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Ausdifferenzierung und Ausweitung der Printmedien
ОглавлениеDas 19. Jahrhundert ist durch ein enormes Anschwellen der Lesestoffproduktion charakterisiert. Dazu tragen rein mengenmäßig Zeitschriften jeglicher Art bei. So erschienen allein im Jahrzehnt zwischen 1840 und 1850 rund 1.300 neue Zeitschriften. War im 18. Jahrhundert das neue Medium Zeitschrift mit der zentralen Rolle der Moralischen Wochenschriften „Schlüsselmedium der bürgerlichen Gesellschaft“ (Faulstich 2002, 225), so wurde die Zeitschrift erst durch ihre zunehmende Unterhaltungsfunktion im 19. Jahrhundert zum Massenmedium (Faulstich 2002: 225–251). Dazu trug vor allem ihre Weiterentwicklung zu Familienzeitschriften wie die Gartenlaube bei, die – 1853 gegründet – im Jahr 1875 eine Auflage von 382.000 Exemplaren erreichte. Wie wir noch sehen werden, lassen sich charakteristische Merkmale der Zeitschrift wie Themenzentrierung, Periodizität, Interessenspezifizierung und auch Visualisierung (Faulstich 2002: 225f.) auf das im Entstehen begriffene Taschenbuch übertragen.
Fassen wir Printmedien im engeren Sinn als Herstellung und Verbreitung von herkömmlichen Büchern auf, so ist die Entwicklung weniger spektakulär. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen 4.081 Titel (1805) auf den Markt. Die durch die napoleonischen Kriege ausgelöste Depression erzwang einen Rückgang auf 2.233 im Jahr 1813. Danach steigerte sich die Produktion auf 14.039 Titel im Rekordjahr 1843 – ein Stand, der erst im Kaiserreich wieder erreicht wurde. Diesem vormärzlichen Hoch folgte ein Niedergang bis auf den Tiefstand von 8.346 Titeln im Jahr 1851. Vor allem nach der Reichsgründung (10.669 Titel im Jahr 1871) stieg die Titelproduktion steil an. 1886 lag sie bei 16.253 Titeln – eine Steigerungsrate von über 50 Prozent in eineinhalb Jahrzehnten. Der Titelboom setzte sich ungebremst fort; im Jahr 1900 wurden 24.729 Titel verlegt, was wiederum eine Erhöhung des Titelausstoßes um rund die Hälfte bedeutete. 1913 wurde mit 35.078 Titeln der Höchststand vor dem Ersten Weltkrieg erreicht. Die „schöne Literatur“ (vor allem Klassiker, Romane und Erzählungen) wuchs noch wesentlich stärker, denn von 1871 bis 1890 stieg der Zahl der Neuerscheinungen um fast 90 Prozent (Zahlen nach Bucher u.a. 1981: 167 und Kastner 2003: 301 und 315; sehr detailliert Rarisch 1976).
Diese Zahlen zur Titelproduktion von Büchern sind nur eingeschränkt aussagekräftig. Zum einen wird hier nur die Zahl der publizierten Titel erfasst, ohne dass wir in der Regel Kenntnis von den jeweiligen Druckauflagen haben. Zum anderen ist die wegen der Zensur illegal verbreitete Druckproduktion nicht abzuschätzen. Und schließlich bleiben die populären Lesestoffe, die „Lesestoffe der Kleinen Leute“ (Schenda 1976; detailliert Schenda 1970: 271–324) gänzlich unberücksichtigt. Doch gerade sie sind es, die massenhaft verbreitet waren. Es existiert – abgesehen von kleinen Segmenten – keine Produktionsstatistik dessen, was über den Kolportagebuchhandel vertrieben wurde.
Abb. 1:
Titelproduktion im Deutschen Bund und im Deutschen Reich 1801–1914.
Die Ausdifferenzierung und Ausweitung der Printmedien veränderte auch die Rolle des Literaturproduzenten (zusammenfassend Faulstich 2004: 196f.). Hatte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Berufsbild des freien Schriftstellers herausgebildet, der sein Auskommen auf dem literarischen Markt suchen musste und nicht mehr besoldeter Hofpoet war (siehe Haferkorn 1963 und Haferkorn 1974), so verschärfte sich die Markabhängigkeit des Schriftstellers im 19. Jahrhundert deutlich. Ein Zeitgenosse beschrieb die Situation eines solchen Lohnschreibers plastisch: „Heute einen kritischen Artikel, morgen eine Correspondenz für ein Journal verfassen, zwischendurch an einem Roman arbeiten oder seine für Alles zugeschnittene Feder an der Uebersetzung eines ausländischen Buches abnutzen und bald an dieses, bald an jenes Journal wie an einen letzten Rettungsanker sich anklammern.“ (zit. nach Wittmann 1982b: 157) Zeitgenössisch wurde kritisch von der „Vielschreiberey“ gesprochen. Dazu kam die Konkurrenzsituation unter den Autoren. Ihre Zahl wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit 7.000 angegeben. Knapp hundert Jahre später betrieben laut der offiziellen Berufsstatistik des deutschen Reichs 19.380 Personen die Schriftstellerei im Hauptberuf. Für die allermeisten bedeutete das „Betreiben der Schriftstellerei als Gewerbe, Erwerbszwang bis zur Käuflichkeit oder zumindest Anpassung an den herrschenden Geschmack“ (Wittmann 1982b: 159).
Rudolf Schenda, der Pionier der Erforschung der populären Lesestoffe, hat regionale und lokale Zahlen für Frankreich hochgerechnet und kommt zu dem Schluss, „dass eine Jahresproduktion in der Größenordnung von 100 Millionen populären Druckwerken – Büchlein, Heftchen und Einzelblättern – pro Jahr zumindest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts anzusetzen“ sei. Diese Berechnung umfasse „weder die Menge der nicht für die Kolportage bestimmten, gebundenen Bücher, noch die Masse der Zeitschriften und Zeitungen“ (Schenda 1970: 186). Nach zeitgenössischen Angaben setzte 1899 allein der Berliner Kolportageverlag A. WeichertWeichert circa 25 Millionen Romanhefte ab (Jäger 1988: 164).
Wie immer man diese Zahl einschätzt, Tatsache ist, dass diese massenhaft verbreiteten Lesestoffe nach wie vor unzureichend erforscht sind. Das liegt nicht zuletzt auch an der Sammlungspraxis wissenschaftlicher und öffentlicher Bibliotheken, und so ist es „einer kleinen Gruppe von Sammlern […] überhaupt zu verdanken, dass wir heute wenigstens noch in Umrissen die gesamte Bandbreite der Unterhaltungsliteratur aus der Vergangenheit erahnen können“ (Galle 2006b: 10).
Die Privatiniative zur Erforschung der populären Lesestoffe spiegelt sich auch in den Bibliografien wieder, die zu verschiedenen Publikationsformen und Genres vorliegen, so unter anderen Bloch 2002, 2005, 2006, 2015, Kalbitz/Kästner 2013 und Schädel 2006.