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4.

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Nach seinen Realitäten und Wohnungen zu schließen, hätte man Dr. Huston Staneville zu den oberen Zehntausend zählen müssen. Außer den prunkvollen Direktionsräumen in der Britisch-Portugiesischen-Diamanten-Company und der in einem großen Park gelegenen Klinik für Nervenkranke besaß er noch eine eigene Ordination im Zentrum der Stadt, eine Villa in Schottland und ein kleines Absteigequartier in Whitechapel, das man einem so berühmten Mediziner nicht zugetraut hätte. Allerdings wussten um diese Räumlichkeiten nur wenige, »und das waren schon zu viele«, wie der vielseitige Staneville des Öfteren zu bemerken pflegte.

Seine hochoffizielle Ordination lag in der Regent Street, allein schon deshalb, weil einige seiner Kollegen dort ebenfalls ihr Domizil aufgeschlagen hatten und Dr. Staneville auf seinen Ruf als medizinische Kapazität einigermaßen bedacht war. Sein Steuerberater fragte sich zwar, inwieweit die hohen Spesen dieser Ordination mit den wenigen Patienten zu vereinbaren waren, aber scheinbar warfen die anderen Unternehmungen des Doktors mehr ab, da Staneville ein großes Haus führte. »Ich bin kein Modearzt. Mich interessieren nur medizinisch bedeutsame Fälle! Für die kleineren Dummheiten unserer heutigen Gesellschaft ist meine Assistentin, Frau Dr. Wigsdown, zuständig.« Das waren die Redensarten, mit denen Dr. Staneville ebenso die leeren Räume seines Sanatoriums zu erklären pflegte. Gehörten die seltsamen Patienten, die ab und zu im Ostflügel der Klinik untergebracht waren, aber wirklich zu den medizinisch bedeutsamen Fällen?

Auch heute hatte Dr. Staneville wieder mehr Zeit in seiner Privatordination zugebracht, als es der dürftig besetzte Terminkalender gerechtfertigt hätte. Der eigentliche Grund seiner Anwesenheit war jedoch ein Ferngespräch, das Staneville dringend für 4 Uhr nachmittags erwartete und ihn später in gehobene Stimmung versetzte. Diese ging sogar so weit, dass er einen gängigen Schlager vor sich hinpfiff, bis er sich bewusst wurde, dass dies schlecht zu einer medizinischen Kapazität für Neurologie passte. Indigniert über sein eigenes Verhalten, stellte der Doktor sein Gepfeife ein. Doch Marguerita Rosa war noch immer eine Frau, die einen Mann in bessere Stimmung versetzen konnte.

Nachdem es für seine längere Anwesenheit keinen triftigen Grund mehr gab, ergriff Staneville Stock und Hut, nicht ohne seiner Ordinationshilfe »Ich muss jetzt zu einer wichtigen Konsultation!« zuzurufen. Das war eine stereotype Phrase des Doktors, die seiner in makelloses Weiß gehüllten Hilfskraft früher ehrfürchtige Bewunderung abgenötigt hatte, bis sie eines Tages den Doktor zwei Stunden später aus einem Kino hatte kommen sehen.

Dr. Staneville hatte im Augenblick nichts Bestimmtes vor. Vor dem Hauseingang blieb er unschlüssig stehen, da es ihm wie manchem Autofahrer ging, der er im Moment nicht hätte sagen können, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Schon wollte er nach rechts abbiegen, als ihm rechtzeitig einfiel, dass dies ja sein gestriger Parkplatz gewesen war. Mit einem ärgerlichen Brummen über seine eigene Vergesslichkeit erinnerte sich Staneville endlich seines Parkplatzes. Er machte abrupt kehrt, fand jedoch seinen Weg durch einen kleinen, schmutzigen Jungen versperrt.

»Hallo, kleiner Mann«, der Doktor gefiel sich zu gewissen Zeiten in ausgesprochen leutseligen Reden, »einer muss wohl zur Seite treten. Aber da ich unzweifelhaft der Jüngere von uns beiden bin, wird mir wohl nichts übrig bleiben, als dem Herrn gebührend auszuweichen!«

Man konnte es der Miene des kleinen Mannes anmerken, dass er den Spaß des Doktors nicht gebührend zu würdigen verstand. Außerdem hatte er einen Auftrag erhalten, an dem er sich festklammerte wie jemand, der fürchtete, sonst seinen Halt zu verlieren. »Sind Sie der Arzt Dr. Staneville?«, fragte er zum nicht geringen Erstaunen des Mediziners und blickte von unten herauf den großen Mann abschätzend an. Als Dr. Staneville verwundert nickte, zog der Junge ein in Seidenpapier gewickeltes Etwas hervor, das er Staneville ungefähr auf die Art überreichte, wie er es neulich in einem Ritterfilm von dem Boten des Königs gesehen hatte.

»Das ist für Sie, Sir!« Er sprach beinahe gewählt. Aber ehe der Doktor ihn über die näheren Umstände seines Auftrages befragen konnte, hatte ihm der kleine Bote sein Paket bereits in die Hand gedrückt und war um die nächste Ecke verschwunden.

Der Doktor sagte noch »Hallo« und »Seltsam«, dann aber siegte seine Neugierde; er schlug die Papierumhüllung zurück. Verständnislos starrte er auf einen bunt bedruckten Margarinebecher. Ein finsterer Schatten kroch über Stanevilles Antlitz, als er das Wort »Senna« zu erfassen begann. Seine zitternden Hände lösten hastig den Deckel des Bechers: Auf einem schwarzen Wattebausch lag ein eigenartig geformter Glasdiamant, der sich von seinem Untergrund gut abhob.

Mit einem Fluch blickte sich Staneville furchtsam um. Doch die Straße bot ihr gewohntes Bild. Passanten drängten sich in einem endlosen Fließband auf dem Gehsteig. Am Straßenrand parkten dicht geschachtelt Autokolonnen. In einem der Wagen saß ein Mann mit Hornbrille und dunklem Bart. Er schien intensiv mit seiner Zeitung beschäftigt, doch galt in Wahrheit seine Aufmerksamkeit dem Rückspiegel, der so gedreht war, dass er Staneville bequem beobachten konnte. Der Doktor verbarg den Becher mit seinem sonderbaren Inhalt im Inneren seines Rockes und stürzte hastig ins Haus zurück. Seine »wichtige Konsultation« schien er im Augenblick vergessen zu haben.

Zwei Stunden später schrillte die Türglocke bei Jules Lacroix, einem Mann, der gleich Staneville zu den Hauptaktionären der Britisch-Portugiesischen-Diamanten-Company gehörte. Das Dienstmädchen blickte erstaunt auf den bärtigen Postboten, der ihr durch seine Hornbrille freundlich zublinzelte und den sie bestimmt noch niemals gesehen hatte.

»Eilpost«, sagte der Uniformierte, »Mr. Lacroix muss persönlich unterschreiben! Es handelt sich um eine Einschreibesendung!«

»Wenn Mr. Lacroix jede Post persönlich in Empfang nehmen müsste, hätte er viel zu tun!« Das Mädchen lachte schnippisch und wollte dem Postbeamten die Sendung aus der Hand nehmen.

Der Mann wehrte jedoch entschieden ab. »Nein, das geht nicht! Auf dem Amt ist uns ohnehin ein kleines Malheur passiert. Die Verschnürung hat sich nämlich gelöst, was bei der runden Form weiter nicht verwunderlich ist. Und sehen Sie nur selbst«, er hob den Deckel des Bechers ein wenig an, sodass das Mädchen einen Blick auf seinen funkelnden Inhalt werfen konnte, »schickt man so etwas Wertvolles mit einer gewöhnlichen Postsendung?«

Das Mädchen fand es nun doch angezeigt, ihren Herrn zu rufen. Jules Lacroix erschien in ausgesprochen schlechter Laune, die sich noch verstärkte, als er sich die wortreiche Entschuldigung des Postbeamten anhören musste. »Das wäre bei der französischen Post nicht vorgekommen!« Lacroix, der es als gebürtiger Pariser nie ganz verwinden konnte, dass er sein Leben zum Großteil im nebeligen London verbringen musste, holte tief Luft, um sich an der britischen Postbehörde abzureagieren. »Es ist wirklich …« Das Dienstmädchen sollte nie erfahren, was wirklich war. Jules Lacroix schien das Wort im Halse stecken zu bleiben, als ihm der Postbote mit verlegenem Lächeln den aus der aufgegangenen Umhüllung gelösten Becher entgegenhielt. Zum Unterschied von Staneville war ihm sofort das Wort »Senna« aufgefallen und hatte in ihm eine bestimmte Vorstellung wachgerufen. Es hätte gar nicht mehr des Glasdiamanten bedurft, um Lacroix wissen zu lassen, was die sonderbare Postsendung zu bedeuten hatte.

»Was erlauben Sie sich!«, kreischte er den übertrieben hilfsbereiten Postbeamten an und entriss ihm förmlich das Päckchen. Mit demütiger Miene schob ihm der Uniformierte hierauf die Empfangsbestätigung hin. Jules Lacroix unterschrieb mit genau den gleichen zitternden Händen, mit denen Dr. Staneville vor Stunden einen ähnlichen Becher in Händen gehalten hatte.

Lacroix war der Letzte gewesen. James R. Haugerty hatte keinen leichten Tag gehabt. Als er sich am Abend erschöpft zu Bett begab, hätte er nur zu gerne gewusst, warum Mary Wigsdown als einzige keine Spur von Erschrecken, sondern nur Erstaunen gezeigt hatte.

Schwarzer Nebel

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