft nicht zu. Auch hier fand man die deutlichen Spuren vergangener Zeiten, die das bäuerliche Leben hinterlassen hatte. Ziemlich am Rande, an einem kleinen Buchenhain, stand das alte Mühlhaus. Die Zeit war über das Mahlen von Getreide genauso hinweggegangen wie über das Bierbrauen, und so konnte man seine frühere Bestimmung nur noch an den im Garten aufgestellten Tischen erkennen, deren Platten die alten Mühlsteine bildeten. Den dazugehörigen Bach aus dem Coppanzer Grund gab es aber noch. Er floss jetzt arbeitslos an der Mühle vorbei.
Früher beherbergte unser neues Haus eine von dazumal drei Kneipen im Ort. Im Erdgeschoss befand sich nunmehr der Konsum, geführt von meiner Mutter; wir wohnten in der ersten Etage. Vater hatte inzwischen eine Arbeit im Schottwerk in Jena aufgenommen und fuhr dort eine Elektrolokomotive (kurz: E-Lok).
Eben dieser Konsum war das Ziel der russischen Soldaten, wenn sie ins Dorf hinunter kamen. Meine Mutter war zwar klein, aber resolut, und die Soldaten hatten tatsächlich großen Respekt vor ihr. Sie kam nicht umhin, ihnen Schnaps zu verkaufen, aber sie achtete immer darauf, dass im Laden kein Tropfen getrunken wurde. Gehorsam ging der Sergeant mit der bei ihr erstandenen Schnapsflasche nach draußen zu seinen dort wartenden Soldaten.
In der Regel blieb das für alle Beteiligten ohne Folgen, aber einmal kam es doch zu einem Zwischenfall: Der einzige noch verbliebene Gasthof befand sich direkt neben unserem Haus. Eine Gruppe Soldaten war in die Kneipe eingekehrt, und nach einer Weile gab es einen großen Radau. Zwei Soldaten sprangen mit voller Ausrüstung und MPi durch die Kneipenfenster und rannten geduckt davon, wie sie es im Krieg gelernt hatten. Im gleichen Augenblick fuhr mit quietschenden Reifen ein Jeep der sowjetischen Militärpolizei vor. Die Polizisten holten die anderen Soldaten aus der Kneipe, ihr Offizier wurde noch auf der Straße geohrfeigt und degradiert, indem man ihm alle Orden, die Schulterstücke und die Knöpfe abriss. Dann wurde er, wie die anderen, mit Peitschen auf einen ebenfalls angekommenen Lastwagen geprügelt. Bis spät in die Nacht konnte man das Feuer der Maschinenpistolen hören. Die Flüchtigen lieferten sich mit ihren Verfolgern ein heftiges Feuergefecht. Für sie ging es um Leben und Tod. Was in der Kneipe passiert war und warum der Wirt die Kommandantur angerufen hatte, darüber schwieg man, wie üblich.
Meine Mutter erzählte mir später von der Rückkehr eines Ammerbachers aus dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar. Er wusste, wer aus unserem Dorf ihn bei den Nazis als Kommunisten denunziert hatte, verzichtete aber auf dessen Anzeige, mit der Bemerkung, der habe fünf Kinder und sei ein armes Schwein. Das allein hatte für alle anderen ausgereicht, ihn zu identifizieren. Das ganze Dorf wusste, um wen es sich handelte.
Der ehemalige Häftling ging indessen wieder seiner gewohnten Tätigkeit nach, er war Korbmacher. Uns Kindern fiel er immer durch sein gewaltiges, knatterndes Motorrad und seine schwarze, zerknautschte Thälmann-Mütze auf. Besonders beliebt war er aber bei uns wegen seiner Rolle als »unabhängiger« Weihnachtsmann. Alle Kinder im Dorf wussten, dass er kommt, aber keiner wusste, wann. Wenn es dann im Treppenhaus rumpelte und jemand mit einem Knotenstock ordentlich Lärm machte, war er endlich da. Er hatte es nicht nötig, sich zu verkleiden, jeder erkannte ihn sofort und akzeptierte ihn trotzdem als den »echten« Weihnachtsmann. Ein Gedicht oder ein Lied war der Preis für seine Gaben, und die stammten allesamt von seinen Erkundungen durch die Ammerbacher Flur auf der Suche nach Weidenruten für seine Körbe. Walnüsse, Haselnüsse und Äpfel brachte er immer mit. Er besuchte auch die Bauernfamilien, aus deren Gärten vermutlich ein Teil seiner Geschenke stammte, was sie sicherlich wussten. Der Weihnachtsmann wurde vom jeweiligen Familienvorstand mit einem Gläschen in Ehren verabschiedet, was sich zunehmend auf seine Standfestigkeit auswirkte und uns Kinder ungemein belustigte. Das war unsere Entschädigung für das Stottern und die Aufregung beim Darbieten eines Gedichts oder Liedes. Kaum war die Tür wieder ins Schloss gefallen, klingelte es erneut – aber diesmal war es die Frau des Weihnachtsmanns, die ständig auf seiner Spur war und hoffte, ihn noch rechtzeitig zu erwischen, bevor er irgendwo endgültig versackte.
Das Fernsehen gab es noch nicht, und ein Radio besaßen wir nicht mehr. Das hatte mein Vater gegen einen Handwagen eingetauscht. Er hatte es immer »Goebbelslerche« genannt. Wer Goebbels war, wusste ich nicht und auch nicht, ob der singen konnte. Der Handwagen war wichtiger, denn mit ihm konnte man Heizmaterial vom Kohlenhof holen oder Wäsche zum Waschen wegbringen. Eines Tages holten meine Eltern wieder einmal Briketts vom Kohlenhof und bewältigten den mindestens fünf Kilometer langen Fußmarsch mit der schweren Last auf einer rumpligen Straße. Vater zog vorn, Mutter schob hinten. Nach einer Weile stieg ihr ein komischer, brenzliger Geruch in die Nase. Als sie aufblickte, sah sie, dass ihrem Mann das halbe Hosenbein fehlte. Kurz unter dem Knie qualmte es wie ein feuchter Docht. Es war seine alte umgefärbte Wehrmachtshose. Mein Vater hatte als Raucher die Angewohnheit, seine Zigaretten so lange zu rauchen, bis der Stummel nur noch wenige Millimeter lang war. Die Kippe hatte er lässig im Mundwinkel – er musste ja den Handwagen ziehen. Offensichtlich war ihm die Glut der Zigarette in den Hosenumschlag gefallen. Meine Mutter lachte sich halb kaputt. Je wütender mein Vater wurde, desto schallender musste sie lachen. Humor war nicht seine starke Seite, trotzdem baten wir Mutter immerzu, uns diese Geschichte zu erzählen, obwohl wir sie schon auswendig kannten. Sie war eine vorzügliche Erzählerin, konnte sich aber bei dieser Geschichte nie das Lachen verkneifen. Vater war jedes Mal schon vorher verschwunden, um sich nicht erneut ärgern zu müssen.
Die Abende verbrachte unsere Familie häufig mit zwei wesentlichen Beschäftigungen. Zum einen: unsere Klebearbeiten. Da fast alle Lebensmittel rationiert waren und nur gegen entsprechende Bezugsmarken verkauft wurden, mussten diese beim Einkauf im Dorfkonsum von meiner Mutter abgeschnippelten und eingesammelten Marken für die Abrechnung wieder in eine brauchbare Form gebracht werden. Sie wurden auf Papierbögen mit einem übelriechenden Büroleim aufgeklebt. Mein Vater, der seine Stelle als E-Lokfahrer aufgegeben hatte und inzwischen auch beim Konsum im benachbarten Dorf Oßmaritz arbeitete, war der Anführer dieser »Klebefeste«. Er war ziemlich pedantisch und hatte immer einen Kopierstift hinter dem Ohr, den er bei Benutzung auch vor dem Schreiben anleckte, was sowohl eine blaue Schrift als auch eine blaue Zunge hinterließ.
Schöner waren da zum anderen unsere Gesangsabende. Mutter spielte Zither und Vater Akkordeon, das wir immer »Zerrwanst« nannten. Sie waren auch im Gesangsverein des Dorfes aktiv und nutzten diese Abende zum Üben. Diesen Gesangsverein gab es schon zu Kaisers Zeiten, und meine Urgroßmutter Elsa war darin bereits ein sehr engagiertes Mitglied gewesen. Auf einem Bild aus ihrer Fotoschachtel thront sie als Alma Mater inmitten junger Mädchen, flankiert von drei Hakenkreuzwimpeln. Der Chorleiter trägt eine meterlange Stimmgabel. Was sie damals für Lieder sangen, weiß ich nicht, aber alle auf dem Bild blicken freundlich in die Kamera. Bilder allein sagen nicht immer alles. Bei unseren häuslichen Abenden waren erzgebirgische Volkslieder sehr beliebt, und ich kann mich noch gut an ein grünleinenes Büchlein mit den Noten und den halsbrecherischen Texten erinnern: Wenn es Raachermannel nabelt un es sat kaa Wort drzu …
Das Erzgebirgische war nicht meine Mundart, und ich brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass hier niemand abgenabelt wurde, sondern der nach Waldbrand duftende Rauch gemeint war, der aus dem Mundloch des sonst stummen Räuchermännchens qualmte. Obwohl sie die Erzgebirgischen Weihnachtslieder mochten, konnten sich meine Eltern mit Thüringer Folklore nicht anfreunden. Die wurde weitgehend dominiert von Herbert Roth (1926 –1983). Mein Vater mochte die Roth’sche Schunkelseligkeit überhaupt nicht. Einmal geriet er sogar mit ihm persönlich aneinander. Meine Eltern hatten von der Gewerkschaft einen Urlaubsplatz in Masserberg im Thüringer Wald erhalten. In Masserberg wohnte auch Herbert Roth in seiner mit viel Mühe »ersungenen« Villa. Nichtsahnend gingen sie eines Abends zu einer Kulturveranstaltung. Sie hatten im Saal des Kulturhauses ihre Plätze in der Mitte der dritten Reihe eingenommen, als der Vorhang aufging und Herbert Roth und seine Partnerin Waltraut Schulz ins Rampenlicht traten: Es war ein Herbert-Roth-Abend, und mein Vater hatte das nicht gewusst. Der Saal war voll und eine Flucht nicht mehr möglich. Schon bei dem ersten Lied forderte der fröhliche Sänger alle zum Schunkeln auf. Es schunkelten wirklich alle, der ganze Saal – außer mein Vater. Er saß stocksteif da und presste die Ellenbogen an den Oberkörper, damit sich auch ja keiner einhenkeln konnte. Meiner Mutter war das peinlich, aber sie hielt zu ihrem Josef. Roth sah natürlich die Schunkelstörung in der sich hin und her wiegenden Masse und sprach den einzelnen Schunkelverweigerer von der Bühne herab an. Mein Vater reagierte überhaupt nicht auf die Roth’sche Anmache und hielt sein Nichtschunkeln bis zur Pause tapfer durch. Danach blieben die beiden Plätze in der dritten Reihe leer.
In den 1960ern versuchte Herbert Roth, auch einen Auftritt im Jenaer Volkshaus zu geben. Die Studenten störten die Veranstaltung mit Erfolg. Er kam nie wieder nach Jena. Mir war Roth ziemlich egal. Als Studenten sangen wir, wenn wir entsprechend getrunken hatten, eine nicht jugendfreie Version seines berühmten Liedes vom »Köhlerliesel«. Liesel kam aber aus dem Harz.
Unser Wohnzimmer hatte einen schönen Erker, der auf die einzige Kreuzung im Dorf hinausging. Dort stand immer unser Weihnachtsbaum, selbstverständlich eine Fichte, geschmückt mit echten Kerzen, nicht mit Watte, sondern mit Lametta aus Aluminium und mit Lauschaer Baumschmuck, der natürlich von Oma Elsa stammte und mindestens fünfzig Jahre alt war. Das Lametta wurde stets wieder eingesammelt und im nächsten Jahr erneut verwendet. Andere Familien im Dorf erzählten später, dass sie den Zeitpunkt der Bescherung ihrer Kinder immer nach dem Angehen der Lichter des Weihnachtsbaums bei uns im Erker ausrichteten.
Weihnachten wurde immer ein festes Ritual eingehalten. Am 24. Dezember morgens wurde der Baum geschmückt. Meistens machte das meine Mutter. Wir Kinder schauten zu und klauten hinter ihrem Rücken vom Baum die Schokoladenkringel aus Fondant, einer eklig süßen Zuckermasse, mit der man testen konnte, ob man Löcher in den Zähnen hatte. Mutter tat so, als sähe sie das nicht. Sie hatte immer noch eine Tüte in Reserve. Vater war eher zuständig fürs Grobe. Er musste den Baumstamm anspitzen, damit er in den gusseisernen Ständer passte. Das war keine einfache Aufgabe, denn eigentlich sollten dabei alle Nadeln am Baum bleiben. Mittagessen fiel vorerst aus. Stattdessen war Baden angesagt. Ein Badezimmer hatten wir nicht, aber in der Küche stand ein Abwaschtisch mit zwei Schüsseln, die man unter der Tischplatte hervorziehen konnte. Das reichte. Warum man sich vor der Bescherung waschen musste, erklärte mir niemand. Das war nun einmal so. Dann warteten wir auf den schon beschriebenen Weihnachtsmann. Nach der Bescherung gab es das aufgeschobene Mittagessen: Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen oder manchmal auch mit Kassler.
Ich habe so oft bei der Zubereitung des Kartoffelsalats zugesehen, dass dieses Rezept zu den wenigen gehört, die ich auswendig kann. Wie bei den traditionellen Klößen verwendeten die Thüringer auch hier mehligkochende Kartoffeln, sie wurden aber einige Minuten eher vom Feuer genommen. Selbstverständlich wurden sie als Pellkartoffeln aufgesetzt. Diese wurden noch heiß gepellt und in Scheiben, seltener in Würfel geschnitten. Dazu kamen dann Pfeffer, Salz, feingeschnittene Zwiebeln und Gewürzgurken, ebenfalls feingeschnitten. Dass Mutter die Gurken eigenhändig eingelegt hatte, verstand sich von selbst. Das Ganze wurde vorsichtig vermengt und dann mit der Brühe und den Gewürzen aus dem Gurkenglas übergossen. So wurde der vorbereitete Salat eine Nacht im Kalten stehen gelassen. Am nächsten Tag kam dann kurz vor dem Essen die Mayonnaise hinzu, die Mutter ebenfalls selbst zubereitete. Zu der bei ihr im Konsum zum Kauf angebotenen Mayonnaise hatte sie kein Vertrauen. Wenn man diese nur etwas misstrauisch ansah, zerfiel sie vor Angst wieder in ihre Bestandteile. Wir hatten eine Maschine mit einer Kurbel, die in einem Glasgefäß kleine Rührlöffel antrieb. Oben im Deckel war ein Töpfchen mit einem kleinen Loch. Mutter trennte von mehreren Eiern das Eigelb vom Eiweiß, das war für uns schon eine Zirkusvorstellung, denn sie machte das mit zwei halben Eierschalen über einer Schüssel, wobei das Eigelb immer von einer Schalenhälfte in die andere hopste und das Eiweiß in der Mitte in die Schale herunterlief. Eine dünne Eihaut hielt dabei das Eigelb zusammen. Man hatte schon verloren, wenn man das Ei mit dem Messer aufschlug. Mutter machte das immer am Tassenrand, dann blieb das Eihäutchen intakt. Das Eigelb kam mit Salz, Pfeffer und Kräuteressig in das Glas der Maschine und wurde mit der Kurbel heftig gerührt. Dann kam das Töpfchen mit dem Loch zum Einsatz. Dort hinein kam Öl, das langsam durch das kleine Loch in die darunterliegende Eierpampe tropfte. Mit der Kurbel wurde dabei ordentlich gerührt. Irgendwann bildete sich dann die gewünschte Mayonnaise – oder auch nicht. Mutter bekam das im Winter immer hin. Im Sommer machte sie keinen Kartoffelsalat.
Physikalisch-chemisch ist das ein außerordentlich komplizierter Vorgang: die Herstellung einer Öl-in-Wasser-Emulsion, wobei das Lecithin im Eigelb als Emulgator fungiert. Meine Mutter wusste das alles nicht und meine Urgroßmutter, von der sie Kochen gelernt hatte, erst recht nicht. Beide haben immer vorzügliche Mayonnaise hergestellt. Ich kann das alles gut erklären, kaufe aber lieber Delikatess-Mayonnaise aus dem Spreewald. Auch die Gewürzgurken bereite ich nicht selbst, sondern verwende Spreewald-Pfeffergurken. Zudem muss man neuerdings mehligkochende Kartoffeln lange im Supermarkt suchen … Wie auch immer: Nach mehreren eigenen Zubereitungsexperimenten bin ich bei den Spreewald-Produkten geblieben, und die Kartoffeln kaufe ich bei einem Bauern, der beim Stichwort »Kartoffelsalat« genau weiß, was ich brauche. Zu anderen Mayonnaisen und Gewürzgurken hege ich kein Vertrauen. Eine Erklärung, wie man Wiener Würstchen erwärmt, ohne dass sie platzen, erspare ich mir hier, das kann jeder selbst herausfinden.
Am ersten Weihnachtsfeiertag stand zumeist Gänsebraten auf dem familiären Speiseprogramm. Wir waren ja fünf gute Esser, und Gans gab es nur einmal im Jahr. Sie wurde noch lebend vom Bauern abgeholt und von meinem Vater geschlachtet. Wer macht sich denn heute noch Gedanken über den Weg einer Gans von der grünen Wiese in die Bratpfanne? Man holt sich eine kopf- und federlose, eiskalte Gänseleiche aus der Tiefkühltruhe, liest oberflächlich mit einer Lupe die auf der Verpackung in sieben Sprachen aufgedruckte Gebrauchsanleitung, einschließlich der Warnung, sich anschließend nicht die Tüte über den Kopf zu ziehen, und los geht’s.
Vater schlachtete die Gans nicht einfach so hin, sondern stach sie ab. Dabei durchtrennte er mit einem zweiseitig scharfen Messer zwischen zwei bestimmten Halswirbeln die Wirbelsäule und schnitt dann die Kehle auf. Anschließend wurde die Gans an den Füßen aufgehängt, damit sie ausbluten konnte. Mein Vater hielt die Gans dabei zwischen den Knien fest. Bestimmt wird dieser Vorgang in verschiedenen Regionen unterschiedlich gehandhabt, er bevorzugte die mährische Variante. Das klingt gruselig, aber in Krimis befinden die meisten das Morden von Menschen für normal, alle schauen hin, aber bei Gänsen halten wir unseren Kindern lieber die Augen zu.
Das Rupfen der Gans übernahm meine Mutter. Die Federn wurden aufgehoben und fanden sich dann in verschiedenen Kissen wieder. Die Gans hing dann noch ein paar Tage draußen neben dem Küchenfenster. Das Wichtigste war dabei der Strick und der Knoten. Wäre sie aus dem ersten Stock auf den Fußweg gefallen, hätte sie sich auch ohne Kopf mit Hilfe anderer Leute davongemacht.
Die Produktion der Thüringer Klöße kann ich hier übergehen, ebenso das Rezept für Thüringisches Rotkraut. Jedenfalls war trotz dieser üppigen Beilagen spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag von der Gans nichts mehr übrig als das in Gläsern abgefüllte Gänseschmalz.
Lustig war immer das Abschmücken des Weihnachtsbaums. Die Kugeln und die Weihnachtsbaumspitze kamen wieder in dieselben wackeligen Pappschachteln zwischen morsches Seidenpapier. Süßigkeiten waren schon lange nicht mehr am Baum. Das Lametta wurde vorsichtig abgehängt, für das nächste Jahr. Bei all dem hatte der Baum schon reichlich Nadeln eingebüßt. Mutter lamentierte dann, dass das ganze Treppenhaus beim Abtransport vollgenadelt werden würde. Vater fand die einfache Lösung: Er griff den Baum oben am Stamm und stukte ihn zweimal auf den Boden. Die Nadeln waren daraufhin so ziemlich alle ab. Das Gerippe warf er dann aus dem Fenster meines Zimmers in den Hof. Die Treppe blieb sauber.
Zuweilen wurde bei uns zu Hause Rommé gespielt. Dann fand sich auch der Schuster ein, der das Spiel leidenschaftlich mochte, aber genauso leidenschaftlich schummelte. Kam mein Vater mit seinem unerschütterlichen Gerechtigkeitssinn dahinter, schmiss er die Karten auf den Tisch und stieg schimpfend aus. Das hinderte den Schuster nicht daran, weiterzumachen. In mir fand er immer einen Bewunderer, wenn er versuchte, mir einen Joker in einem seiner Hauslatschen unter dem Tisch zuzuschieben.
Der Schuster war der Mann meiner Tante Trude und tatsächlich Schuster mit einer entsprechenden Schusterwerkstatt gegenüber der Kirche. Ich ging gern zu ihm in die Werkstatt. Es war warm dort, es roch nach Schusterleim und Gummilösung, und ich bekam immer etwas zum Nageln und Hämmern. Er war belesen, technisch versiert, hörte ständig Radio und war so etwas wie die Informationszentrale des Dorfes. Seine Kunden brachten die Schuhe wohl mehr wegen der Klatscherei zu ihm. Von seiner Schusterbude aus hatte er die alte Feldtelefonleitung der Wehrmacht aus der Flakstellung zu seiner Frau auf die andere Straßenseite hinübergelegt, über die sie miteinander in Kontakt traten. Wenn er mit ihr nicht reden wollte, hob er einfach nicht ab, auch wenn sie noch so schnell an der Kurbel drehte. Das war für beide sehr praktisch, denn sie machte das im umgekehrten Falle genauso. Von ihm bekam ich auch meinen ersten Kristall-Detektor, die Urform des heutigen Radios, zum Experimentieren. Später als Chemiestudent präparierte ich ihm dafür seine Schleifbänder für die Gummisohlen, damit sie länger hielten. Daraufhin stieg ich ungemein in seiner Achtung.
Ein einziges Mal nutzte ich seine fachmännischen Fähigkeiten, aber mit fatalen Folgen. Als ausgemachter Beatles-Fan hatte ich ein Paar elegante, braune Schuhe erstanden. Vorn spitz, hatten sie einen flachen Absatz und eine dünne Ledersohle. Leider waren die Sohlen bald durchgetanzt, und ich hoffte, der Schuster könnte das beheben. Er war aber Schuster und kein Schuhmacher. Der Unterschied zwischen beiden war mir damals nicht geläufig. Als er die Schuhe betrachtete und ungläubig den Kopf schüttelte, was man alles so als Schuh bezeichnete, hätte ich die Sache noch abbrechen können. Als ich nach Tagen meine geliebten Schuhe in Empfang nahm, blieb mir der Dank fast im Halse stecken. Mit diesen von ihm frischbesohlten Botten hätte ich den glühenden Vesuv besteigen können, ihre Karriere als Tanzschuhe war beendet. Ein richtiges Dorf brauchte einen Schuster, keinen Schuhmacher.
Irgendwann an einem heißen Sommerabend kam einmal eine langersehnte Lieferung für den Konsum: ein ganzes Holzfass gefüllt mit grünen Heringen. Es war kurz vor Ladenschluss, das Wochenende war gekommen. Meine Eltern wussten genau, dass Montagfrüh kein Hering mehr genießbar sein würde. Guter Rat war teuer. Mutter hatte ihre »Küchenausbildung« natürlich bei Oma Elsa absolviert, und so hatte sie die rettende Idee. Das ganze Wochenende hindurch wurde mit Mehl, Zwiebeln, Zucker und Essig hantiert und gebraten. Wir produzierten Bratheringe!
Die Bratheringe waren am Montag der Verkaufsschlager schlechthin. Mittags waren sie alle. Kein Ammerbacher kam zu Schaden. Im Gegensatz zur Geschichte in der Bibel kamen nur genauso viele Bratheringe heraus, wie Heringe im Fass gewesen waren. Eine wundersame Vermehrung blieb aus. Mich wunderte das nicht. Mein Vertrauen in die Kraft biblischer Gleichnisse ging schon damals gegen null. Leider hatte die staatliche Konsumbürokratie dafür keinerlei Verständnis. Obwohl mein Vater eine perfekte Kalkulation vorlegte und der Konsum keinen einzigen Heringsschwanz abschreiben musste, hatten meine Eltern gegen alle möglichen Bestimmungen verstoßen. Die auferlegte Strafe war wohl aber nicht allzu hoch, der Konsumbetrieb ging jedenfalls weiter seinen gewohnten Gang.
Urgroßmutter Elsas Kochkunst war unbeschreiblich. Sie kannte alle Tricks, aus einfachsten Zutaten die besten Gerichte zu zaubern. Nur so konnte man in dem bitterarmen Thüringer Bergen über die Runden kommen. Sie kannte alle Gewürze, Kräuter und Pilze und sammelte und trocknete selbst.
Man kann nicht über Elsas Küche erzählen, ohne ihr Pflaumenmus zu erwähnen. Die Pflaumen, wir nannten sie »Zwetschgen« oder, was sich für Kinder leichter aussprach, »Quetschen«, durften nur vom Boden aufgesammelt werden. Nur so war gesichert, dass sie süß genug für das Mus waren. Sie hatten dann auch den passenden Namen: »Runzelärsche«. Man brauchte nur eine derartige Quetsche von der Stielseite aus – ohne Stiel – zu betrachten und schon wusste man, warum. Elsa kontrollierte genau – ausschließlich Runzelärsche gelangten in den Topf. Die Steine wurden mit der Hand entfernt, was eine ziemlich matschige Angelegenheit war. Maden spielten keine große Rolle, fast alle Runzelärsche hatten welche. Zucker wurde nie zugesetzt, der war zu teuer. Außerdem brannte das Mus damit schneller an. Grüne Walnüsse mussten sein, die färbten dann das Mus schön schwarz. Eingekocht wurde im Waschkessel. Einer musste ständig rühren, ich habe mich immer gedrückt. Gelagert wurde das Mus in Tontöpfen, die mit Pergamentpapier und einem Bindfaden verschlossen worden waren. Wenn im Winter ein solcher Topf geöffnet wurde, schnitt Elsa den harten schimmligen Deckel, der sich auf dem Mus gebildet hatte, heraus.
So trafen sich dann Elsas thüringische Kochkünste und die kulinarischen Vorlieben meines aus Mähren stammenden Vaters: Meine Mutter füllte mit Pflaumenmus Buchteln. Das waren mährische Hefebrötchen. Man findet sie heute noch in Mähren, Österreich, Bayern und Tirol, also genau da, wo die Pelzls herkommen. Aber davon später.
Elsa Hartmanns Spitzengericht waren Thüringer Klöße und Sauerbraten. Dazu gab es Rotkraut oder, wenn der Braten »Kassler« hieß, Sauerkraut. Die geriebenen Kartoffeln presste sie selbst mit ihrem Knie durch das Rohrgeflecht des Küchenstuhls aus. Ihre zwei Zentner Lebendgewicht waren da sehr hilfreich. Das ausgepresste »Gereibe« kam in eine große weiße, schon etwas ramponierte Abwaschschüssel aus dem Küchentisch. In diese Masse wurde der von einem Drittel der gesamten Kartoffelmenge gewonnene, kochend heiße, dünne Kartoffelbrei gegeben und mit einem großen Quirl schnell verrührt. Wir wurden immer aus der Küche gejagt, denn das Hantieren mit dem blubbernden und spritzenden Kartoffelbrei war gefährlich. Noch heiß, wurden aus dem zähen Teig Klöße geformt, welche die in Margarine gerösteten und gesalzenen Semmelbröckchen umhüllten. Die Klöße kamen in einen großen Topf mit kochendem Wasser. Der Topf wurde vom Feuer gezogen, und nach einigen Minuten stiegen die Thüringer Klöße nach oben, was bedeutete, dass sie serviert werden konnten. Es war jedes Mal ein Gaumenschmaus!
Ebenso unschlagbar waren Elsas Kuchen. Auf ihrer engen Treppe stand in der Ecke immer ein Gestell mit runden Kuchenbrettern aus Holz. Darauf waren je nach Jahreszeit im Angebot Quetschenkuchen, Mohnkuchen, Kirsch- und Streuselkuchen. Mit Muckefuck, das heißt Malzkaffee mit Magermilch, aus einer weißen angeschlagenen emaillierten Blechkanne, die immer auf dem Ofen stand, konnte man den Hefekuchen auch am Ende der Woche noch mit Genuss essen, ohne Malzkaffee benötigte man allerdings eine Säge. Dieser Muckefuck und auch der Mohnkuchen sind leider ausgestorben.
Das Mohnkuchenrezept kenne ich nicht in allen Einzelheiten, aber ich erinnere mich, dass der Mohn, eine für Thüringen typische Kulturpflanze, in einer alten Kaffeemühle, die man zwischen den Knien halten musste, gequetscht und dann mit heißer Milch und Grieß aufgebrüht wurde. Wenn vorhanden, kamen noch Rosinen hinzu. Der Boden war selbstverständlich aus Hefeteig, und obendrauf kamen Eierschecke oder kreuzweise aufgelegte Teigstreifen. Diesen Kuchen mit einer zwei Finger dicken schwabbeligen Mohnschicht konnte man einfach nicht vornehm essen. Am besten schmeckte er, wenn er noch warm war, aber meistens konnte Elsa das verhindern. Sie sagte immer streng: »Mohn macht dumm!« Da wollte sie die Mengen wohl lieber genau kontrollieren.
Wenn ich schon von Kuchen schreibe, darf ich natürlich den Stollen nicht vergessen. Alles, was meine Mutter kochen und backen konnte, hatte sie von Elsa gelernt, und die war eine strenge Lehrerin. Der Gütekontrolleur war Richard, Elsas Mann. Was der nicht aß, war in seinen Augen auch für andere völlig ungenießbar. Als Elsa gestorben war, ließ sich Richard nur von meiner Mutter bekochen, obwohl er mit seiner Tochter Trude und dem Schuster, ihrem Mann, in einem Hause wohnte. So wanderte vor allem am Sonntag dann einer mit einer gläsernen Schottschüssel, Thüringer Klößen und Karnickelbraten über die Dorfstraße zu Richard. Karnickel hatte er genug, nachdem das mit den Gänsen nichts geworden war. Meine Mutter bekam sie küchenfertig von ihm. Noch heute bin ich im Besitz einer kleinen runden Bratpfanne, die aus Elsas Hausstand stammt. Die hat mir meine Mutter vererbt, und darin brennt nichts an. »Geboren« wurde diese Pfanne im Ersten Weltkrieg – als Stahlhelm oder als Granatenhülse. Konversion hält lange an, wenn man nur will.
Aber zurück zum Stollen. Zitronat, Rosinen, Mandeln, Nüsse, Butter gab es, wenn überhaupt, nur kurz vor Weihnachten. Meine Mutter saß an der Quelle, sie leitete ja den Konsum im Ort. Sechs Vierpfundstollen waren keine Seltenheit. Sie reichten dann aber auch bis April. Der Bäcker wohnte etwas außerhalb des Dorfes, unterhalb des Friedhofs, und vergab für die Dorfbewohner feste Backzeiten für den Stollen und lieferte auch die Hefe, wenn es im Konsum keine gab. Hefe brauchte man, denn der Stollen musste »gehen«. Das verstand ich nicht, aber Mutter zeigte mir, wie der kleine Kuchenklops mit einem Wischtuch abgedeckt sich in der Wärme zunehmend vergrößerte. Das nannten alle »gehen«, obwohl der Teig in der Schüssel blieb, er ging eben nach oben. Das größte Problem war der Transport. Kein vernünftiger Mensch würde bei frostigen zehn Grad minus den aufgegangenen Hefestollen auch nur einen Meter weit über den Hof tragen. Der sofortige Tod des Stollens wäre die Folge. Zum Bäcker waren es aber etwa zwei Kilometer Fußmarsch. Da halfen nur angewärmte Federbetten, eine Wärmflasche, ein Kinderwagen und Tempo. Es ist immer gutgegangen, auch bei Glatteis. Noch heute bedauere ich, dass ich von meiner Mutter zwar das Kochen gelernt habe, nicht aber das Backen. Das war nicht ihre Schuld. Damals hat mich das leider nicht sonderlich interessiert; ich durfte ja immer »nur« zusehen.
Zucker war in jenen Jahren für die Ernährung besonders wichtig und rar, weil es ihn wie vieles andere nur auf Marken gab. Wir waren ständig hinter irgendetwas Süßem her, und so kam ich eines Tages an eine Flasche Holunderbeerensirup. Er war dickflüssig und dunkelblau, fast schwarz. Wenn Mutter etwas davon herausrückte, wurde er mit Wasser verdünnt, bis die Farbe nahezu weg war und die Süße auch. Ich hatte einen solchen Appetit auf den süßen dunklen Saft, dass ich mir ein Wasserglas damit vollgoss und es unverdünnt in einem Zug leertrank. Die wohlige Süße währte aber nur für kurze Zeit. Meine Mutter steckte mich nach einem heftigen Durchfall und Erbrechen mit Schüttelfrost und Fieber ins Bett.
Der Landarzt musste helfen. Er kam mit Pferd und Kutsche und begutachtete mich armes Würstchen. Die Ursache meines Leidens war offensichtlich – die Sirup-Flasche stand ja noch auf dem Tisch –, und der Doktor konnte meine Mutter beruhigen. Eine Weile Bettruhe und Diät – mehr war nicht notwendig. Die Diät bestand aus Mehlsuppe mit Maggiwürze und einem Teelöffel Butter. Das half. Nach drei Tagen war ich wieder obenauf. Zurück blieb allerdings ein großer Widerwille gegen den Geruch des Holunders. Jahrzehntelang machte ich große Bögen um blühende Holunderbüsche. Nicht so die Mehlsuppe. Ich versuchte manchmal, mich krank zu stellen, um in den Genuss dieser Suppe zu kommen. Mutter durchschaute mich immer.
Eine zweite Zuckergeschichte machte mich zwar nicht krank, aber erleichterte die Familie um unsere ganze Monatsration Zucker. Wie viele Mütter in dieser Zeit versuchte auch die meine, mir die Frage nach einem Brüderchen so kompliziert wie möglich zu beantworten. Standard war natürlich der Klapperstorch, aber sie gab der Geschichte noch eine besondere Note, indem sie meinte, den Klapperstorch könne man anlocken, indem man Zucker ins Fenster streute. Unser Küchenfenster ging auf eine Straßenkreuzung hinaus, und das Fensterbord war recht breit, ideale Bedingungen also für den Storch. Da es in unserem Dorf keine Störche gab, aber eine Menge Kinder, schlussfolgerte ich, dass man nur mit einer gehörigen Portion Zucker diesen seltenen Vogel anlocken könnte. Ich verteilte allen Zucker, den ich finden konnte, auf das Fensterbord. Es sah aus wie im Winter nach langem Schneefall. Meine Mutter war ehrlich genug, zu erkennen, dass die Idee eigentlich von ihr stammte, und lachte, als sie das Malheur sah. Vater lachte nicht, sondern maulte und versuchte, den Zucker zu retten, nahm dazu aber die Ofenschippe und den Handfeger aus der Küche. Das bekam dem Zucker nicht so gut. Er verlor erheblich an Weiße und kam nicht wieder in die Tüte.
Vater konnte auch kochen, aber er überließ das in der Regel seiner Frau. Doch zuweilen, wenn es ihm besonders gut ging, kochte er Brotsuppe. Damit hatte es folgende Bewandtnis: Bei sich zu Hause in Mähren wurde nur zweimal im Jahr gebacken. Das bedeutete, es gab nur zweimal im Jahr frisches Brot! Unglaublich! Wir Kinder waren erschüttert. Aber dann erklärte er, dass das Brot nach dem Backen auf den Speicher kam und getrocknet wurde. Teller benutzten sie nicht, sondern der Tisch hatte an jedem Platz eine Mulde, in die das Essen kam. Wer wo am Tisch saß, war genau festgelegt. Wir lachten laut los, denn wir liebten es, die Teller abzulecken, und stellten uns vor, wie man einen Tisch ableckt. Viele Mahlzeiten bestanden dann aus trockenem Brot, so zum Beispiel die Brotsuppe. Das knochentrockene Brot wurde mit einer dünnen Fleischbrühe und großen Mengen Knoblauch aufgekocht. Salz und Pfeffer kamen dazu, fertig. Wir aßen das gern. Ein ähnliches Gericht war das »Eingebrockte«. Harte Brotstücken wurden mit Malzkaffee und wenig Milch, aber viel Zucker eingeweicht. Wenn Vater Sonntagvormittag frühstückte – das war das zweite Frühstück zwischen dem ersten und dem Mittagessen –, genoss er immer trockenes Brot, eine Scheibe fetten Speck, Salz und Knoblauch. An diesem Frühstück nahmen wir nicht teil.
Eines Tages gab es ein großes Unglück. In einem heißen Sommer Anfang der 1950er Jahre brach im Dorf Coppanz ein Brand aus. Das Dorf Coppanz lag oberhalb Ammerbachs auf dem Berg. Ein Bauer war beim Abladen der Erntefuhre mit der Heugabel in die Stromleitung geraten. Ein Funke setzte die Wagenladung in Brand, und nach kurzer Zeit brannte das halbe Dorf. Es war am späten Nachmittag, und ich sollte eigentlich ins Bett, aber ich schlotterte vor Angst, denn der glutrote Himmel und das klagende Jaulen der Feuerwehrautos, die aus Jena durch unser Dorf hinauf auf den Berg nach Coppanz rasten, erschreckten mich sehr. Mutter beruhigte mich, so gut sie konnte.
Bei einem anderen Unglück ging es lustiger zu. Ein schweres Sommergewitter war über Ammerbach heraufgezogen. Nach den ersten großen Tropfen suchten wir Kinder schnell das Weite und verschwanden in den Häusern. Es war klar, dass wir uns nach dem Regen wieder treffen wollten, natürlich barfuß, denn das Patschen in den warmen Pfützen war ein beliebtes Vergnügen. Ich schaute aus dem offenen Küchenfenster im ersten Stock dem prasselnden Regen zu. Kein Mensch war zu sehen. Es regnete schon eine ganze Weile wie aus Eimern, als plötzlich eine meterhohe Flutwelle um das Schulhaus herum auf die Kreuzung raste und sich in alle Seitenstraßen ergoss. Sie prallte gegen unser Hoftor, und die Eisenstange, die das Tor geschlossen hielt, machte einen Buckel wie eine Katze. Mit einem klingenden Laut vollführte sie einen Satz nach oben und verschwand dann in den lehmigen Wogen. Unser Haus war auf den Grundmauern eines alten Weinbauernhauses erbaut worden. In dem ehemaligen Weinkeller lagen nun unsere Kartoffeln mit langen weißen Keimen und das Eingeweckte. Mit Gurgeln und Glucksen war in wenigen Sekunden der Keller überflutet. Einweckgläser, Kartoffeln und andere Habseligkeiten tauchten empor und gesellten sich zu den Dingen, die schon auf der Straße umherschwammen. Es dauerte ein paar Stunden, bis das Wasser wieder abgelaufen war.
Das angerichtete Chaos war groß. Im Dorf witzelte man, jetzt sei endgültig der Kommunismus ausgebrochen. Alle Habe zu ebener Erde, die schwimmen konnte, war gleichmäßig im Dorf verteilt, und das war bei den offenstehenden Scheunen und Ställen eine ganze Menge. Das lebende Eigentum allerdings, wie Hühner, Enten und Gänse, fand nach kurzer Zeit wieder seine alten Besitzer. Nicht so das unbelebte. Es verschwand in der Regel bei demjenigen, bei dem es angeschwemmt worden war. Wir kamen dadurch in den Besitz eines Hackstocks samt eingeschlagenem Beil und einer großen Zahl von mit Heidelbeeren gefüllten Einmachgläsern. Der Schlamm klebte nur außen, innen war alles bestens. Eingebüßt hatten wir Äpfel und Birnen. Der Tausch war akzeptabel.
Ganz besonders stolz war ich, als ich das erste Mal mit meiner Schwester gemeinsam ins Ferienlager fahren durfte. Es ging an die Ostsee, nach Lubmin, ziemlich genau an den Ort, wo später das erste Atomkraftwerk der DDR errichtet wurde. Die Volkseigenen Betriebe (VEB) boten für die Kinder der Betriebsangehörigen kostenlose Ferienlagerplätze an, die immer voll belegt waren. Das bedeutete drei Wochen Abenteuer, Wanderungen, Spiele, Kino und vieles mehr.
1954 war die Ausstattung noch recht bescheiden. Wir schliefen in großen Zelten auf harten Pritschen, und die Decken rochen immer etwas muffig. All das machte einen ziemlich militärischen Eindruck. Vielleicht waren das die noch brauchbaren Reste der großdeutschen Wehrmacht, aber das interessierte uns Kinder nicht. Zum Frühstück gab es labbriges Schwarzbrot und Marmelade aus großen Pappeimern und dazu Malzkaffee, zum Mittagessen Nudeln oder Graupensuppe. Erfroren oder verhungert ist keiner. Das Meer war groß und salzig, obwohl es nur der Greifswalder Bodden war. Dieser Name gefiel mir aber nicht. »Botten« hießen bei uns zu Hause alte Schuhe, und so schlimm war die Ostsee nun auch nicht.
Ein lustiges Ende fand meine erste große Reise, als ich meiner Mutter das Andenken schenkte, das ich ihr mitgebracht hatte. Sie musste herzlich lachen: »Gruß von der Bastei« stand da drauf. Es wurde für mich also Zeit, endlich lesen zu lernen.