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5. Kapitel

Verloren und gewonnen • Deutschland

einig Vaterland • Eine bürgerliche

Badewanne • Stehkragenproletarier

erziehen mich zu einem langsamen

Feinmechaniker • Deutsche in der

Résistance • Meine Lehrer • Hully-Gully, Schlips und Tanztee • Jenaer Bierbraukunst

Mit unserem Umzug in die Stadt verlor ich mit Bedauern meine ganze Habe, das waren alle Schätze, die man im Laufe einer Kindheit auf dem Dorf so anhäuft. Sehr gut fand ich dagegen, dass endlich mein dörflicher Spitzname aus meinem Leben verschwand, und er tauchte auch nie wieder auf. Vor allem die Erwachsenen hatten mich immer »Juppi« genannt. Das war eine blöde Verniedlichungsform von Jupp, und das war rheinländisch identisch mit Josef. Ich war also die verkleinerte Aus­gabe meines Vaters. Das wollte ich aber nicht sein. Meine Spielkameraden hüteten sich, diesen Spitznamen in meiner Gegenwart zu gebrauchen. Ich hätte jedem sofort die Freundschaft gekündigt. Der Schmerz über die tatsächlichen Verluste wich aber bald, und der neue Schulalltag nahm mich mehr in Anspruch, als ich erwartet hatte.

Die Schule war 1953 gebaut worden und trug ab 1961 den Namen »Erweiterte Oberschule (EOS) ›Johannes R. Becher‹«. Natürlich errichtete man in Jena auch ein Johannes-R.-Becher-Denkmal. Das wurde unter der Beteiligung der gesamten Schule aufgestellt und eingeweiht. Sein vergleichsweise kleiner Bronzekopf stand gleich ­neben dem Pulverturm der alten Stadtmauer und dem kolossalen Stein für den Chemiker Johann Wolfgang ­Döbereiner. Das half dem Dichter Becher aber nicht bei der Bilderstürmerei 1989/90. Sein Kopf war weg, immerhin war Becher nebenberuflich auch noch Kommunist und DDR-Kulturminister, Döbereiner nicht.

Gleichermaßen wurde die Goetheallee wieder in Fürstengraben umbenannt, obwohl Goethe mit Döbereiner befreundet war. Goethe war ein großer Heide, wie die meisten Kommunisten auch. Andere Heiden, wie Karl Marx, fielen ebenso unter die modernen Bilderstürmer, obwohl Marx ursprünglich Jude war. Da half ihm auch nicht, dass er in Jena 1841 in absentia, also in Abwesenheit, promovierte. 1992 verschwand sein Denkmal im Keller der Universität. Besagter Becher hatte sich seine Abwicklung mit der Schaffung des Textes der DDR-Natio­nalhymne offensichtlich redlich verdient. Das kann man eigentlich nicht verstehen, lautet in dieser Hymne doch eine Textzeile: Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland …

Dass die Maas, die Memel, die Etsch und der Belt in seinem Liedtext fehlten, wurde ihm wohl zum Verhängnis. Wenn man schon von Deutschland singt, muss man auch wissen, wo seine Grenzen sind. Als der Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben 1841 sein »Lied der Deutschen« dichtete, konnte er nicht wissen, dass sich sein erträumtes »Deutschland« durch die Schuld seiner Obrigkeiten in mehr als hundert Jahren soweit verkleinerte, dass man das Lied eigentlich heute nicht mehr mit ehrlichem Herzen singen kann, nachdem es schon, wie das Land selbst, offiziell auf eine Strophe geschrumpft ist.

Seit Herbst 2019 gibt es in Jena übrigens eine Kopie der Bronzebüste des einstigen Texters der DDR-National­hymne; sie wurde in Jena-Winzerla vor einem Plattenbau aufgestellt und ist für manch einen ein Stein des Anstoßes.

Auch die Stadt Jena verlor schon bald ihre geheimnisvolle Größe, die sie aus der Sicht eines Dorfjungen hatte, und entpuppte sich für mich als Jena – das liebe närrische Nest Goethes.

Wir hatten unser neues Familienquartier bezogen, das sich nur wenige Schritte entfernt von der Universität in der Schlossgasse befand. Die Wohnung hatte riesige Fenster. Das wurde aber »ausgeglichen« durch die enge, dunkle Gasse.

Bemerkenswert war auch das Badezimmer mit seiner unglaublich großen Badewanne, die im Boden eingelassen war und in die hinein Stufen mit einem Geländer führten. Der Hausbesitzer, ein in Jena bekannter Lederwarenhändler, hatte sie für seine alte Mutter einbauen lassen. Trotz der niedrigen Wasserpreise wurden wir Kinder jedes Mal vor einem »Vollbad« gewarnt, eine Badewannenfüllung reiche auch für drei. Wichtig war dabei nur die Reihenfolge.

Mit der neuen Schule hatte ich keine Probleme. Meine Mitschüler kannte ich alle schon, denn aus den Grundschulklassen mit erweitertem Russischunterricht hatte man zwei Klassen der Erweiterten Oberschule gebildet. Ziel war nun das Abitur. Die Experimentierfreudigkeit im Schulwesen der DDR hielt an, und so war dieses Abi­tur mit einer Berufsausbildung verknüpft. Von den vielen am Anfang angebotenen Berufen blieben für unsere Klasse schließlich nur noch zwei übrig: Feinmechaniker und Werkzeugmacher. Da sich niemand freiwillig für die Ausbildung zum Werkzeugmacher meldete, wurde schließlich die Aufteilung festgelegt. Auf die soziale Zusammensetzung der Russischklassen hatte ich ja schon hingewiesen. Werkzeugmacher war wohl doch zu proletarisch. Ich wurde zu den Feinmechanikern gesteckt.

Die Ausbildung für beide Berufe fand im Volkseigenen Betrieb Carl Zeiss Jena statt. Drei Wochen Schule, eine Woche Ausbildung, so lautete der festgelegte Turnus. Die Feinmechaniker bei Zeiss waren ein Völkchen für sich. Meine Mutter nannte sie »Stehkragenproletarier«. Die gingen nicht »auf Arbeit«, sondern »ins Geschäft«. Mein Onkel, der einzige Sohn Elsas, war auch so einer.

Die Abteilung, in der ich lernte, war für den Musterbau zuständig. Sie befand sich in der fünften Etage eines Hauses in der Bachstraße und bestand aus einem langen Raum mit großen Fenstern auf beiden Seiten. An den Tischen entlang der Fenster saßen die Feinmecha­niker: links die Raucher und rechts die Nichtraucher. Der Rauch hielt sich allerdings nicht an diese Einteilung. Ich hatte keinen festen Platz, war aber Raucher.

Zudem hatte die Werkzeugausgabe nichts auszugeben, denn alle volkseigenen Werkzeuge waren irgendwie in den Besitz der gestandenen Feinmechaniker übergegangen und wurden in ihren fest verschlossenen Kästen aufbewahrt. Lehrlinge würden sowieso alles kaputt machen, und wir waren ja in ihren Augen nicht einmal richtige Lehrlinge! Zusätzlich war jedes Werkzeug mit dem Namen des vermeintlichen Besitzers gekennzeichnet. Bei einem 1-mm-Spiralbohrer war das schon eine Leistung, und man brauchte zum Lesen eine Lupe. Feinmechaniker können das. Das ärgerte mich besonders, da das meinen Vorstellungen von Volkseigentum nicht entsprach. Als ich einmal auf eine »herrenlose« Ölkanne meinen Namen pinselte, gab es ein großes Geschrei.

Es war dann auch nicht verwunderlich, dass ich die Berufsausbildung mit den Noten Eins für Qualität und Fünf für Normzeit abschloss. Auf jeden Bohrer oder Fräser musste ich besonders lange warten. Leider konnte ich mir diese Art von Aufsässigkeit auch später nicht abgewöhnen. Dass man sich damit das ganze Leben versauen kann, brachte mich bis heute nicht zur Einsicht, dass man es nicht unbedingt laut sagen müsse, wenn einem etwas ungerecht vorkomme.

Der VEB Carl Zeiss Jena hatte bei Saalfeld ein Kinderferienlager. Da ich ja auch Betriebsangehöriger war, bewarb ich mich dort, um in den Ferien als Helfer zu arbeiten. Das Lager lag in einer Saaleschleife über dem Dorf Remschütz. Meine Aufgabe war es, einen Bungalow zu betreuen, in dem die Kinder Bastelarbeiten durchführen konnten. Das machte viel Spaß, denn jeden Tag kamen andere Gruppen. Wir fertigten Flugzeug- und Schiffs­modelle, kleine Fernrohre und vieles andere. Hier entdeckte ich meine Liebe zur Fotografie. Damals baute Zeiss noch Kleinbildkameras. Ich begann mit einer »Werra 3«. Im Fotolabor des Ferienlagers konnte ich meine Bilder selbst entwickeln.

Neben den Kindern der Betriebsangehörigen gab es auch zwei Gruppen französischer Mädchen und Jungen. Ihre Dolmetscherin hatte einen eigenartigen Namen. Sie hieß Stuhlsaft und stammte aus dem französischen Elsass. Wenn sie den Namen französisch aussprach, klang das ungeheuer vornehm; manchmal nannten wir sie »Mademoiselle Saftstuhl«, doch sie nahm uns das nicht übel. Hier lernte ich auch einen interessanten Mann kennen. Er hieß Florimond Bonte und war Mitglied des Zentral­komitees der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Von einem Besuch des Konzentrationslagers (KZ) Buchenwald nach Remschütz kommend, um nach den französischen Kindern zu schauen, nutzte er die Zeit seines Aufenthalts bei uns dazu, mich viel über die Einstellung der deutschen Jugend zum Faschismus und zum Krieg zu fragen. Er war schon ein alter Herr, Jahrgang 1890, aber sehr an politischen Dingen interessiert.

Einige Jahre später schickte mir Florimond Bonte aus Paris ein Buch: Les antifascistes allemands dans la resistance française. Obwohl ich kein Französisch beherrschte, stöberte ich oft in diesem Buch und stieß auf viele Namen, die mir bekannt waren. Seltsamerweise wurde dieses Buch in der DDR nicht verlegt. Das konnte ich mir damals nicht erklären. Möglicherweise gefielen den Obrigkeiten der DDR einige der dort aufgeführten Namen nicht. Trotzdem kam einer von ihnen noch nach der Wende zu großen Ehren: Der Journalist und ­Résistance-Kämpfer Gerhard Leo (1923 – 2009) wurde 2004 vom französischen Präsidenten zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Eine vorherige entsprechende Anfrage an die Bundesregierung blieb unbeantwortet. Die DDR hatte ihm schon den Vaterländischen Verdienstorden in Silber und später in Gold verliehen. Das minderte seinen »Gebrauchswert« im Nachwende-Deutschland erheblich.

Die Schule beanspruchte mich, wie gesagt, nicht über­mäßig, es gab ja auch noch andere, wichtige Dinge im Leben. Mein Klassenleiter Franz, ein wirklich humanistisch gebildeter Lehrer, erkannte das sofort und ordnete mich in seine Kategorie »stinkend fauler Knochen« ein. Wir kamen gut miteinander aus. Deutsch, Sport und ­Latein waren seine Fächer, aber er sprach auch Französisch und Englisch, und wenn er gut drauf war, rezitierte er vor der Klasse Homers Ilias auf Altgriechisch und fütterte uns mit Jamben und Trochäen. Seine Vortragsweise belustigte mich, und es klang, als würde er beim Rezitieren auf einem Pferd reiten. Vielleicht war es das Dichterross Pegasus, aber das hatte ja Flügel. Die Liebe zur Literatur, und vor allem die zu Goethe und Heine, habe ich zweifels­ohne ihm zu verdanken.

Unser Russischlehrer hieß auch Franz, aber trug einen anderen Nachnamen. Er war ein wahres Original und konnte keinem Schüler ein Leid zufügen. Er stammte aus den ehemals deutschen, jetzt polnischen Ostgebieten. Nach unserer Meinung beherrschte er weder die polnische noch die deutsche oder gar die russische Sprache richtig. Das war natürlich ein großes Missverständnis und beruhte allein darauf, dass wir, als er das erste Mal vor die Klasse trat und Russisch sprach, kein einziges Wort verstanden. Wir hatten doch schon fünf Jahre Russisch gelernt! Es gab also verschiedene Varianten dieser Sprache, und langsam gewöhnten wir uns an die Polzer’sche. Es war wahrlich kein Vergnügen, wenn man den Leit­artikel der Volkswacht – das war die örtliche SED-Zeitung – vor der Klasse stehend ins Russische übersetzen musste. Alle anderen fanden das ziemlich lustig. Franz hatte ein einfaches System, um zu verhindern, dass einer oder eine übersehen wurde: Er machte hinter dem Namen des nächsten Delinquenten im Klassenbuch einen Punkt mit dem Bleistift. Da das Klassenbuch immer auf dem Lehrertisch herum­lag, bekamen wir das schnell heraus und entschärften sein System: Jeder bekam einen Punkt. Kopfschüttelnd radierte er dann alle Punkte weg und fing wieder bei null an. War er einmal ungerecht, brachte er es im Gegensatz zu den meisten anderen Lehrern fertig, sich vor der Klasse zu entschuldigen. Dafür achteten wir ihn sehr und verziehen ihm seine Fehler, so wie er uns unsere verzieh. Er konnte auch gut Geige spielen, und es gelang uns manchmal, ihn zu einem Extra-Konzert vor der Klasse zu bewegen. Dann spielte er »myslivecku kochanecku«, ein von ihm geliebtes polnisches Volkslied, oder auch klassische Stücke. Wir nutzten es immer dann, wenn wir vor einer Klassenarbeit Schiss hatten. Ich glaube, er durchschaute uns, ließ es sich aber nicht anmerken. Hitlers Krieg, in dem er als Soldat dienen musste, war ihm verhasst, und er wollte diese Einstellung auch auf uns übertragen. Er erzählte uns einmal, wie sie auf dem Rückzug 1943 im eisigen Winter ihre gefallenen Kameraden auf dem Lkw mitnahmen, weil sie keine Zeit hatten, sie zu begraben. Als sie dann doch eine Pause machen konnten, waren die Leichen bereits steinhart gefroren. Einige in der Klasse wurden schon grün im Gesicht, aber Franz hatte sich in Rage geredet und merkte das nicht. So berichtete er weiter, dass sie versuchten, mit Hand­granaten in den harten Boden Gräber zu sprengen. Die Toten passten aber nicht hinein, und so legten sie diese über das Loch und versuchten, sie zu zerbrechen …

Von einem anderen Kaliber war unser Chemielehrer. Er war ziemlich besessen von seiner Wissenschaft und konnte partout nicht verstehen, wenn einer das nicht so sah. Besonders berüchtigt waren seine Experimente vor der Klasse. Als er uns einmal demonstrieren wollte, wie man einen künstlichen Nebel erzeugt, hatte er sich wohl bei der Menge der sogenannten Berger-Mischung etwas vertan und vernebelte das ganze Schulhaus. Er riss die Tür auf, aber nicht, um zu lüften, sondern um die Reine­machefrauen hereinzuholen. Die sollten sehen, was echte Chemie ist. Wir saßen gehorsam an den Tischen und konnten unseren Vordermann nicht sehen. Ein andermal wollte er uns eine Knallgas-Explosion vorführen. Der Versuchsaufbau war geschickt und nutzte die noch wenig entwickelten technischen Möglichkeiten der DDR. Das Gasgemisch – Sauerstoff und Wasserstoff – befand sich in einem Rundkolben, der zugestöpselt war. In dem Korken steckte innen eine zerbrochene Taschenlampenbirne, das war der Zünder. Darüber kam ein hölzerner Papierkorb als Splitterschutz. Die Drähte führten nach außen durch den Abzug in den vom Klassenraum abgetrennten Vorbereitungsraum. Der Chemielehrer verzog sich hinter die Mauer und zündete. Es knallte ohrenbetäubend, und der Papierkorb hopste einen Meter in die Höhe. Es gab keine Verletzten, nur manche waren für eine Weile taub. Ich hatte damals längst meine Vorliebe für die Chemie entdeckt und wurde oft von ihm im Unterricht mit dem Handwagen des Hausmeisters zur Flora-Drogerie des Doktor Koch abkommandiert, um neue Chemikalien für die Schule abzuholen. »Dir kann ich sowieso nichts mehr beibringen«, meinte er.

Komplettiert wurde die Reihe der beliebten Lehrkräfte durch den Sportlehrer und Direktor. Er hatte zwar den Spitznamen »Schinder-Otto« von uns bekommen, aber als Pennäler übertrieben wir damals genauso wie die Schüler heute. Er verlangte von uns nicht mehr, als er selbst konnte, ebenso wie Franz, der Deutschlehrer, der uns mit Schlips und pludrigen Trainingshosen am Barren und am Reck Übungen vorturnte, die kaum einer von uns beherrschte. Ottos Söhne waren auch Schüler unserer Schule, aber ich habe niemals bemerkt, dass sie von anderen Lehrern oder von ihm selbst in irgendeiner Weise deshalb bevorzugt wurden. Vom Sport jedenfalls verstand er etwas, das spürten wir nach dem Unterricht noch eine ganze Weile.

Eine besondere Situation trat ein, als wir einen neuen Klassenlehrer bekamen. Sport, Geschichte und Staatsbürgerkunde waren sein Metier. Als er sich mit den Worten »Mein Name ist Herr Doktor Rauscher« vorstellte, war er bei mir unten durch. Ich hasste Autoritätsbeweise, und das war für mich einer. Eine anhaltende Feindschaft war begründet. Fortan nannte ich ihn nur Herr Rauscher, ohne Doktor. Alle Versuche von ihm, mir bei der Anrede einen Doktortitel abzuringen, scheiterten. Ich konnte eigentlich nur den Kürzeren ziehen. Zu dieser Zeit versuchte ich mich mit meinem Freund Rolf im Boxen. Da Rauscher auch Sportlehrer war, forderte er mich eines Tages nach der Sportstunde hämisch zu einem Boxkampf auf. Ich hatte jede Menge Fans, er gar keine. Anfänglich war es nur eine Tändelei und ein Abtasten. Meine Fans skandierten: »Hau ihn, hau ihn!« Schließlich haute ich ihm tatsächlich eins auf die Nase und rannte gleich los, durch die Halle und die Umkleideräume; er immer hinter mir her. Es war ziemlich peinlich. Er schloss mich postwendend von der Klassenfahrt an die Ostsee aus. Gründe dafür hatte er ohnehin genug. Mich ärgerte das nicht. Als er später einmal meine Mutter fragte, was ich gegen ihn einzuwenden hätte, entgegnete sie nur, das solle er mich doch lieber selbst fragen. Das tat er aber nicht.

Das frohe Jugendleben, wie wir es nannten, organisierten wir uns ohne fremde Hilfe selbst. Besonders beliebt waren Tanzveranstaltungen. Da kaum einer in der neunten Klasse Tanzschritte beherrschte, war es Usus, dass alle gemeinsam die Tanzstunden besuchten. Die Tanzschule Zellmann am Camsdorfer Ufer war das einzige Haus am Platze und hatte schon seit 1950 ständig Schülerjahrgänge ausgebildet.

Der Chef war ein stattlicher Mann, seine Frau konnte ihm unter der Achselhöhle durchlaufen, was bei einigen Tanzfiguren möglicherweise recht günstig war. Er achtete penibel auf Etikette und versuchte, uns auch ein Mindestmaß an Benehmen beizubringen, hatte aber bei mir nicht viel Erfolg damit. Sein Sohn und seine Schwiegertochter halfen manchmal aus. Sie unterschieden sich nur durch die Größe der Partnerinnen.

Neben den Standardtänzen wurden noch Boogie-Woogie, Rock ’n’ Roll und Hully-Gully, aber auch heute weitgehend vergessene Tänze, wie zum Beispiel Rheinländer, gelehrt. Musikalisch sind mir besonders in Erinnerung geblieben: Connie Francis mit »Lipstick On Your ­Collar« und Wanda Jackson mit »Let’s Have A Party«. Da Tanzstunden gewissermaßen öffentliche Veranstaltungen waren, hätte der Hausherr diese Westplatten überhaupt nicht spielen dürfen, doch darüber setzte er sich hinweg, was auch ohne Folgen blieb.

Anzug, weißes Hemd und Schlips waren Pflicht, die Mädchen trugen Röcke oder Kleider. Die Tanzstunde begann immer damit, dass der alte Tanzlehrer Kerzenwachs auf das Parkett schnippelte. Das wurde dadurch höllisch glatt. Wenn er dann in gewohnter Manier »Die Herren bitte!« rief, lagen manche schon auf dem Bauch, bevor sie ihre Partnerin auf der gegenüberliegenden Seite des Saales erreicht hatten. Das war für manch einen praktisch, weil oft die gleichen Mädchen angepeilt wurden. Ich hatte Glück und mir eine feste Tanzpartnerin aus der Parallelklasse organisiert. Ute war eine sehr gute Tänzerin, hübsch dazu, wohnte allerdings außerhalb von Jena. Natürlich war ich in sie verknallt, wie man damals so sagte. Zum Tanzstunden-Abschlussball im Saal des Jenaer Hotels Schwarzer Bär sollten wir dann mit einem Wiener Walzer die Tänzerkolonne anführen. Der Tanzlehrer konnte seine Kerzenschnitzerei nicht lassen, und so legten wir uns beide sozusagen mit Wiener Schwung in der Kurve flach auf das Parkett. Das war höchstpeinlich, aber es ging vorüber. Ute studierte später in Budapest Zahnmedizin, und wir verloren uns leider aus den Augen.

Die musikalisch härteren Sachen gab es beim »Tanztee« in der Wöllnitzer Schönen Aussicht oder im Saal des Rathauses in Camsdorf. Beatles, Rolling Stones und The Kinks bildeten da die Spitzenreiter, und Tee wurde auch nicht ausgeschenkt, obwohl das Tragen eines Schlipses Pflicht war, was nun tatsächlich zum Tee gepasst hätte. Die Bands, die unsere Hits spielten, hießen Ohios oder Tutti, und ihr Englisch war vom Typus »gesungen, wie gehört«, aber uns war das egal, wir konnten es auch nicht besser. Bei Tutti, die sich einfacherweise nach dem Spitznamen ihres Chefs benannt hatten, hatte ich meinen einzigen Auftritt als Sänger mit »Shakin’ All Over« von den Swinging Blue Jeans und »Poor Boy« von den damals beliebten The Lords, einer westdeutschen Rockgruppe. Eine Beat- oder Rockmusik »Made in GDR« entwickelte sich erst allmählich und brauchte eine Weile, bevor sie von uns akzeptiert wurde.

Gingen wir einmal nicht zum »Tanztee«, besuchten wir unsere Lieblingskneipen. Die hießen Fuchsturm, Wilhelmshöhe und Geleitshaus. Später kamen noch Kleinvogels Gaststätte und die Weintanne dazu. Erhalten geblieben ist heute davon nur noch der Fuchsturm. Getrunken wurde Bier, gespielt wurde Doppelkopf, seltener Skat. Das Bier kam noch aus der Jenaer Brauerei, die schon seit 1332 im Felsenkeller Bier braute. Das schaffte sie aber nur bis 1990, dann wich sie höherer Gewalt. Wenn ein Produkt aus dem Osten im wiedervereinigten Deutschland nicht gebraucht wurde, dann war es das Bier.

Im Sommer suchte die Brauerei Jena immer hände­ringend nach Aushilfskräften. Es bot eine gute Gelegenheit, den Geldbeutel aufzubessern. Zwei Wochen hielt ich später als Student in den endlosen finsteren Gängen des roten Buntsandsteinfelsens durch. Man hatte zwar den Eindruck, dass die Hälfte der Belegschaft ständig im Tran war, aber die Arbeit war einfach.

Ich saß an einem schmalen Band, auf dem die Bierflaschen in mäßigem Tempo an mir vorüberzogen. Ein Kommilitone saß kurz vor mir und fischte aus einem Eimer mit lauwarmem, hefigem Wasser die Flaschenverschlüsse heraus. Irgendein Witzbold hatte die bewährten Kronenverschlüsse aus Blech durch Plasteverschlüsse ersetzt. So etwas nannte man in der DDR »Neuerer­vorschlag«. Dafür bekam man Geld. Die neuen Verschlüsse waren aus brauner Plaste und sahen aus wie kleine Mützen mit Schirm. Mit dem Schirm konnte man, wenn er kalt war, die Mütze abhebeln. Ansonsten benötigte man eine Wasser­pumpenzange.

Diese feuchtwarmen Mützen also setzte mein Mitarbeiter den gefüllten Flaschen auf, und ich musste sie mit einem Holzhammer den Flaschen gewissermaßen über die Ohren kloppen. Am Anfang zerstörte ich jede zweite Flasche, aber ich war geduldig und hatte bald den Bogen heraus. Abends konnte man dann für einen schmalen Taler zwei Flaschen Bier ohne Etikett – den sogenannten Haustrunk – mit nach Hause nehmen. Jetzt war mir auch klar, warum die Belegschaft immer so schräg dreinblickte.

Bei dieser Produktionsweise und bei dem ohnehin hart umkämpften Biermarkt hatte die Jenaer Brauerei nach der Wende nicht den Hauch einer Chance. Nichts erinnert heute mehr an den Spruch »Jenaer Bier – eine Spitzenleistung – seit 1332«. Ein kleines Bier, das waren 0,33 Liter, kostete übrigens 49 DDR-Pfennige aus Aluminium, das sind mit Um- und Abwertungen heutig etwa 12 Cent aus Kupfer. Warum dieselbe Menge Bier theoretisch auf dem Oktoberfest 3,50 Euro kostet, erschließt sich mir nicht. Außerdem würde sich niemand auf dem Oktoberfest trauen, ein Drittel Maß Bier zu bestellen.

Der Fälscher

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