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6. Kapitel

Zwei unauffällige Herren vom MfS • Feinde und Helden • Getarnt wie Luther • Ich zeige langhaarigen Bayern unser Berlin • Poor Boy und eine Sommerliebe • Wallenstein und das Abitur • Eine folgenschwere Reise nach Polen

Es war 1964 in Gera während einer mehrtätigen Zusammenkunft zur Vorbereitung des »Deutschlandtreffens der Jugend«, das zu Pfingsten in Berlin stattfinden sollte, als ich abends im Aufenthaltsraum von zwei Herren im Anzug angesprochen wurde. Sie verwickelten mich in ein Gespräch über den Sozialismus im Allgemeinen und im Besonderen und fragten mich dann ohne Verrenkungen, ob ich bereit wäre, mit der Staatssicherheit zusammen­zuarbeiten.

Dass es das MfS gab, wusste ich und hatte keine Probleme damit. Westfernsehen gab es bei uns zu Hause nicht, und im Westradio interessierte mich nur die Musik. Radio Luxemburg war immer eine beliebte Quelle. Politische Themen hatten die selten auf der Antenne.

Auf meine Frage hin, was sie sich unter einer Zusammenarbeit so vorstellten, blieben die beiden Herren ziemlich allgemein beim Klassenfeind und seinen Angriffen gegen die DDR, und ich hatte eigentlich nichts dagegen, diesen Feinden ein paar auf die Finger zu hauen.

Schon in der Grundschule hatten wir über aufgedeckte Pläne von Agenten aus dem Westen diskutiert, die vorhatten, die Saaletalsperren zu sprengen. In Jena hätte dann das Wasser zwölf Meter hoch gestanden. Da wären wohl eine Menge von lieben Brüdern und Schwestern in der Zone mit Sicherheit ersoffen. Die Niederlage der amerikanischen Invasoren in der kubanischen Schweinebucht 1961 fiel mir ein und dass die Amis gerade dabei waren, Vietnam zurück in die Steinzeit zu bomben. Che Guevara, Fidel Castro und Ho Chi Minh waren unbestritten aktuelle politische Vorbilder für mich. Kein anderes Ereignis in dieser Zeit hat meinen politischen Werdegang so nachhaltig beeinflusst wie der Vietnamkrieg. Für mich gab es keine Alternative dazu, diesen Krieg mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Dass die westdeutsche Regierung bedingungslos hinter der amerikanischen Politik stand, war kein Geheimnis. Nein, befreundet war ich mit denen nicht, obwohl ich dort jede Menge Tanten und meine Großeltern hatte, die der von den deutschen Faschisten entfesselte Krieg vom Sudetenland nach Stuttgart-Bernhausen in eine Fremdarbeiterbaracke vertrieben hatte. Aber mein Vater hatte sich nie an den Landser-Geschichten beteiligt, die anderen nach dem nötigen Quantum Bier hochkamen.

Konkreter wurden die beiden Herren bei diesem Gespräch aber nicht. Sie wollten sich später in Jena wieder melden. Danach war eine ganze Weile Ruhe, und die ­Sache geriet erst einmal aus meinem Blickfeld.

Das »Deutschlandtreffen der Jugend« 1964 in Berlin war eine große Sache. Es war das dritte Treffen dieser Art seit dem Bestehen der beiden deutschen Staaten, jedoch das erste, das nach dem Bau der Mauer stattfand. ­Extra aus diesem Anlass wurde das Jugendradioprogramm DT64 eingerichtet. Und mit einem Mal konnte man Rock ’n’ Roll im DDR-Rundfunk hören! »Sweet Little Sixteen« mit Chuck Berry, das war was! Da brachen doch echt neue Zeiten an!

Ich war inzwischen als IM von der Staatsicherheit angeworben worden. Richtigerweise hieß das: Inoffizieller Mitarbeiter. Welcher Art die Mitarbeit war, legte der Führungsoffizier fest. Meiner hieß Roland und war ein umgänglicher Typ, nicht viel älter als ich. Ich bekam auch einen Decknamen, den sollte ich mir selbst aussuchen. Zuerst fielen mir alle möglichen Namen aus der hero­ischen Geschichte der Kommunistischen Parteien ein, aber dann fand ich das doch übertrieben. Ich wählte den Namen »Jürgen Junk«. Für mich war das eine ironische Wortschüttelei von »Junker Jörg«. Das war einmal der Deckname von Martin Luther. Ich musste das zum Glück nicht erklären, und so blieb ich unentdeckt mit meiner Ironie allein. Das war auch gut so, denn andernfalls hätte ich mir sicher einen neuen Decknamen ausdenken müssen. Ironie und Humor waren beim MfS nie sonderlich gut entwickelt.

Ich betreute beim »Deutschlandtreffen« in Berlin eine Gruppe westdeutscher Linker, alle aus Bayern, und die meisten waren älter als ich. Den Job hatte mir Roland angeboten. Ich brauchte aber nicht über jeden meiner Linken einen Bericht zu schreiben.

Diese Westlinken waren ständig auf der Suche nach marxistischer Literatur, wussten aber, dass ihnen das meiste bei der Einreise in die BRD wieder abgenommen werden würde, und so kauften sie alles doppelt und dreifach. Was mich besonders wunderte, war der Umstand, dass sie unser Bier nicht vertrugen, es war ihnen zu stark. Meine Vorstellungen vom Oktoberfest musste ich also korrigieren.

Als wir dann irgendwo an der Karl-Marx-Allee standen und der Demonstration zuschauten, skandierten meine Westlinken plötzlich lautstark: »Von der Oder bis zum Rhein wird der Sozialismus sein!« Mir fielen sofort die Maas und die Memel ein, und die vor uns Stehenden drehten sich um, um zu sehen, wer hier solche Sprüche abließ. Nun waren meine Jungs an der Haartracht nach DDR-Maßstab nicht gerade als Linke zu erkennen, so dass die sich Umschauenden wohl meinten, das sei eine Provokation von langhaarigen Gammlern. Ich hatte reichlich Mühe, dieses Missverständnis aufzuklären – hatte ich doch selbst lange Haare –, aber es gelang schließlich. Den Spruch fand ich allerdings auch nicht gerade mitreißend revolutionär.

Mein Studienwunsch war Chemie, daran gab es nichts zu rütteln. Mir hatten es besonders die Farben angetan. Also bewarb ich mich in der elften Klasse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Von zu Hause weg wollte ich nicht. Meine Eltern engten mich nicht ein.

Mit der Aufnahmeprüfung hatte ich keine Probleme. Der prüfende Professor fragte mich, einen Bleistift zwischen den Fingern drehend, warum der gelb sei. Schnell waren wir über die Absorption von Licht bei den Farben, und da war ich in meinem Element.

1967 wurde ich Kandidat der Sozialistischen Einheits­partei Deutschlands (SED). Mein Deutschlehrer hatte mich geworben. Der Eintritt in die Partei entsprach meinen politischen Auffassungen, und ich kann auch heute nichts Ehrenrühriges an diesen Auffassungen entdecken. Ich war nicht der einzige Kandidat in meiner Klasse. Keiner übte auf mich Druck aus oder lockte mit irgendwelchen Versprechungen.

Im Sommer nach der elften Klasse besuchte ich ein sogenanntes Lager der Erholung und Arbeit an der Ostsee. An die Arbeit kann ich mich nicht so recht erinnern, wohl aber an die Erholung. Mit von der Partie war die schon genannte Band Tutti, die für den Abschlussabend unbedingt noch einen Sänger suchte, da ihrer aus irgendeinem Grunde nicht einsatzbereit war. Nach ein paar kurzen Proben war ich engagiert und durfte zum Abschluss­konzert ohne Gage die schon erwähnten zwei Titel singen: »Shakin’ All Over« und »Poor Boy«. Das tat ich dann auch, und alle waren zufrieden. Was ich da in meinem Küchenenglisch gesungen hatte, verstand ich erst ein paar Jahre später genauer und war froh, dass sich inzwischen der Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet hatte.

An diesem Abend lernte ich ein Mädchen kennen. Sie hieß Gundula, aber ihre Freunde nannten sie Gunda. Sie gefiel mir sehr, jedoch für eine Sommerliebe schien es zu spät. Wir kamen gerade noch dazu, unsere Adressen auszutauschen, und ich versprach, sie noch in diesem Sommer zu besuchen. Vielleicht konnte man das mit der Sommerliebe nachholen.

Tatsächlich machte ich mich ein paar Tage später auf den Weg in Richtung Frankfurt (Oder), um in das Dorf zu gelangen, wo sie wohnte. Wie es sich gehörte, wurde getrampt. Leider ging das nicht so schnell, wie ich angenommen hatte, und so kam ich in stockfinsterer Nacht in diesem Dorf an. Das Haus fand ich bald, aber alles war zappenduster. Zu klingeln traute ich mich nicht. Das Dorf war um diese Zeit so beleuchtet wie jedes Dorf in der DDR – nämlich gar nicht. Die DDR sparte Strom. Das macht heute keiner mehr. Bei der Suche nach einem Nachtquartier für Tramper stand ich plötzlich vor einem Scheunentor. Eine Taschenlampe hatte ich nicht, aber Streichhölzer. Also funzelte ich in der Scheune herum; die Tenne war leer, nur eine Leiter führte auf den Heuboden. Etwas wackelig und ein brennendes Streichholz in der Hand erklomm ich die Leiter. Der Oberboden war auch leer. Nur in einer Ecke lag ein kleiner Haufen, der wie Getreide aussah. Bei der Kokelei mit den Hölzern wurde mir langsam mulmig, ich pustete das Streichholz aus, legte mich einfach auf den Haufen und schlief ein.

Ich wurde erst wach, als ich das Klappern von Eimern hörte. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass ich bis zum Hals in irgendetwas steckte. Leider war es kein Getreide, sondern die dazugehörige Spreu, die überall in meinen Sachen steckte und heftig piekte. Beim vorsichtigen Blick aus einer Luke erkannte ich, dass ich in der Nacht durch ein offen stehendes Tor mitten auf einen Bauernhof geraten war. Jetzt war guter Rat teuer. Ich konnte doch nicht einfach über den Hof hinausspazieren, auf dem die Bäuerin Hühner fütterte!

Erst einmal musste ich meine Sachen von diesem ek­ligen Zeug befreien. Ich zog mich bis auf die Haut aus und polkte die Grannen, so gut es ging, aus Hemd und Hosen. Dann kletterte ich die Leiter hinunter und trat auf den Hof. Der war leer. Die Bäuerin werkelte klappernd im Schweinestall. Eigentlich hätte ich nun doch unbemerkt verschwinden können, aber die fünfzig Meter bis zur Straße – und wenn jemand aus dem Haus kam? Also ging ich mit klopfendem Herzen in den Stall und versuchte, der Chefin des Hauses zu erklären, wie ich in ihren Hof und in ihre Scheune gekommen war.

»Und da oben haben Sie geschlafen?«, sie schüttelte den Kopf. Sie musterte mich und lächelte breit. Vielleicht hatte ich noch ein paar Spelzen auf dem Kopf. Von den Streichhölzern erwähnte ich ihr gegenüber vorsichts­halber nichts.

Mir wäre es am liebsten gewesen, ich hätte Gunda »zufällig« auf der Straße getroffen, aber das war nicht zu erwarten. Ich musste also wohl oder übel der Familie einen ordentlichen Besuch abstatten. Die Aufnahme war freundlich – sie hatte also ihre Eltern vorbereitet. Es war mir alles etwas ungewohnt und zu offiziell, aber ich riss mich zusammen und spielte den guten Jungen. Auf die Frage, wie lange ich bleiben wolle, antwortete ich spontan: »Zwei oder drei Tage.«

Ich bekam ein Nachtlager im Wohnzimmer. Gunda und ich spazierten durch das Dorf, sie zeigte mir die Ecken, wo sie als Kind immer gespielt hatte, aber das war schon eine Weile her. Jetzt ging sie in die neunte Klasse der EOS in Frankfurt (Oder). Der erste Tag war schnell vorbei, wenn man vom Familienabendessen absah.

Schließlich saß ich allein auf meinem Schlafsofa. Ich sah mich im Wohnzimmer um. Zu allererst interessierten mich die Bücher. An den Büchern der Leute konnte man erkennen, mit was für einer Sorte Mensch man es zu tun hatte. Mit kundigem Auge erspähte ich ein in rotes Leinen gebundenes Buch, das wohl schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte. Um es herauszuholen, musste ich die Glastür des Schranks öffnen und erschrak, welchen Lärm das machte. Ich hatte mich nicht getäuscht, das war ein Buch über Sex. Wenn ich mich richtig erinnere, war es Auguste Forels Die sexuelle Frage. Der Untertitel besagte, dass es für Gebildete sei. Ich fing an, darin zu blättern, denn ich hielt mich für gebildet genug. Immer dann, wenn es spannend wurde, verfiel der Autor auf die Idee, in Lateinisch weiterzuschreiben. So gebildet war ich nun aber auch wieder nicht. Diese Geheimniskrämerei ärgerte mich. Plötzlich klapperte irgendetwas im Haus, ich stellte das Buch vorsichtig zurück und löschte das Licht. Morgen war ja auch noch ein Tag.

Am nächsten Tag unternahmen wir einen langen Ausflug in die Umgebung. Es gab viele Kiefern und viel Sand, aber zum Glück auch einen schönen Badesee. Man konnte den Sommer förmlich riechen. Der Duft des Harzes und der reifen Getreidefelder breitete sich aus. Komischerweise gingen wir zuerst mit Badebekleidung in den See, obwohl es mir ohne besser gefallen hätte, aber sie war erst sechzehn, gut erzogen und hier zu Hause. Schließlich siegte dann aber doch die Sommerliebe, und es ging auch ohne Badehose. Wir waren unerfahren und sicher auch ungeschickt. Die Kiefernadeln piekten, und wir fühlten uns ständig beobachtet. In die Verliebtheit mischte sich ein kleiner Wermutstropfen. Schließlich packten wir unsere Sachen zusammen und liefen zurück ins Dorf. Ich hatte den Eindruck, dass mich Gundas Eltern eingehend musterten, immerhin war ich ja schon fast achtzehn. Schließlich war ich froh, als man sich gegenseitig eine gute Nacht wünschte.

Als im Haus Ruhe eingekehrt war, machte ich mich wieder am Bücherschrank zu schaffen. Vielleicht hatte der alte Forel doch einen Tipp auf Deutsch für mich, was da schiefgelaufen war. Doch – holla – das Buch war weg! Die Alten hatten den Braten gerochen und wollten offensichtlich keine Beihilfe zur Sünde leisten. Das war aber blöd.

Zum Frühstück war die Stimmung irgendwie anders. Es kam kein ordentliches Gespräch zustande. Vielleicht hatten Gundas Eltern ihr die Leviten gelesen. Ich fragte vorsichtshalber nicht danach. Einsilbig wanderten wir zum Bahnhof, der auf der halben Strecke zum Nachbardorf lag. Wir küssten uns zum Abschied und versprachen, ein­ander zu schreiben. Irgendwie war ich auch erleichtert, als der Zug schließlich abdampfte.

Das Abitur warf seine Schatten voraus, und ich machte mir Gedanken um die mündliche Prüfung. Mein Sorgenkind war Latein. Da war ich nicht der Einzige. Ich hatte da nie viel Arbeit investiert, und so sah auch das Ergebnis aus. Da wollte ich eine mündliche Prüfung unbedingt vermeiden. Die letzte Klassenarbeit sollte den Ausschlag geben. Ich stand zwischen Zwei und Drei. Schrieb ich eine Eins, bekäme ich als Gesamtnote eine Zwei und wäre raus, mit einer Fünf wäre die Gesamtnote Drei, und ich müsste auch nicht in die Mündliche. Jede andere Note wäre gefährlich.

Thema waren die Stammformen der lateinischen Verben, das war so etwas wie »laufen, lief, gelaufen«, bloß auf Lateinisch. Ich nahm also die Gitarre, suchte mir eine einfache Melodie und lernte dann an zwei Nachmittagen einhundertzwanzig lateinische Verben samt deren Stammformen. Es klappte vorzüglich. Was bei Opern­sängern ging – warum sollte das hier nicht funktionieren? So lang wie die Arie des Orpheus war die Latte der Stammformen nicht.

Dummerweise war das erste Verb in der Klassen­arbeit dasjenige, was am Anfang meiner lateinischen Oper stand, und genau das wollte mir plötzlich nicht mehr einfallen. Nach zehn Minuten war ich sicher, die Eins war gestorben, und so faltete ich den Zettel, auf dem nur mein Name stand, zusammen und gab ihn dem Lateinlehrer. Meine Rechnung ging auf – ich musste in Latein nicht in die mündliche Prüfung, dafür in Mathe und Russisch.

Eine kleine Hürde stellte noch der Aufsatz in Deutsch dar. Die Originalliteratur war als Hilfsmittel erlaubt. Die beiden Themen waren zuvor bekannt: Kabale und Liebe und Wallenstein – zweimal Schiller. Einen Tag vorher erkundigte sich Franz, wer welches Thema im Aufsatz bearbeiten wird. Alle wollten Kabale und Liebe nehmen, da entschied ich mich für Wallenstein. Das Kabale-Drama war mir zu schwülstig, also kaufte ich mir schnell noch die beiden Wallenstein-Reclam-Bändchen.

Für den Aufsatz waren sechs Stunden vorgesehen. Zwei Stunden gingen bei mir für das Lesen drauf, bisher kannte ich den Wallenstein ja nur vom Hörensagen. Das fiel selbst dem Deutschlehrer auf, und er fragte mich, ob ich denn nicht anfangen wolle, zu schreiben. Das Argument, ich müsse Wallenstein vorher doch erst gründlich lesen, akzeptierte er. Die restliche Zeit schrieb ich ohne Pause durch. Der Stoff hatte mir schon im Unterricht zugesagt, und so bekam ich eine glatte Eins – zur Freude von Franz.

Auch den Sechs-Stunden-Aufsatz in Russisch bekam ich hin, allerdings musste ich die reichlich vorhandenen Fehler durch Textmasse »verdünnen«.

So verlief das Abitur ohne weitere Hindernisse. Mit der Abiturnote »gut« war ich zufrieden.

Als krönenden Abschluss unserer Schulzeit hatte ich mir mit meinem Freund Rolf eine Reise nach Polen – in die Hauptstadt Warschau – vorgenommen. Wir wollten unsere Freundinnen mitnehmen. Meine Sommerliebe hatte bereits ein Jahr lang gehalten. Wir hatten uns allerdings seit meinem Besuch bei ihr nicht wiedergetroffen, sondern nur regelmäßig geschrieben. Gundas Eltern waren einverstanden. Rolfs Freundin kannte ich schon eine Weile, wir verstanden uns gut.

Ein Privatquartier hatten wir uns besorgt. Als Reise­dokument bekam man einen Visum-Stempel in den Personalausweis. Das war einfach. Komplizierter war es dann aber mit dem Geld. Das polnische Geld musste man bereits in der DDR vor Reiseantritt wechseln. In Polen konnte man dann nur noch 32 DDR-Mark tauschen. Die finanziellen Verhältnisse zwischen den sozialistischen Ländern waren ziemlich kompliziert. Wie schon meine Mutter immer sagte, hörte auch hier die Freundschaft beim Geld auf. Irgendwie schaffte ich es nicht, meine 800 Mark – so viel hatte ich mir für die Reise zusammengespart – noch in der DDR zu tauschen. In Frankfurt (Oder) stieß Gunda zu uns. Ehrlich, wie ich war, gab ich beim Grenzübertritt in der Zolldeklaration alles Geld, was ich mithatte, an, und so nahm das Pech seinen Lauf, ohne dass ich es ahnte. Mein Geld tauschte ich in irgendeinem Hotel in Warschau um und bekam auch eine Quittung – natürlich in Polnisch. Das konnte ich nicht lesen.

Warschau gefiel uns sehr. Besonders beeindruckte uns der Flohmarkt, auf dem man nahezu alles kaufen konnte. Manchen Dingen sah man an, wie sie wohl den Weg hierher gefunden hatten, wie zum Beispiel einem Wasserhahn, an dem noch ein Meter Rohr mit einem Betonklumpen hing, oder einem Wehrmachtsradio, dem alle Röhren fehlten. Ich kaufte mir eine Plasteschallplatte, die wie eine Postkarte aussah, mit einem Titel von The Troggs: »Wild Thing«. Rolf wollte unbedingt ein Paar Stiefeletten, wie sie die Beatles trugen; ich war scharf auf die Langspielplatte Enigmatic von Czesław Niemen, einem damals sehr populären polnischen Rockmusiker. Wir fuhren mehrmals quer durch Warschau, bis wir unsere Wünsche erfüllt hatten.

Die Unterkunft war prima, eine große Wohnung mit einem alten vornehmen Herrn, der uns nicht störte und meistens auch nicht anwesend war. Wir hatten zwei Zimmer, eines für die Jungen, eines für die Mädchen, wie der Hausherr meinte. Abends, als er weg war, änderten wir natürlich die Aufteilung. Aus irgendeinem Grund kam ich in der Nacht auf den Gedanken, die Einteilung des Vermieters wiederherzustellen. Ich wollte ihn wohl nicht hintergehen. Die anderen waren der Meinung, ich würde spinnen, aber ich setzte mich schließlich durch. Das Verhältnis zu Gunda erlitt einen Knacks.

Als wir in Frankfurt (Oder) auf der Heimreise die Grenze überquerten, wurden wir natürlich kontrolliert, und die Sache mit dem Geld kam ans Licht. Wir mussten raus aus dem Zug, Gunda fuhr allein weiter. Die Sommerliebe war beendet. Dann ging eine stundenlange Befragung los. Man erklärte mir schließlich auch den langen polnischen Satz auf der Umtauschquittung aus dem Warschauer ­Hotel: Ich hatte für fünfundzwanzig Touristen Geld umgetauscht. Rechnerisch war das korrekt, aber die anderen vierundzwanzig, für die ich Geld getauscht haben sollte, waren mir unbekannt. Am Ende stand die Mitteilung der Vernehmer, dass man gegen mich ein Verfahren wegen Zoll- und Devisenvergehens eröffnen würde. Ich bekäme Bescheid.

Das klang ziemlich kriminell, und ich sah mein Studium der Chemie sich schon in Rauch auflösen. Die Polen hatten mich geleimt, und die eigenen Leute entpuppten sich als Krämerseelen. Damals verstand ich noch nicht, dass zwanzig Jahre Frieden nicht ausreichten, um aus erbitterten Feinden Freunde zu machen. Die Polen blieben misstrauisch. Schließlich waren die Deutschen ja die­jenigen gewesen, die sie überfallen hatten. Freundschaften kann man eben nicht von oben anweisen, auch wenn man sie »unverbrüchlich« nennt. Jeder hatte da so seine ganz persönlichen Erfahrungen. Mein monolithisches Weltbild bekam die ersten Kratzer.

Erst später verstand ich, dass auch mit den Umtauschkursen etwas nicht stimmen konnte. Die Ungarn brachten einmal einen Güterwagen vollbeladen mit »illegal« bei ihnen umgetauschtem DDR-Geld zurück und bezahlten damit einen Teil des Außenhandelsumsatzes mit der DDR – mit Schwarzgeld. Die DDR-Regierung war davon nicht begeistert. Ein ähnliches Problem mit den illegalen Wechselstuben in Westberlin hatte sie ja schon einmal mit einem Geldumtausch über Nacht beseitigt. Das ging aber unter sozialistischen Bruderländern nicht. Auch hier führte das nicht zur weiteren Verbesserung der ohnehin schon ehernen Freundschaft.

Der Fälscher

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