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Die Nacht der langen Messer
ОглавлениеSonntag, 27. Oktober, zu nachtschlafener Zeit
Mit geradezu aufreizender Ruhe umrundet der riesige weiße Hai nun schon zum dritten Mal den verzweifelten Schwimmer. Dessen Lage ist aussichtslos und er spürt es am ganzen Körper. Er möchte um Hilfe schreien, doch er kann es nicht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann das Ungeheuer ihn in Stücke zerreißt. Der Mann ist vor Angst erstarrt und zu vollkommener Untätigkeit verurteilt. So oder so ähnlich muss es gewesen sein, als im finsteren Mittelalter unschuldige Menschen vor den sensationslüsternen Augen der geifernden Menge zum Scheiterhaufen geführt oder in den römischen Arenen wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen wurden, während der Mob vor Begeisterung röhrte. Die Panik lässt das Herz des Eingekreisten schier zerspringen. Nur das ihn umgebende Meer verhindert, dass man die unzähligen Schweißbäche erkennen kann, die sein geschundener Körper intervallartig ausstößt. Mit jeder Umrundung des Meeresräubers nimmt der Durchmesser der Kreise in dem Maße ab, in dem die höllische Angst des Mannes zunimmt. Kurz bevor die Bestie zum tödlichen Angriff ansetzt, entblößt sie mehrere, schier endlose Reihen messerscharfer Zähne, es scheint fast, als wolle sie ihr Opfer auch noch lachend verhöhnen, sich an dessen Panik genüsslich weiden. Unvermittelt fängt eine unsichtbare Gruppe südamerikanischer Blechbläser an zu spielen. Guantanamera, guajira Guantanamera, Mi verso es de un verde claro. Los Paraguayos unter Wasser? Oder haben ihn etwa gar die Amerikaner nach Guantanamo verfrachtet, um ihm unter Anwendung ausgefeilter Foltermethoden seine geheimsten Gedanken zu entlocken? Aber er hat doch gar nichts Schlimmes getan und wie ist er nur hierher geraten? Oder war der Hai von eben nur eine Halluzination, ausgelöst von heimtückischen Drogen, die ihm seine Peiniger mit Gewalt eingeflößt haben? Da, die Wende! Urplötzlich lichtet sich das Dunkel um ihn herum. Peter greift kräftig aus und strebt mit mächtigen Armbewegungen der Oberfläche zu. Im selben Moment, in dem er die Wasseroberfläche durchstößt, hört er seine Frau Marga aufgebracht schreien:
„Horch amal, Beder, woss hausd denn du mir dauernd mit deine Arm middn ins Gsichd? Hossd du an Albdraum odder woss? Und warum bläckdn der Wecker in aller Herrgoddsfräih um dreier scho su laud, nu derzou Gwandanamera?“1
„Allmächd, entschuldige, Marga“, beeilte sich der so gescholtene zu versichern, „ich hobb dräumd, ich bin ganz weid drundn im Meer und a weißer Hai greifd mi an und dann hodd auf amol a nu die Musik gschbilld. Einen Schmarrn kommer der vielleichd zsammdräumer, des konnsd der nedd vorstelln. Und dess alles bloß walls heid abnd Forelln gebn soll. Also, wie des mit dem Underbewussdsein funkzjonierd, dess iss mir ein ewiches Rädsl. Underbewussdsein! Von wegen - under aller Sau iss dess!“
Der Radiowecker hatte inzwischen auf das gesprochene Wort umgeschaltet, Nachrichten aus aller Welt. Auch nicht besser, erneut Horrormeldungen, diesmal echte. Peter erhob sich mühsam aus den Federn und schlurfte ins Badezimmer. Vorsichtig zog er den Rollo hoch und spähte in die Morgendämmerung hinaus. Nieselregen. Auch das noch. Saukalt dazu. Na ja, das konnte im Laufe des Tages schon noch besser werden. Als ob er nur auf das Stichwort gewartet hätte, bestätigte der Wetterbericht Peters Hoffnung auf einen leichten Temperaturanstieg. Bis Mittag sollte es achtzehn Grad geben. Er eilte zurück ins Schlafzimmer, drückte vehement auf die Stopptaste und würgte so den Lokalsender abrupt ab. Marga sollte schließlich noch ein paar Stunden ihre Ruhe haben. Es reichte schon, wenn er mitten in der Nacht aufstehen musste. Ihm blieb aber auch gar nichts anderes übrig, denn versprochen ist versprochen.
Es ist stockfinster. Der riesige Mann tastet sich äußerst vorsichtig im dunklen Raum vorwärts. Die Lampe bleibt zur Vorsicht aus, denn er möchte keinesfalls beobachtet werden. Wäre es schon etwas heller, dann könnte man eine Gestalt erkennen, die von oben bis unten in dunkelgrüne Gummikleidung gewandet ist. Ein Messer, dessen Ausmaße selbst Crocodile Dundee höchsten Respekt abringen würden, hängt seitlich an seinem Gürtel. Es ist scharf genug, davon hat er sich überzeugt, denn die Opfer seines Beutezuges sollen nicht unnötig lange leiden. Aus dem Hintergrund des Zimmers ertönt ein gleichmäßiges, leises Schnarchen. Vorsichtig! Gott sei Dank haben seine Stiefel Gummisohlen, die nur ab und zu ein ganz leises, quietschendes Geräusch erzeugen. Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis er alle Gegenstände, die er mitnehmen möchte, in seiner geräumigen Tasche verstaut hat. Jetzt nur noch die Uhr. Ein gezielter Griff und er hat sie … leider verfehlt, dafür aber das Nachttischlämpchen vehement von seinem Platz gestoßen. Ein ohrenbetäubender Lärm von brechendem Glas und auf dem Boden herumkullernden Einzelteilen der einstmals ziemlich teueren, stylischen Lampe und ein nicht zu unterdrückender Fluch beenden die Totenstille im Schlafzimmer der Bräunleins. Gisela ist inzwischen aufgewacht und hat ihre Leselampe angeknipst. Als sie die verwegene Gestalt vor sich sieht, will sie ihren Augen kaum trauen.
„Horch amal, spinnsd etz du, Simon. Allmächd!2 Wäi schausd denn du aus. Du willsd doch zum Angln gäih und nedd auf an Feldzuuch! Warum machsd nern aa ka Lichd nedd!“
Normalerweise müsste an dieser Stelle ein Fragezeichen folgen. Um dem schrillen Kommandoton Giselas aber auch nur einigermaßen gerecht zu werden, wären allerdings drei Ausrufezeichen hintereinander durchaus angebracht.
„Etz lieng die ganzn Scherbn am Buudn drunt. Ach Mensch, etz konni a nu middn in der Nachd aufsteh und staubsaung. Nedd neisteign!“
Die Lautstärke stieg, dem Gefahrenpotential angemessen, bis zur messbaren Obergrenze, vielleicht sogar ein bisschen darüber hinaus an. Erst als der völlig verdatterte Ehemann zwei Schritte nach hinten und außerhalb Giselas Reichweite gemacht hatte, pendelte sich der Tonfall wieder etwas ein.
„Wi schbäd issn eigndlich scho? Woss? Dreivärdl Vierer3 erschd? No, dou binni gschbannd, wäi lang du des neie Hobby nu aushäldsd.“
Nun, da endlich das Licht an war, hatte Simon keine Mühe mehr, die gesuchten Ausrüstungsgegenstände zu finden und in seiner riesigen Tasche zu verstauen. Das Zelt würde er heute nicht mitnehmen, denn er hatte ohnehin schon erhebliche Bedenken, ob all das, was er bisher eingepackt hatte, in seinen zwar stabilen, aber räumlich doch begrenzten Fahrradanhänger passen würde, ganz zu schweigen von der Mühe, die es machen würde, die schwere Last vorwärts zu bewegen. Um den ungehaltenen Blicken seiner Frau, unter ruhigeren Umständen die beste Metzgermeistersgattin und Fleischereifachverkäuferin von ganz Rödnbach, zu entkommen, packte er alles zusammen und schleppte es über die Terrasse zu dem nagelneuen Fahrrad, das er anlässlich seines letzten Geburtstags bekommen hatte, inklusive eines praktischen kleinen Anhängers. Schon unter der Türe, rief er seiner Gisela noch einmal kurz zu:
„Ich backs dann amal, Gisela, bis heid um Middooch rum dann!“
Gisela hatte so ihre Zweifel, ob das alles gut gehen würde, behielt ihre Bedenken aber für sich. Stattdessen gab sie ihm einen letzten guten Rat mit auf den Weg.
„Also, bass auf auf dich und fall nedd widder ins Wasser, du sollsd angeln, hodd der Dokder gsachd, nedd schwimmer. Obwohl dess a nix schodn däd!“
Den letzten Satz, den sie deutlich leiser und mehr vor sich selbst hingebrummelt hatte, den hatte Simon schon gar nicht mehr mitbekommen, denn der stapfte zu diesem Zeitpunkt bereits mit, ob des unangenehmen Nieselregens, eingezogenem Nacken auf den Schuppen zu.
Gisela hatte die Tür noch nicht wieder richtig geschlossen, da kam bereits Simons Freund Peter um die Ecke gebogen. Peter Kleinlein war zwar selbst nicht zu den Petrijüngern übergelaufen, leistete Simon aber tapfer Gesellschaft, denn eine derart radikale Neuorientierung, wie sie Simon vorhatte, verdient den Respekt und jedwede Unterstützung seiner Kameraden. Seine größten sportlichen Erfolge hatte Simon bisher freilich nur beim Bezwingen riesiger Fleischberge gefeiert, auf einen echten Gipfel hatte er es in der Vergangenheit noch nicht annähernd geschafft, wenn man einmal von einer Seilbahnfahrt auf den Ochsenkopf absieht. Und nun war er, wie Peter, unter die Radler gegangen, wenn auch widerwillig und weil er die eindringlichen Warnungen seines Arztes endlich einmal ernst genommen hatte. Zugegeben, seine Gisela hatte sie ernst genommen und er notgedrungen zugestimmt. Einmal Fisch pro Woche wäre gesünder als jeden Tag Fleisch hatte sein langjähriger Hausarzt, der Herr Dr. Eichberger gemeint. Zuerst wollte Simon das Ganze auf die leichte Schulter nehmen, den dringenden Rat absichtlich falsch verstehen, seinen bisherigen wöchentlichen Fleischkonsum einfach auf sechs Tage komprimieren und einen zusätzlichen Fischtag einlegen. Aber da hatte er die Rechnung ohne den Wirt, in diesem Fall die Gisela, gemacht. Sie wollte ihren Mann noch länger behalten und so hatte sie beschlossen, dass er zu seinem diesjährigen Geburtstag von allen seinen Freunden Ausrüstungsgegenstände für die neuen Hobbys, Radeln und Angeln, bekam. Ein Tourenrad mit 21 Gängen, dazu einen Gepäckanhänger, in dem er die umfangreiche Angelausrüstung, inklusive der für die Ausflüge benötigten Vesper samt Getränken unterbringen konnte.
„Servus Simon! Bisd scho ferdich?“
„Nedd wergli4. Ich hobb zwar alles zsamm gsuchd, abber etz muss is nu in mein Anhänger neibringer.“
Das konnte in der Tat schwierig werden. Vor den beiden erhob sich ein unübersehbarer Hügel, bestehend aus mehreren Angelruten, einem Fischbehälter, einem riesigen Kescher, mit dem man zur Not auch ein Seeungeheuer von dem Ausmaßen Nessis an Land ziehen konnte, jeder Menge Kleinteile, deren Zweck Peter nicht so ganz klar war, Klamotten zum Wechseln, einer Anglerhose von solch überdimensionalen Abmessungen, dass Simon damit getrost trockenen Fußes das rote Meer durchschreiten könnte, mehrere Messer, Taschenlampe, eine Vesperbox, die anscheinend Verpflegung für einen Zweitagemarsch enthielt, sowie ein halber Kasten Veldensteiner.
Peter war einigermaßen beeindruckt und gleichzeitig sicher, dass diese Mengen keinesfalls in dem kleinen zweirädrigen Fahrradanhänger untergebracht, geschweige denn von einer einzelnen Person gezogen werden konnten. Den fragenden Blick Simons konterte Peter noch bevor sein Freund die dazugehörige Bitte aussprechen konnte.
„Doud mer Leid, Simon, abber ich hobb ka Anhängerkubblung an mein Rad, des mousd scho alles selber zäing.“
Aber er hatte neben einer großen Menge Mitgefühl auch genug Verstand, um Simon wenigstens mit praktischem Rat zur Seite zu stehen.
„Maansd nedd, dassd aweng überdreibsd, Simon? Mir wolln doch Middooch scho widder derhamm sei. Zu woss braung mer denn dou zehn Flaschn Bier und a ganz Kilo Schinkn? Ausserdem hommer fasd fuchzehn Kilomeder zum fahrn bis zu dein Anglblatz und zwar fasd durchgehend auf an holbrichn Waldweech. Dess iss doch alles vill zu schwer. Ich däd sagn, mir nehmer bloß des Wichdigsde mit und den Resd sordier mer aus.“
Und scherzhaft fügte er hinzu:
„Und du mousd ja a bedenkn, dass mer hammwärds dee ganzn Fisch dransbordiern müssn, dee du wahrscheinli fängsd.“
Das überzeugte auch Simon und so wurden nach und nach alle überflüssigen Gegenstände ausgesondert und die notwendigen in den Anhänger geladen. Endlich waren die zwei Freunde so weit, dass es losgehen konnte. Peter setzte seinen Helm auf, während Simon, dem dies eine übertriebene Maßnahme zu sein schien, sich einen tarnfarbenen Outdoorhut überstülpte, ein weiteres Geschenk zu seinem vergangen Geburtstag.