Читать книгу Schwarzer Nebel - Günther R. Leopold - Страница 10

6.

Оглавление

Mary Wigsdown war mit sich und der Welt unzufrieden. Tatsächlich war sie es ja nur mit ihrem Chef, Dr. Staneville, aber keinesfalls hätte sie dieses in letzter Zeit immer stärker werdende Gefühl der Enttäuschung sich selbst auch eingestanden. Noch immer blieb Huston Staneville für sie der unantastbare Wissenschaftler, dessen Forschungen und Experimenten sie einen Großteil ihres eigenen Lebens geopfert hatte. Diese Treue, in der ein guter Teil verdrängter Liebe steckte, umgab den Doktor mit einer Art von Schutzwall, der ihn vor ihrem eigenen kritischen Denken erfolgreich abschirmte; sonst hätte sich Mary Wigsdown schon längst sagen müssen, dass einiges mit Staneville nicht stimmen konnte. Die Visiten in seinem eigenen Sanatorium hatten längst den Charakter von unregelmäßigen Besuchen angenommen. Wenn Mary Wigsdown die Klinik nicht mit Patienten ihrer eigenen Privatordination versorgt hätte, wäre das Missverhältnis zwischen Aufwand und tatsächlich erreichtem Erfolg des Sanatoriums wahrscheinlich noch krasser zutage getreten. Nicht unwesentlich zu ihrer Verstimmung trugen – das wenigstens gestand sie sich offen ein – die seltsamen Vorgänge im Ostflügel der Klinik bei: Nervenkranke, die zumeist des Nachts aufgenommen wurden; auch waren die strengen Absperrmaßnahmen, sogar ihr gegenüber, nicht dazu angetan, der Assistenzärztin Vertrauen einzuflößen.

Das war jedoch nicht immer so gewesen. Mary Wigsdown schrieb es dem Einfluss ihres Kollegen, Dr. Francis, zu, den sie nur einige Male kurz zu Gesicht bekommen hatte und der offiziell dem Ostflügel vorstand. Seltsam, dass er eine Paranoia von einer Schizophrenie nicht unterscheiden konnte. Obwohl Dr. Staneville dafür gesorgt hatte, dass sein neuer Günstling mit seiner alten Mitarbeiterin nur flüchtig in Kontakt kam, hatte Mary Wigsdown diesen unbegreiflichen Fall von Unkenntnis anlässlich eines kurzen Gesprächs feststellen können. Als sie es Staneville gegenüber erwähnt hatte, war er mit einem lahmen Scherzwort darüber hinweggegangen. Seitdem hatte Mary Wigsdown ihren eigenartigen Kollegen womöglich noch weniger zu Gesicht bekommen.

Mit einem Gefühl der Erleichterung verließ Mary Wigsdown auch heute wieder die Klinik. Der Betrieb in dem vornehmen, betont sauber gehaltenen Sanatorium deprimierte sie in letzter Zeit. Sie war geradezu froh, als sie die kleinen, im Vergleich zur Klinik armseligen Räume ihrer Privatordination betrat. Hier wurde sie wieder zu jener Mary Wigsdown, die sich vor mehr als zwei Jahrzehnten Dr. Huston Staneville angeschlossen hatte, um in die dunkle Welt der bedauernswerten Kranken, die an Alzheimer litten, etwas Licht zu bringen. Wie lange dies schon zurücklag! Und was war aus ihren gemeinsamen Illusionen geworden …

Mary Wigsdown schloss heute ihre Sprechstunde etwas früher als gewöhnlich, da noch ein auswärtiger Fall zu behandeln war: Ein gewisser John Smith, Mary Wigsdown suchte nach der Karte, wo sie die Adresse seines Hotels aufgeschrieben hatte, wollte unbedingt von ihr besucht werden. »Wie man nur John Smith heißen kann!«, dachte die Ärztin, während sie die Karte mit der Adresse endlich in ihrer Handtasche entdeckte. John Smith, das bedeutete etwas unsagbar Namenloses, obwohl es sich doch gerade um einen Allerweltsnamen handelte. Nach dem Hotel zu schließen, musste es sich um einen wohlhabenden Herrn handeln. »Seltsam, wie kommt er gerade auf mich? Na, man wird ja sehen!«

Ihr erster Eindruck von John Smith war, dass sie ihn schon einmal gesehen haben musste. Aber sie hätte nicht sagen können, wo sie dieses Gesicht einordnen hätte sollen. Zu viele Gesichter waren im Laufe ihrer ärztlichen Praxis durch ihr Gedächtnis gewandert. Vielleicht, wenn er die dicke Hornbrille abgenommen hätte, auch täuschte der Bart, der seinem Träger etwas Fremdartiges verlieh. Aber je schärfer sie John Smith fixierte – er saß gerade an einem schmalen Sekretär und beendete ein Schreiben –, desto mehr glaubte sie, einer flüchtigen Ähnlichkeit zum Opfer gefallen zu sein.

Mit einer Handbewegung hatte er sie zum Platznehmen aufgefordert. »Sie müssen entschuldigen«, seine Stimme stürzte sie in neue Zweifel, »aber Schecks haben die unangenehme Eigenschaft, ohne Unterschrift wertlos zu sein.« Während sie ihm verstehend zunickte, überlegte sie fieberhaft, wo sie diese Stimme schon gehört hatte. Jetzt wusste sie genau, dieser John Smith war für sie durchaus nicht so namenlos, wie man aufgrund seines Namens hätte annehmen können. »Wahrscheinlich werden Sie sich gefragt haben, warum ich mich gerade an Sie wende? Ich habe nämlich vor vielen Jahren, manchmal scheint es mir wie eine kleine Ewigkeit, mein Gedächtnis verloren. Als langjährige Assistentin Dr. Stanevilles darf ich doch annehmen, dass dies auch Ihr Spezialgebiet ist?«

Die Ärztin nickte nur, obwohl ihr die Frage auf der Zunge lag, warum er sich nicht gleich an den Doktor gewandt hatte. Allerdings hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sich Patienten oft lieber an die Mitarbeiter von Kapazitäten wandten, in dem Bestreben, bei niedrigerem Preis eine gleich gründliche Behandlung zu erfahren; vielleicht gehörte auch John Smith zu ihnen?

»Ich habe nicht immer John Smith geheißen.« Komisch, diese lapidare Feststellung ihres Gegenübers beruhigte Mary Wigsdown, denn der Name hatte so wenig zu ihm gepasst, was sie geradezu verstört hatte.

»Darf ich mich hier gleich mit einer Frage dazwischenschalten?« Sie wartete sein Einverständnis erst gar nicht ab. »Man verliert sein Gedächtnis nicht so einfach. Meist ist ein Schock daran schuld, etwa im Krieg – oder auch eine lang dauernde Krankheit! Wo lag bei Ihnen die unmittelbare Ursache?«

Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen. »Wenn ich mich daran erinnern könnte, hätte ich ja nicht mein Gedächtnis verloren«, folgerte er nicht unlogisch.

Einen Augenblick ärgerte es sie, sich eine solche Blöße gegeben zu haben, was durch seinen sarkastischen Unterton noch verstärkt wurde. »Es könnte doch sein, dass Sie gewisse Erinnerungen, wenn auch scheinbar unzusammenhängende, bewahrt haben?«

»Ja, das könnte sein!« Der harte Ton in seinen Worten gefiel ihr noch weniger. Er hatte sich erhoben und begann eine ziellose Wanderung von einer Wand zur anderen. Wie ein Tier, das die Ausmaße seines Käfigs abschreitet, kam er ihr vor. Mary Wigsdown fühlte ganz deutlich, wie sich eine eigenartige Spannung im Raum breitmachte, die von jenem Mann, John Smith, ausging und sie mehr und mehr gefangen nahm. »Er spielt mit dir!«Auf einmal war sie zu dieser Überzeugung gelangt und rein instinktiv fühlte sie damit das Richtige. Denn was John Smith jetzt sprach, war nicht die Wahrheit. Es war eine Falle, die ihr James Haugerty stellte: »Sie haben recht. Ab und zu ängstigen mich gewisse Erinnerungsfetzen, von denen ich nicht recht weiß, ob sie einer früheren Vergangenheit angehören oder Zeichen eines neuen Ichs, einer Art von Bewusstseinsspaltung, sind. Das klingt alles recht laienhaft; vielleicht habe ich auch nur zu viele amerikanische Filme gesehen und glaube, durch eine Art Psychoanalyse offenbar verschlossene Seelentüren aufschließen zu können. Doch vielleicht können gerade Sie mir dabei helfen!« Wieder fühlte Mary Wigsdown die unausgesprochene Drohung, die in seinen Worten steckte. »Manchmal spüre ich eine Mattigkeit in mir, wie sie Fieberkranke nach tagelangen Delirien haben mögen. Ja, bestimmt, ich muss früher einmal an Malaria oder Sumpffieber erkrankt gewesen sein. Aber glauben Sie ernsthaft, dass man davon sein Gedächtnis verlieren kann?« Er warf die Frage eher wie eine Feststellung hin, ohne eine Antwort zu erwarten.

»Eine derartige Ursache wäre nicht von der Hand zu weisen!« Mary Wigsdown tastete sich mit diesem Einwand vorsichtig vor, da sie noch immer nicht wusste, worauf er hinauswollte. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, die sie beinahe erwartet hatte, und fuhr in anklagendem Ton fort: »Nein, ich glaube bestimmt nicht, dass mein Fieber damit etwas zu tun hatte! Oder vielleicht doch? Ein Fieberkranker plaudert nämlich in seinen Delirien manches aus, was er besser für sich behalten sollte – noch dazu, wenn es sich um Diamanten handelt!«

Das Wort »Diamanten« bedeutete für Mary Wigsdown einen fast körperlichen Stich. Zu viel hatte es in ihrem oder besser gesagt in Huston Stanevilles Leben bedeutet. Mary Wigsdown hatte es immer Stanevilles Teilhaberschaft an der Britisch-Portugiesischen-Diamanten-Company zugeschrieben, dass der Doktor seine eigentliche Lebensaufgabe vernachlässigt hatte. Ihre Gedanken wurden von der immer schärfer werdenden Stimme John Smiths unterbrochen: »Aber ich hatte Glück! Nicht jeder Mann in meiner Lage hat solches ›Glück‹ gehabt! Ich kam in die Hände eines Mannes und einer Frau, die beide ihren Doktor der Medizin in England gemacht hatten! Und das will einiges bedeuten – in einem der gefährlichsten Länder von Afrika!« Er war drohend vor ihr stehen geblieben und hatte seine Hornbrille abgenommen. Seine Blicke schienen die vor ihm sitzende Frau geradezu durchbohren zu wollen. »Ich kam in Ihre Hände, Mary Wigsdown!«

Ihr Gesicht lag vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch. John Smith alias James Haugerty hatte es im Laufe vieler Jahre durch manche Enttäuschung gelernt, in den Gesichtern seiner Mitmenschen zu lesen. Verständnislosigkeit, ungläubiges Erstaunen, gleich darauf wieder verdrängt von tiefer Besorgnis und einem Ausdruck in ihren Augen, der auf Angst schließen ließ. Das alles las James Haugerty aus ihrem Mienenspiel, ehe sie stockend die ersten Worte hervorbrachte: »Mein Gott …«, keuchte sie, »Sie sind Haugerty! Ich kann es nicht verstehen! Aber Sie müssen es sein! James Richard Haugerty!«

»Wie gut Sie sich noch erinnern können!«, höhnte er. »Natürlich haben Sie unrecht: Ich bin John Smith, der namenlose Passagier, den man eines Tages auf einem Frachter im indischen Ozean entdeckte!«

Sie schien die Bedeutung seiner Worte nicht zu erfassen. Noch immer zeigte ihre Miene einen Ausdruck tiefer Besorgnis, aber Haugerty hatte das Gefühl, als ob sie diese Furcht nicht auf sich selbst beziehen würde.

Mary Wigsdown strich sich mit fahriger Gebärde eine Haarsträhne aus der Stirn. »Wenn Sie aber wirklich James Haugerty sind«, überlegte sie in Gedanken laut, »wer war dann jener Tote, den sie am Tage meiner Rückkehr statt Ihnen begraben haben?«

Schwarzer Nebel

Подняться наверх