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3.

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James R. Haugerty hatte sein Leben entscheidend verändert. Rein äußerlich kam es darin zum Ausdruck, dass er sich einen Bart hatte wachsen lassen und eine dickumrandete Hornbrille trug. Befriedigt stellte er fest, jener John Smith, der ihn aus seinem Passfoto her so nichtssagend anlächelte, war tot!

Gleich nach seiner Ankunft in London hatte er sich zu der führenden Detektivagentur Springley & Barner begeben und sie mit Nachforschungen bezüglich einer jungen Dame beauftragt, die seiner Schätzung nach jetzt zwanzig Jahre alt sein musste. Als James Haugerty vor achtzehn Jahren nach Südafrika gegangen war, hatte er seine Tochter in der Obhut einer alten Tante zurückgelassen. Ann Haugerty musste damals zwei Jahre alt gewesen sein, eine Halbwaise, da ihre Mutter bei Anns Geburt gestorben war. So sehr sich Haugerty aber auch bemühte, er hatte sowohl von seinem Kind als auch von dem Haus, in dem er vor achtzehn Jahren gelebt hatte, keine Vorstellung mehr.

Verschiedene Abschnitte seines Lebens traten in seiner Erinnerung zwar wieder klar zutage, aber sein Gedächtnis wies auch weiterhin große Lücken auf, die nur schwer überbrückbar schienen. Besonders private Dinge lagen noch immer in jenem geheimnisvollen Dunkel, das bisher sein ganzes Denken ausgemacht hatte. Jeder Tag aber brachte ihm neue Erinnerungsfetzen zurück, sodass sich das Bild allmählich abzurunden begann.

Außerdem glaubte Haugerty zu wissen, wie er diesen Gang beschleunigen konnte: Das Gesicht jener Frau, das ihn noch in Österreich so beunruhigt hatte, war der Ausgangspunkt seiner Nachforschungen. Wenn ihm sein wiedergefundenes Gedächtnis keinen Streich spielte, musste es sich um Mary Wigsdown handeln, eine Ärztin, die Haugerty vor vielen Jahren im damaligen Portugiesisch-Ostafrika unter eigenartigen Umständen kennengelernt hatte. Als er mit ihr vor mehr als zwei Monaten in London wieder zusammengetroffen war, kam sie eben aus einem gitterumzäunten Grundstück, dessen schweres Eisentor ein Schild mit der Aufschrift »Sanatorium für Nervenkranke« trug. Haugerty erinnerte sich an diese Einzelheit deshalb so genau, weil sie ihm damals einiges Kopfzerbrechen beschert hatte. Nun, da er das Gesicht einer Ärztin zuordnen konnte, schien dieser Umstand seine Vermutung sogar zu bekräftigen.

Es kostete ihn einige Mühe, das betreffende Grundstück in Kingsbury wieder aufzustöbern. Als Haugerty endlich vor dem Tor stand, hatte er Glück. Ein Mann, der aufgrund seiner Kappe unschwer als Portier des Sanatoriums zu erkennen war, kam eben vom Portal des weiter innen liegenden Gebäudes, um die beiden Torflügel zu öffnen. Kurz darauf bog ein nicht mehr ganz neuer Humber ein, an dessen Steuer Haugerty eine Frau zu sehen glaubte.

Obwohl er die Fahrerin von seinem Standort aus nicht erkennen konnte, bot ihm der Wagen doch Anlass, mit dem Pförtner ein unverfängliches Gespräch zu beginnen: »War das nicht eben Mrs. Wigsdown?«, versuchte Haugerty sein Glück und hatte damit überraschenden Erfolg.

»Gewiss, das war sie!«, kam die freundliche Bestätigung. Der Portier schien einem kleinen Schwatz sichtlich nicht abgeneigt. »Kennen Sie unsere Frau Doktor? Als Patient kann ich mich an Sie nicht erinnern!«

»Tatsächlich, die gute alte Mary!« Haugerty schien alten Erinnerungen nachzuhängen. »Ich kenne sie noch aus der Zeit, als sie in Afrika war!«

»Da werden Sie ja auch mit unserem Chef zusammengekommen sein, Dr. Staneville. Dr. Huston Staneville. Beide haben gemeinsam einige Zeit in Mosambik verbracht.«

Einen Augenblick lang musste sich Haugerty an den starken Gitterstäben anhalten. Staneville! Das war es! Dr. Huston Staneville! Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimme des Pförtners, die einen besorgten Ton angenommen hatte: »Sie sehen so blass aus! Ist Ihnen nicht gut?«

»Danke, es geht schon!« Haugerty lehnte sich weiter gegen das Gitter. Die Kühle des Metalls half ihm, den kleinen Schwächeanfall zu überwinden. »Dr. Staneville auch hier! Nein, so ein Zufall!«

»Wieso?« Der Pförtner fand alles ganz natürlich. »War Frau Dr. Wigsdown nicht schon in Afrika Stanevilles Assistentin?«

»Gewiss! Ich bezog den Zufall auch nur auf das heutige Zusammentreffen! Die afrikanischen Jahre, wissen Sie, das war eine nette Zeit. Die Welt ist eben klein!« Haugerty schwieg wie in Gedanken versunken. Dann fragte er scheinbar belanglos: »Hatte der Doktor nicht irgendetwas mit Diamanten zu tun?«

Die Miene seines Gegenübers zeigte deutliches Erstaunen. »Das wissen Sie auch? Dr. Staneville pflegt es nämlich nicht gerade an die große Glocke zu hängen. Er ist Mitaktionär der Britisch-Portugiesischen-Diamanten-Company. Aber wie gesagt, am besten man spricht darüber nicht. Wissenschaft und Geschäft vertragen sich nicht. Wenigstens pflegt der Chef das immer zu sagen. Wundert mich ohnedies, dass Sie darüber Bescheid wissen!«

»Na hören Sie«, in Haugertys Stimme schwang ein erregter Unterton, »wo ich an der Gründung der – hm, wie war es doch gleich, der Britisch-Portugiesischen-Diamanten-Company nicht ganz unbeteiligt war. Hat eigentlich auch Mary Wigsdown ihren Anteil erhalten?«

Der letzte Satz und vor allem der Ton, in dem er vorgebracht war, ließen es dem Pförtner ratsam erscheinen, das Gespräch zu beenden. »Nicht, dass ich wüsste«, meinte er abweisend. »Übrigens, wenn Sie etwas Näheres erfahren wollen, Dr. Wigsdown unterhält auch eine Privatordination. Die Adresse finden Sie im Telefonbuch.« Mit einem kurzen Nicken schloss der Portier das schmiedeeiserne Tor und Haugerty tippte mit zwei Fingern an die Krempe seines nicht vorhandenen Hutes.

Die Britisch-Portugiesische-Diamanten-Company hatte ihren Sitz in der Northumberland Avenue, einer der Hauptverkehrsstraßen der City. James Haugerty verbrachte einen halben Nachmittag damit, durch die mit Marmor verkleideten Gänge zu streifen und höflichen Schalterbeamten mehr oder minder nutzlose Fragen zu stellen. Als einer der Angestellten jedoch allmählich ungeduldig zu werden begann, sagte Haugerty etwas, das sein Vis-à-vis zu der Überzeugung brachte, es mit einem Verrückten zu tun zu haben: »Junger Mann, Sie müssen jeden Kunden so behandeln, als wäre er in Wirklichkeit Ihr nur unerkannt bleiben wollender Chef! Und vielleicht bin ich das auch; wer kann es wissen?«

Der Besuch bei der prunkvollen City-Firma wäre reine Zeitvergeudung gewesen, wenn Haugerty nicht anschließend Einblick in das öffentliche Handelsregister genommen hätte. Und hier fand er sie wieder, die Gestalten aus seinen Fieberträumen, die Geschöpfe aus qualmendem Rauch- und Whiskydunst, nur dass sie die Form nüchterner Buchstaben angenommen hatten und als wohlbestallte Eigentümer der Gesellschaft aufschienen: Dr. Huston Staneville, Alvaro Perez, Selim Krischna, Jules Lacroix und Marguerita Rosa. »Sie haben alle ihren Anteil erhalten«, dachte Haugerty leidenschaftslos, als ob ihn die Sache weiter nichts anginge. »Nur Mary Wigsdown haben sie vergessen.« Mary Wigsdown, deren kühle Hand wie ein unendlich wohltuender, erfrischender Umschlag sein konnte. »Arme Mary«, überlegte er weiter, »sie hat sich nie durchsetzen können!«

Plötzlich überflutete ihn eine Welle des Hasses, so jäh und stark, dass sich seine Fingernägel ins eigene Fleisch bohrten, der körperliche Schmerz ihm dabei aber gar nicht bewusst wurde. »Armer James Haugerty!«, schrie es in ihm. »Sie haben dir dein Leben gestohlen! Sie haben dir dein Kind genommen! Sie haben dich jahrelang zu einem daseinslosen John Smith gemacht!«

Als James Haugerty am Abend in sein Hotel kam, wartete Frederick Barner von der Agentur Springley & Barner bereits eine geschlagene Stunde auf ihn. Das Detektivinstitut hatte gründliche Arbeit geleistet: Man hatte nicht nur Haugertys frühere Adresse ausgeforscht, auch das Sterbedatum seiner alten Tante war bis auf den Tag genau festgestellt worden, ebenso die exakte Lage ihrer seinerzeitigen Todesstätte. Auch die Tatsache, dass ihr Grab mangels Bezahlung später wieder aufgelassen worden war, stand in dem ausführlichen Bericht zu lesen. Eine beeindruckende Leistung, wenn man bedenkt, dass die alte Mrs. Haugerty bereits vor sechzehn Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Nur – was aus dem Verbleib der kleinen Ann geworden war, darüber wusste der alte Barner nichts zu berichten.

»Aber das Kind kann doch nicht einfach verschwunden sein!« Barner hatte es sich in seiner langjährigen Praxis abgewöhnt, die Erregung seiner Klienten allzu tragisch zu nehmen. »Man erzählt sich in der Nachbarschaft, eine unbekannte Dame hätte sich kurz nach Mrs. Haugertys Ableben des Kindes angenommen und sie später adoptiert.« Barners Miene war anzumerken, dass er dieser Aussage nicht viel Wert beizumessen schien. »Da es unser Prinzip ist, nur erwiesene Tatsachen in unseren Berichten anzuführen, haben wir diesem – hm – Gerücht in unserem offiziellen Report keinen Raum gegeben!«

»Ich wünsche aber, dass auch der kleinsten Spur nachgegangen wird!« Haugerty hatte sich zu achtungsgebietender Größe erhoben. »Koste es, was es wolle!« Besonders der letzte Satz schien Frederick Barner zu überzeugen.

James Haugerty verbrachte eine schlaflose Nacht. Der Gedanke an seine Tochter hielt ihn wach. Aber so sehr ihn auch ihr ungewisses Schicksal ängstigte, immer wieder drängten sich sechs Namen dazwischen, deren Träger in Haugertys Denken immer mehr Raum einnahmen. Schon zeitig am Morgen verließ er sein Hotel und begab sich in ein Spezialgeschäft der City, das für seine kunstvolle Glasschleiferei bekannt war. Es musste ein seltsames Anliegen sein, denn die Unterredung mit dem Inhaber dauerte zwei volle Stunden, wobei Haugerty aus dem Gedächtnis verschiedene Zeichnungen entwarf. Damit nicht genug, ließ sich Haugerty in den nächsten Tagen Probestücke eines seltsam geformten Glasdiamanten anfertigen, von dem er schließlich sechs Stück in Auftrag gab.

Schwarzer Nebel

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