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Geschichte 4
ОглавлениеDie kleine Schwester der sieben ostfriesischen Inseln: Baltrum
Baltrum, die kleinste der sieben ostfriesischen Inseln, ist mit der Fähre von Neßmersiel zu erreichen. Diese Donröschenperle der Nordsee ist autofrei, liegt 4,5 Kilometer vom Festland entfernt, hat zirka 511 Einwohner und ist 5 Kilometer lang und 1,4 Kilometer breit. Ach ja, für die Freunde der Statistiken noch eines, diese liebenswerte Insel hat demnach eine Fläche von 6,5 Quadratkilometern. In Sichtweite des Anlegers auf einer kleinen Anhöhe sieht man schon von Weitem an den verschiedenen flatternden Fahnen an den Masten die Kneipe mit einem Café. Der Inhaber der Kneipe wollte es sich mit keinem Fußballfan als Feriengast verderben und hatte deshalb alle Bundesligavereine sozusagen unter Wind. Sogar die zweite Bundesliga war flaggenmäßig vertreten. „Ich bin der einzige Trainer der Welt, bei denen alle Vereine Wind von vorne bekommen“, sagte der Wirt, ein ehemaliger Kapitän zur See, Engelbert von Ritter. Blaublütig mit Zertifikat, Brief und Siegel. Er betrieb die Kneipe mit dem originellen Namen ‚Ohne Hausnummer‘ zusammen mit seiner Schwester Gundula Hermine Dorfler, geborene von Ritter. Der Herr Dorfler war hier vor langer Zeit einmal Feriengast gewesen, hatte einen kapitalen Inselkoller bekommen und war mit dem ersten Nebel auf See, beziehungsweise mit der ersten Fähre zum Festland verschwunden. Das war ein schwarzer Montag für Gundula Hermine gewesen. Sie hatte etwas gebraucht, um sich über den Verlust dieses Herrn Dorfler hinwegzutrösten und da die Geschwister das Haus auf der Anhöhe in Sichtweite zum Anleger von den Eltern geerbt hatten, betrieb sie das ‚Café XXL‘ mit einer Teestube und der Bruder die Kneipe. Zwischen den Räumlichkeiten gab es einen Durchgang, damit die Gäste bei Sturm und Regen nicht erst auf die Straße mussten. So lautete die Begründung der Inhaber wegen des Durchgangs an das Bauamt in Esens. Von diesem Amt waren sogar zwei Beamte zur Begutachtung gekommen. Sie hätten auf der Insel sowieso einiges zu prüfen, wie sie sagten.
Früher hatte das große Bauernhaus ein schickes Reetdach, was jedoch aufgrund der Stürme und witterungsbedingten Einflüssen dringend erneuert werden musste. Da die Brandkasse die Prämie für Häuser mit Reetdächern kräftig angehoben hatte, entschied man sich für rote Dachziegel. Der Name der Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ hatte aus einer Besonderheit auf Baltrum ergeben. Hier tragen die Straßen keine Namen, sondern die Häuser haben nur Nummern.
Engelbert von Ritter war zwei Meter groß, wog seine 130 Kilogramm und, man höre und staune, trank als Wirt selber absolut keinen Alkohol. Er war dreißig Jahre auf große Fahrt zur See gefahren, hatte die ganze Welt gesehen und zuletzt hatte er als verantwortlicher Kapitän einer Reederei aus Bremen ein großes Containerschiff zwischen Amerika und Europa befehligt. Die Familie stammte von einer Nachbarinsel und die Eltern hatten seinerzeit das schöne Anwesen auf Baltrum gekauft. Die Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ war an 365 Tagen im Jahr geöffnet und selbst Weihnachten und Sylvester konnte man ohne Voranmeldung hier erscheinen. Allerdings gab es zum Essen während des Jahres immer nur Bockwürste mit Senf und Kartoffelsalat, oder wie ein Gast mal bemerkte, Senf mit Bockwürsten und dazu den guten Kartoffelsalat. Zu Weihnachten und zum Jahreswechsel kam als kulinarischer Jahreshöhepunkt eine Ergänzung in Form von leckeren Frikadellen, natürlich mit Senf, Tomatenketchup war hier verpönt. Ansonsten musste sich der Feriengast in einem der wundervollen anderen Restaurants versorgen. Die Scholle war hier auf der Insel Baltrum besonders gut, die Gäste leckten sich die Finger nach dem Essen. Die Einrichtung der Kneipe ‚Ohne Hausnummer‘ war schon einzigartig. Der große, ehemalige Schankraum war umgebaut und eine originale Einrichtung eines Fischtrawlers hier als Wirtschaft hergerichtet und eingepasst worden. Die Arbeiten hatten sehr lange gedauert, da zuerst einmal ein passender Bootsbauer gefunden werden musste. Ein pensionierter Bootsbauer vom Festland mit zwei Bootstischlern für Innenausbauten trauten sich die Arbeiten zu und lieferten einen Beweis für gute Handwerksarbeit ab. Das Holz roch immer noch nach Teer und Fisch und man konnte förmlich den Seewind spüren und sich das Möwenkreischen vorstellen, wenn die Netze eingeholt wurden. Die gesamte Einrichtung der Kneipe war auf Fischerei, mit Modell– und Buddelschiffen, Netzen und echten Seesternen und hölzernen Galionsfiguren abgestellt. Die Kneipe war so richtig kommod. Der Wirt war ein großer Bastler und sammelte vom Strand das angeschwemmte Holz und daraus wurden Inselgegenstände angefertigt. Zum Teil waren die Stühle kunstvoll aus angeschwemmtem Holz von ihm angefertigt worden. Der Gast konnte den Stuhl in der Kneipe, auf dem er saß käuflich erwerben und sofort mitnehmen.
Das angeschlossene Café der Schwester hatte in einem Neubau zehn schicke Fremdenzimmer und bot diese als Hotel Garni an. Zum Essen ging man in eines der guten Speiselokale auf der Insel. Geöffnet wurde die Kneipe täglich um Punkt elf Uhr am Vormittag und der Betrieb ging normalerweise bis Mitternacht, jedoch gab es auf der Insel keine Polizeistunde und so war man in der Nachtzeit flexibel. Der Wirt hatte in dem Kneipenbetrieb einen festen Personalstamm von fünf Mitarbeitern und so konnte er, wie er sagte, außerhalb der Spur arbeiten. Er war aber jeden Tag in seiner Kneipe. Wenn er Urlaub machen wollte, ging er für Stunden an den einsamen Strand und ließ sich die Lungenflügel durchpusten. Zum Festland zog es ihn nicht. Diese Ruhe, das war es, was die Insulaner so liebten. Und alles musste seinen geplanten Gang gehen, denn das Chaos kam von alleine, es klopfte vorher nicht an die Tür.
Vor einiger Zeit, es war gerade der Frühling vorbei und man konnte an der milden, samten Luft den nahenden Sommer erahnen, war ein Gast in das Café gekommen. Der vollständige Name des Cafés war: ‚Café XXL neben der Kneipe Ohne Hausnummer‘. Abgekürzt hieß es auf der Insel schlicht ‚Das Café XXL‘ oder nur ganz kurz ‚XXL‘. Dieser Gast hatte erschöpft und fast panisch gewirkt. Er hatte sich eine Kanne Kaffee bestellt und diesen mit einigen Pillen gegen Übelkeit mit einem großen Grunzer, wie „Ahh“ durch seine Kehle geschüttet. Die Bedienung hatte Gundula Hermine Dorfler angesehen und ihr am Tresen leise zugeflüstert: „Was ist das denn für einer?“ Gundula hatte sorgenvoll zu dem Gast geblickt und zu ihrer Bedienung gemeint: „Hast du die Telefonnummer vom Inselarzt?“ Als die Bedienung Susanne mit dem Kopf geschüttelt hatte, hatte Gundula das Telefonbuch aus der Schublade gesucht, da sie für alle Fälle gewappnet sein wollte. Der Gast hatte sich den kalten Schweiß von der Stirn gewischt, aus dem Fenster gesehen und sich mit der rechten Hand am Tisch fest gehalten, so als würde das Café wie ein Schiff auf See schaukeln. Gundula Hermine hatte abwechselnd auf ihr zu polierendes Weinglas gesehen, denn hier in dem Café wurde auch Wein ausgeschenkt. Weitere alkoholische Getränke bis auf einen Kräuterschnaps gab es im Café nicht. Der Gast, der offensichtlich seine persönliche Sturmfahrt nach Alaska zu verarbeiten hatte, war langsam grün im Gesicht geworden. Die Wirtin war nun mit dem Polieren des Glases fertig, hatte es zufrieden betrachte, es in die Glasvitrine gestellt und war zum Gast gegangen. „Ist ihnen nicht wohl? War die Überfahrt so schrecklich." Der Gast hatte sie kläglich, zum Erbarmen angesehen und seinen wehleidigen Blick gehoben. ,,Ich habe gerade die Höllenfahrt meines Lebens hinter mich gebracht. Ich bin mit der Fähre angekommen.“ Gundula hatte abgewartet, denn da musste ja noch etwas kommen, man konnte ja nur mit der Fähre oder mit dem Flugzeug auf die Insel kommen, denn als Schwimmer und mit einem Koffer in der Hand würde es wohl etwas schwierig sein. So hatte sie zu ihm gesagt: „Verzeihen Sie bitte, Sie sagten, Sie wären mit der Fähre angekommen, wie sonst wollten Sie Baltrum erreichen? Es geht nur mit dem Schiff oder dem Flugzeug.“ Bei dem Wort Flugzeug war seine Reaktion durch seinen Blick so heftig gewesen, dass Gundula hatte schnell reagieren müssen und zu Susanne am Tresen gerufen hatte: „Geh eben rüber in die Schankstube und hol einen Engelbert Speziale.“ Susanne war schnell zur Schankstube gelaufen und blass und aufgeregt mit dem Schnaps wieder gekommen. Im Schlepptau war, die Tür ausfüllend, der Meister des Schnapses selber erschienen. In der linken Hand, das war keine normale Hand, das war ein kleines Wagenrad, hatte er wie ein Puppenfläschchen eine ausgewachsene Mammutflasche mit dem roten Etikett ‚Engelbert Speziale‘ gehalten. Diese Flasche sah gefährlich giftig aus und jeder Gast, der diesen Schnaps bestellte, bekam auch nur ein Gläschen, maximal zwei Gläser am Abend. Engelbert sagte immer: „Meine Gäste sind mir zu wichtig, ich brauche sie noch.". Dabei hatte einmal ein anderer Gast am Tresen im Scherz die Fingerbewegung fürs Geldzählen gemacht. In diesem Fall konnte man schon einmal im Café eine Ausnahme machen, aber mehr als zwei Gläser bekam auch dieser Gast dort nicht, sonst hätte der Doktor ran gemusst.
Der Schnaps war dem neu angekommenen Gast gereicht worden und die gesamte Crew des Cafés und der Wirt der Kneipe hatten am Tisch Platz genommen und ihn äußerst besorgt angeblickt. Gundula hatte ihr tragbares Telefon dabei gehabt und hätte nicht gezögert, sofort den Inseldoktor anzurufen. Engelbert hatte gesagt: „Was hast du mein Jung, ist dir schlecht?“ Der hatte an dem Glas genippt und Susanne hatte laut gesagt: „Nicht nippen wie eine Nonne, kipp weg wie ein Inselschipper.“ Der Gast hatte sein Glas abgestellt und dankbar in die Runde geblickt, die Ohren hatten auch schon wieder Farbe bekommen: „Mann, oh Mann, was ist das denn für ein Feuerwasser, der weckt ja den halben Friedhof auf.“ Der Wirt, stolz auf sein Getränk, und hatte besorgt gefragt: „Was war denn los?“ Der Gast hatte mit heiserer Stimme geantwortet: „Mein Name ist Hans Dieter Balje. Ich komme aus Frankfurt und wollte nach meinem stressigen Leben als Geschäftsmann einige Zeit ausspannen. Meine Batterie ist leer und mein Arzt meinte, wenn ich so weitermache, bräuchte ich im Alter keinen Seniorenplatz mehr, das würde sich vorher regeln. Also, meinte er, an die frische Seeluft, ohne Arbeit, mit viel Sport und Spaziergänge im Freien, und gab mir eine Überweisung für seinen Freund und Kollegen, dem Inselarzt, mit.“ „Der kennt unseren Doktor Vogt?“, hatte Susanne ungläubig gefragt. Hans Dieter Balje war fortgefahren. „Ja, denn mein Arzt in Frankfurt stammt von Langeoog und ist ein großer begeisterter Fan der ostfriesischen Inseln. Er sagte immer zu mir. ‚Viele Leute lieben heutzutage die Kreuzfahrten in aller Welt. Eine ostfriesische Insel selber ist wie ein Kreuzfahrtschiff, nur verbraucht sie keinen Diesel, bleibt immer in der Position und die frische Luft gibt es gratis. Außerdem muss man am Abend keinen Smoking anziehen.‘ Ich sagte ihm noch im Scherz: „Na, ein wenig fahren die Inseln schon, sie verändern sich ganz langsam.“ Dabei, meinte er und lachte, bekäme man aber keine Seekrankheit. Hier beginnt mein Dilemma, ich habe höllische Angst vor dem Fliegen und vor Schiffen. Ich werde schon seekrank, wenn ich in eine Suppenterrine blicke. Deshalb schließe ich dabei auch immer die Augen oder ich blicke einen festen Punkt in der Ferne an.“ „Beim Suppenessen?“, hatte erstaunt Susanne gefragt, hatte die anderen angeblickt und noch ungläubiger als vorhin ausgesehen. Hans Dieter Balje hatte betreten genickt, umständlich in seiner Jacke nach der aus fein gehämmerten Kartonpapier gefertigten Visitenkarte gesucht und sie Gundula gereicht. „Ich leite eine eigene Firma.“ „Für Suppentüten?“, hatte lachend Engelbert gefragt. Hans Dieter war irritiert fortgefahren, er hatte so noch nie seine Probleme vor fremden Menschen offenbart, die Insulaner machten aber alle einen ehrlichen und menschlichen Eindruck auf ihn. Wer weiß, was die hier im Laufe der Zeit schon alles gesehen hatten. „Nein, ich entwickle eigenständig Computerprogramme für die Autoindustrie mit meinen zwanzig Mitarbeitern. Ich habe vor, hier eine Weile zu bleiben, meine Firma kann ich auch von hier aus leiten. Meine Mitarbeiter werden immer am Freitag mit dem Flugzeug anreisen. Entweder fliegen sie am Abend zurück oder dürfen auf meine Kosten bis zum Montagmorgen hier in Baltrum in einem schönen Hotel bleiben, sie arbeiten schon genug und sollen nicht auch diese furchtbare Leere im Körper und Kopf bekommen. Ein schreckliches Gefühl, man will es nicht und kann dagegen einfach nichts machen. Man fühlt sich auch so hilflos, so ausgeliefert.“ Sie hatten seinem Gesicht angesehen, dass ihm nicht zum Spaßen zu Mute war. Er war den Tränen näher gewesen, als er sich selber eingestehen wollte. Gundula hatte in einem leisen mitfühlenden Ton gemeint: „Das hört sich nach Burnout bei Ihnen an, aber Sie sind hier bei unserem Inseldoktor Vogt gut aufgehoben. Wo wollen Sie wohnen und kommt Ihre Familie nicht nach?“ Hans Dieter hatte das leere Glas in den Händen gedreht: „Ich wusste vom vielen Arbeiten ja nicht einmal, welche Jahreszeit wir hatten und ich kannte mich mit den Tageszeiten in Australien, Asien und den USA besser aus als in Frankfurt. Einmal wollte ich mich endlich aufraffen, um in einem See baden zu gehen. Als ich alles zusammengepackt hatte und mit meinem Auto aus der Tiefgarage gefahren war, war es draußen dunkel und es schneite.“ Susanne, die sehr emotional war, hatte vor Rührung feuchte Augen bekommen und mehrere Male den Augenaufschlag wiederholen müssen, da sie sich nicht die Blöße hatte geben wollen, ihre Augen im Beisein ihrer Chefin abzuwischen. Den dicken Kloß im Hals hatte sie aber schon sehr deutlich bemerkt. „Haben Sie keine Familie, keine Frau?“, hatte stattdessen Susanne sehr offen gefragt. Er hatte traurig den Kopf geschüttelt: „Nein, aber das habe ich mir mit meiner Arbeit so ausgesucht. Etwas anderes! Können Sie mir ein Zimmer für die erste Zeit empfehlen, ich werde mir wohl später eine größere Ferienwohnung suchen oder, wenn es mir hier sehr gefällt, ein großes Haus für mich und einen Anbau mit Wohnungen bauen, damit meine Mitarbeiter für Projekte hier auf der Insel in meiner Nähe sind und nicht jeden Morgen auf dem Festland im Straßenverkehr stecken bleiben. Natürlich nur immer für eine begrenzte Zeit, denn sie haben im Gegensatz zu mir Familie.“ Gundula Hermine war neben ihrer menschlichen Ader nun auch einmal Geschäftsfrau und hatte ihm nach kurzem Überlegen folgendes unterbreitet: „Sie können bei mir ein Zimmer haben. Ferienwohnungen habe ich nicht, aber das größte Zimmer wurde jetzt frei und ist ca. 80 Quadratmeter groß, mit Balkon und ein Fahrrad gehört zur Miete dazu. Sehen Sie sich das Zimmer an und entscheiden Sie selber. Sie können ja, wenn Sie eine Wohnung auf der Insel finden, umziehen. Hier gibt es aber nicht allzu viele Wohnungen, die wie auf dem Festland für immer gemietet werden können. Es sind in der Mehrzahl kleine Ferienwohnungen.“ Er erhob sich wie ein alter Mann, dabei war er erst Mitte Vierzig. Susanne hätte ihn fast vor Mitleid gestützt. Gundula Hermine Dorfler ging mit ihrem neuen Gast in den Wohnungstrakt. Susanne und Engelbert mussten wieder an die Arbeit. „Das glaubt mir heute Abend keiner in meiner Häkelgruppe“, sagte sie im Weggehen mehr zu sich selber. Engelbert lachte ihr hinterher und dachte:" Entweder war das eben Erlebte alles echt oder wir sind einem besonders gerissenen Scharlatan aufgesessen." Engelbert nahm die Visitenkarte mit und ging in sein Büro. Hans Dieter Balje ging es schon ein wenig besser. Er besichtigte langsam und noch wackelig auf den Beinen die Zimmer und entschied sich für das vorhin angebotene große Zimmer. Sie gingen in das Büro im Café zurück und hier wurde der Preis ausgehandelt. Hans Dieter wollte für ein viertel Jahr im Voraus buchen und zahlte den gesamten Betrag mit seiner Bankkarte. Derweil sah Engelbert nach den Informationen auf der Visitenkarte im Internet nach und dort fand er alle Angaben bestätigt. Da aber Kapitän Engelbert von Ritter sicher gehen wollte, rief er seinen örtlichen Bankbetreuer an. Dieser kannte den Kunden aus seiner Zeit in der Frankfurter Zentrale seiner Bank. Engelbert war noch nicht zufrieden und bat den Bankberater in der Mittagspause in das Café zu kommen. Er bekäme Kuchen und eine Kanne Kaffee und so ganz unauffällig und nebenbei sollte er sich den neuen Gast anschauen. „Ich komme gleich mit dem Fahrrad“, sagte er und der Hörer des Telefons wurde aufgelegt. Engelbert informierte über Haustelefon seine Schwester und diese verstand nur Bahnhof. „Ich will nur sichergehen, ob das alles mit dem neuen Gast so stimmt oder ob wir da ein Märchen aufgetischt bekamen. Es macht mich stutzig, wenn ein Neuankömmling, ohne die Insel groß gesehen zu haben, hier gleich ein Haus mit Wohnungen für seine Mitarbeiter bauen lassen will, die er immer am Freitag von Frankfurt nach Baltrum einfliegen lassen will. Ob das wohl alles stimmt?“ Gundula verstand und lud den neuen Mieter zu einer Kanne Kaffee mit Kuchen auf Kosten des Hauses ein und dieser willigte ein: „Für mein Gepäck soll ich eine Telefonnummer anrufen, damit sie wissen, wohin der kleine Transportcontainer geliefert werden soll.“ „Transportcontainer?“, rief erschrocken Gundula unwillkürlich. „Keine Angst, ich brauche meine zehn Computer und die Geschäftsunterlagen, die meisten habe ich auf Datenträgern.“ Jetzt war es an Gundula, einen Engelbert Speziale zu verlangen. Als sie in das Café kamen, war schon alles für den Gast gedeckt.
Die Tür öffnete sich und der Bankberater schüttelte sich den Regen aus dem Fahrradumhang. Er machte seine Sache sehr gut, denn er zog den Umhang in der Türfüllung aus, grüßte allgemein und steuerte den Fenstertisch an. Hans Dieter Balje bemerkte ihn und rief laut aus. „Nanu, Herr Uphusen, was machen Sie denn hier, sind Sie zur Kur aus Frankfurt gekommen?“ Jürgen Uphusen blickte sich erstaunt um. „Guten Tag Herr Balje, Sie machen Urlaub und das auf einer Insel?“ Hans Dieter Balje setzte sich zu Jürgen Uphusen, seinem exzellenten Anlageberater einer Frankfurter Bank. Jürgen Uphusen rieb sich die kalten Hände. „Mir wurde die Filiale hier in Baltrum angeboten. Meine Frau und ich lieben Baltrum, denn wir waren oft als Gäste hier. Die Luft, die Ruhe und keine Autos! Man steht morgens nicht mehr im Frankfurter Stau. Das Einzige was mich neben der Bank an Frankfurt erinnert, sind die Frankfurter Würstchen. Hier auf Baltrum ist schon ein ganz anderes Arbeiten.“ Sie unterhielten sich angeregt und Jürgen Uphusen entschuldigte sich für einen kurzen Augenblick und ging durch den Gang in die Kneipe, um Engelbert aufzusuchen. Der sah ihn mit großen Augen an. Jürgen Uphusen war ebenfalls ein sehr großer Mensch und konnte demnach Engelbert anblicken, ohne das Engelbert wie bei den meisten seiner Zeitgenossen den Kopf nach unten drehen musste. „Das stimmt alles. Es ist Hans Dieter Balje, Multimillionär, Inhaber und genialer Entwickler der Computerfirma gleichen Namens. Herzlichen Glückwunsch! Denn er ist immer auf der Suche nach dem Machbaren und ist ein Hausinvestor wie es im Buche steht. Dem gehören jede Mengen neuartige Studentenwohnheime in großen Unistädten. Und was heute kaum jemand noch möchte, Wohnklötzer von zwanzig bis fünfzig Stockwerken in der Vermietung. Alles vom Zustand erste Sahne.“ Er sagte weiterhin: „Engelbert, wenn ich diesen Kunden bekomme, zahle ich dir deinen Fischkoch nach deiner Wahl.“ Damit war sein Bankberater schon wieder aus der Kneipe und Engelbert kochte sich vor Freude eine Kanne Kamillentee. In die Tasse ließ er ein Stück Ostfriesen Kluntjes plumpsen.
Engelbert aber dachte schon an das bevorstehende zu planende Fischessen in der Kneipe und in dem Café. Natürlich hatte die Kneipe eine Küche mit allen Schikanen. Die Aussage zu den Bockwürsten mit Senf stimmte insoweit, da Engelbert als Kapitän zur See gefahren war und ein Kapitän nicht kochte, schließlich gab es dafür den Schiffskoch. Das bedeutete nun aber auch, dass sich die Engelbertsche Kochkunst auf das Öffnen von Wurstdosen beschränkte und da die heutigen Wurstdosen eine Lasche zum Öffnen haben, schaffte er es, die Dose auch ohne große Verletzungen zu öffnen. Früher trug er nicht nur die heißen Bockwürste in sein Lokal, sondern nebenbei auch noch einen Fingerverband. Auch heute galt noch, für die im Wasser geplatzten Bockwürste zahlte der Gast die Hälfte des Preises. Den Kartoffelsalat gab es schließlich fertig in Eimern und der schmeckte sogar sehr gut, meinte zumindest Engelbert, womit er Recht hatte.
Die Küche insgesamt auf der Insel Baltrum war gut bis sehr gut und Engelbert lag es fern, seinen Kollegen und Mitkonkurrenten, was das Essen anbetraf, deren Gäste abspenstig zu machen. Da gab es aber kleine Einschränkungen, denn Engelbert aß gerne Fisch und kannte sich, als Gast natürlich, damit gut aus. Er kannte Fischrestaurants auf der ganzen Welt und war schlecht gelaunt, wenn er in einem Lokal viel Geld hinlegen musste und dafür eine mäßige Küche serviert bekam. Also beschloss er mit seiner Schwester bei einer heißen Kanne Lindenblütentee mit Kluntjes: „Wir werden hier selber aktiv.“ Natürlich nicht kontinuierlich, sondern als Veranstaltung. Dies konnte einmal oder mehrmals im Jahr sein, wie es gerade so passte und man einen guten Fischkoch engagieren konnte. Wenn er denn mal einen Urlaub auf dem Festland bis nach den Niederlanden oder sogar bis Bayern antrat, wurde es ihm sehr schnell langweilig und suchte sich im Urlaub eine Aufgabe. Er ging Fischessen und wenn es ihm schmeckte, wenn alles andere passte, konnte es sein, dass der Fischkoch oder die Fischköchin für eine lange Woche auf Baltrum ein bezahltes Wohnen mit kostenloser, frischer Seeluft verbringen durfte. Das Honorar konnte sich sehen lassen.
Jetzt war es wieder soweit. In der nächsten Woche würde ein Fischkoch aus Tirol in Italien erscheinen. Die Plakate waren gedruckt und wurden heute noch im Laufe des Tages an der Kneipe und an dem Café aufgehängt und aufgestellt. Früher hatte er Werbung im Inselteil der Zeitung geschaltet. Jetzt war das Restaurantkontingent innerhalb von kurzer Zeit vergeben und es kamen sogar Festlandsgäste nur zum Fischessen auf die Insel. Da keine Fähre mehr so spät zurückfuhr, hatten die Hoteliers zusätzliche Übernachtungsgäste. Generelle Jahresvorbestellungen nahmen sie aber nicht mehr an. Da das Fischessen derart delikat und köstlich war und sich der Koch seiner Verantwortung stets bewusst war, wurde Wert auf sehr gute Qualität von Fisch, Gemüse und Kartoffeln gelegt. Engelbert hatte nichts gegen Experimente, die nahm er gerne an, wenn sie schmeckten. Sie sollten aber nicht zu überdreht sein. Denn das mochten die meisten Gäste nicht. Es hatte auch schon eine Situation gegeben, wo alles besprochen und die Speisekarte gedruckt war. Die Plätze waren völlig ausgebucht gewesen und der Kochmaestro war mit der letzten Fähre angekommen, aber auf dem Festland zu viel Rumgrog getrunken hatte. Er hatte sich seine Küche angesehen und vor Ärger los gebrüllt. Die Küche wäre ihm zu klein, das Kochgeschirr nicht in der gewohnten Qualität, es stünde auch alles anders als in der von ihm gewohnten Reihenfolge. Also nichts passte ihm. Engelbert war ja trotz seiner Größe ein ganz lieber Mensch und wusste ja, wo der Koch, der wirklich gut war, herkam. Auf Baltrum ging alles gemütlich zu und man hörte so gut wie nie einen Menschen brüllen. Engelbert hatte sich den wie einen Derwisch aufführenden Fischkoch angesehen, seinen von ihm geliebten Kamillentee ausgetrunken, war aufgestanden, hatte wortlos den Koch am Schlafittchen genommen und ihn vor die Tür getragen. Und dann war der Brüller von Engelbert gekommen, von dem die Einheimischen heute noch erzählen. „Und die Möwen kreischen hier auch wohl anders als in deinem Kaff in Ostfriesland, oder wie?“, hatte Engelbert seinen Fischkoch angebrüllt, der ganz erschrocken zu ihm aufgesehen hatte. Damit hatte er den Koch in die volle Regentonne gestellt - und draußen war es kalt gewesen. Was sollten Engelbert und seine Schwester nun machen, beide konnten nicht kochen. Er hatte aber einen alten Freund von der Seefahrt hier auf der Insel und der war unter Engelbert als Koch und gefahren schon war die Rettung da gewesen.
Also, im Ort wurde aktuell schon gemunkelt, dass es jetzt irgendwann wieder mit dem Fischessen bei Engelbert losgehen sollte. Die Plätze waren begehrt wie teure Opernkarten, obwohl der Fisch von Donnerstag bis Montag jeweils um 20 Uhr serviert wurde und Einlass mit einem Aperitif war immer ab 18 Uhr. Die Konkurrenz war in dieser ungewissen Zeit des Fischessens bei Engelbert schon ganz kribbelig, denn auch dort fragten die Gäste nach, wann es denn wieder den guten Fisch bei Engelbert geben würde. Die Konkurrenz konnte nur mit den Schultern zucken und sagen: „Wir haben auch eine gute Fischküche.“ „Ja, ja“, sagten einige unerschütterliche Gäste, „aber nicht so eine gute Küche wie bei Engelbert. Hier kocht immer derselbe Koch und dort kommt jedes Jahr ein anderer Fischkoch. Wie der Engelbert das mit seinen wechselnden Köchen bloß immer so schafft?“ Der Konkurrenz blieb nichts anders übrig, als eine dicke Zornesader zu bekommen und wortlos in die Küche zu gehen, um dort an unschuldigen Töpfen und Pfannen Dampf abzulassen.
Engelbert und seine Schwester Gundula Hermine nahmen heute um 16 Uhr die heilige Handlung der Plakatenthüllung mit dem lang gehüteten Geheimnis vor, was denn wohl diesmal an Fisch angeboten werden würde. Sie stellten die Schilder auf und dort standen in großen Lettern der Termin und der angebotene Fisch der Saison. Als Vorspeise gab es mit Nordseekrabben gefüllte Regenbogenforellenfilets und geräucherte Aalröllchen in Dillsauce, als Hauptgericht den Moronidae, den Wolfs- oder Streifenbarsch auf Kartoffelstampf. Als Nachtisch wurde ein raffinierter Cocktail aus verschiedenen Fischhappen und mit frischem, selbst gemachtem Eis mit Sahne serviert. So, als wenn man Möwen füttern würde, kamen auch schon die ersten Gäste um zu sehen, was es wohl geben würde und was es denn Schönes sei. Früher schrieb man das Rezept vom Plakat ab und ging zum Telefon nach Hause. Heute hatte man ein Handy, machte ein Foto vom Plakat und verschickte dieses an Bekannte auf dem Festland oder auf eine andere der ostfriesischen Inseln. Engelbert goss sich aus der Kanne auf dem Warmhaltestövchen einen Becher Kamillentee ein, in Wirklichkeit sein sehr großer XXL-Becher. Böse Zungen behaupteten, er tränke den Kamillentee immer direkt aus einer Kanne. Er ging nachdenklich mit dem Becher an das Fenster und sah die Touristen vor seinem Plakat stehen. Es vergingen keine zehn Minuten und schon hatte er die erste telefonische Tischbestellung für den Sonnabend nächster Woche für, sage und schreibe, zwanzig Gäste aus München bekommen. Die moderne Technik machte es eben möglich. Nach dem Notieren und der Bestätigung der Reservierung, nach dem Preis fragte der Anrufer erst gar nicht, musste Engelbert Gundula über das Haustelefon von dieser Tischbestellung berichten, worüber sie sich sehr freute. In diesem Augenblick kamen weitere Touristen und auch Einheimische in die Kneipe und baten um Tische für den Sonnabend und den Sonntag. Das Wochenende war naturgemäß immer sehr beliebt und, was sollte man machen, wenn alles ausgebucht war, blieb ja noch der erste Tag, der Donnerstag. Engelbert hatte sich diesmal aber etwas Besonderes ausgedacht. Es war wie bei dem Zirkus in der Stadt. Wenn die Nachfrage übergroß war, wurden die Plakate überklebt und die Verlängerung des Gastspieles somit offiziell von der Direktion höchstpersönlich angekündigt. Sie hatten vor, notfalls den Montag und auch den Dienstag der Folgewoche zu nehmen, denn der Koch blieb auf eigene Kosten für weitere drei Wochen auf der Insel. „Da ist ja noch Potenzial ungeahnten Ausmaßes in der Sache“, dachte Engelbert bei sich und nahm einen Schluck Kamillentee. Der Lieferant könnte genügend frischen Fisch besorgen, wie er augenzwinkernd sagte. Unter den Touristen war auch ein Einheimischer, der einige Tische gleich komplett reservieren wollte, was Engelbert aber doch nicht wollte. „Hier wird keine Butterfahrt verramscht, sondern hier wird eine kulinarische Köstlichkeit kredenzt und deswegen soll es so sein, dass ich nicht mehr als zwanzig Anmeldungen pro Abend annehmen werde.“ Diese Zahl fiel ihm plötzlich aufgrund der Münchener Reservierung ein. Sein Lokal wurde für diese Zeit auch zusätzlich mit Tischen bestückt und der Schankbetrieb endete spätestens um sechzehn Uhr. Dann mussten alle Gäste das Lokal für den Umbau verlassen haben, denn nach zwei Stunden ging es los und bis dahin musste alles fertig sein. Engelbert hatte Helfer aus dem Ort engagiert und jeder Tisch hatte seinen festen Platz, das wurde schon in den Jahren davor mit Erfolg geprobt. Pannen kamen ohnehin von alleine ohne jedwede Anmeldung. Doch die Insulaner waren besonnene Leute, dann musste man eben etwas länger auf sein Essen warten, es lohnte sich ja in jedem Fall. Zum Essen gab es erlesene Weine aus einer Sonderweinkarte passend zum Fisch. Weil Engelbert gut zu tun hatte - es klingelte nun ständig neben dem Festanschluss zu allem Stress auch noch sein Handy - übernahm Gundula das Büro mit dem Festanschluss für die Tischbestellungen und Engelbert setzte sich mit einem Block und einem Stift zu seinem Stövchen an das Fenster und nahm die Bestellungen auf dem Handy an. Dabei verständigte er sich mit Handzeichen über die Tische und nur die Tage wurden laut gerufen. Ein Gast kam in die Schankstube, setzte sich an den Tresen, blickte wie bei einem Tennismatsch immer hin und her, von einem zum anderen und sagte: „Was ist denn hier los, sind wir hier auf der Börse oder kauft ihr auf einer Auktion in Amerika Rinder auf?“ Engelbert bekam den Spruch seines Gastes mit und prustete in sein Handy. „Nur eine terrestrische Störung“, bemerkte Engelbert beschwichtigend zum Handyanrufer. „Wir leben eben auf einer Insel.“ Als er nach der Bestellung aufgelegt hatte, lachten er und sein Gast lauthals los. Das Handy war aber humorlos und klingelte schon wieder laut und fordernd.
Kurz vor der Kneipenöffnung am Tag nach der Plakataufstellung waren schon einige Gäste an dem Kneipengebäude und suchten Schutz vor dem Regen, der durch den Wind ziemlich schräg gegen das Haus fiel. Es war ein feiner, unangenehmer und gleichmäßiger Regen, der immer wieder von Windböen unberechenbar abgelenkt wurde. An den Scheiben liefen die Wassertropfen langsam herunter, manche vereinigten sich zu einem kleinen Rinnsal zum unteren Fensterholm. Die Inselgäste, die unerschütterlich am Strand spazieren gingen, hatten die Kapuzen hochgeschlagen und nahmen die typische Haltung gegen den Wind gebeugt ein. Engelbert hatte schon vorher seine Gäste an dem Haus stehen sehen und öffnete früher als gewohnt seine Kneipe. An dem Tresen hatte er ein großes Schild mit der Aufschrift gehängt: Für das geplante Fischessen sind nur noch Plätze am Donnerstag frei.
In der Musikanlage spielte leise von irgendeinem Radiosender eine maritime Männergruppe Seemannslieder und als Engelbert aufschloss und die Gäste mit einem freundlichen „Moin, Moin“ begrüßte, hörte er Gemurmel, wie 'Sauwetter, mistiger Regen, da buche ich hier Urlaub und Regen habe ich zu Hause.' Engelbert kannte seine Pappenheimer und rief laut und vernehmlich in die Kneipe: „Leute, seid nicht verdrießlich, ich hörte gerade im Radio, auf den Bahamas schneit es, also wir kennen kein schlechtes Wetter, sondern nur schlecht gelaunte Menschen, der Tee ist angerichtet, der Kamillentee ist heiß und der Grog und Glühwein sind dabei, die richtige Temperatur zu bekommen. Nicht drängeln, hier kommt jeder ran.“ „Den Kamillentee trink man selber, ich brauche einen starken Grog, du weißt ja, Wasser kann, Rum muss.“ Der das sagte, wurde hier nur 'der Tüftler' genannt. Es war ein richtiger Professor und hatte zweimal den Doktorgrad, obwohl ein Gast einmal sagte, ein Doktor müsste doch an sich reichen. Dieser Gast setzte sich wie immer an seinen Fensterplatz in der Ecke und hatte auch wie immer Zeichnungen, Stifte und leere Blätter mit. So wie ein Maler auf Motivsuche. Der Tüftler wollte mit den Kneipengästen nicht viel zu tun haben, genoss aber die Menschen in der Kneipe mit ihrem Gerede und sie störten ihn in seiner Arbeit überhaupt nicht. Engelbert hatte den Grog für ihn schon vorbereitet, von wegen Pappenheimer und so. Als er ihm den Grog brachte, sagte Engelbert: „Na, Tüftler, was planst du nun schon wieder, willst du die Weltachse verändern und die Weltumdrehung verlangsamen, damit wir alle älter werden?“ Der Tüftler sah kurz hoch und war mit seinen Gedanken schon ganz woanders. Es handelte sich um Herrn Professor Doktor Doktor Heinrich Theodor Isenstetten aus dem Ruhrpott, der auf Anraten seines Arztes seinen Ruhestand der guten Seeluft wegen auf Baltrum verbrachte. Er wohnte zur Miete in einem kleinen bescheidenen Haus bei der Witwe Müller im Westdorf. Der Tüftler hatte schon sehr skurrile Ideen fast umsetzungsreif zu Papier gebracht, denn er mochte die Autos nicht besonders und war ein ökologischer Mensch. So dachte er lange über eine Umgestaltung der Friedhöfe auf platzsparenden Möglichkeiten nach. Nachher plante er mit unzähligen Zeichnungen, die Urnenbestattungen von der Fläche her optimaler zu gestalten und so sollten die Urnen immer im Zehnerpackung, von unten nach oben natürlich, in einem Gestell wie an einer Perlenschnur aufgereiht werden. Kleine Hinweisschilder an einem kleinen Stein sollten, falls es gewünscht wurde, mit den kurzen Lebensdaten auf den Verstorbenen hinweisen. Die Gestelle, an denen die Urnen angehängt werden sollten, sollten aus Bambus und die Urne ebenfalls aus abbaufähigem Material sein. Als er seine Erfindung hier, wie er es immer machte, an der Theke feierlich vorstellte, meinte ein Gast trocken: „Ich will aber nicht irgendwann meinem Nachbarn als Asche auf den Kopf fallen und ich möchte auch nicht, dass mein oberster Nachbar mir auf den Kopf bröselt.“ Den Vogel der Skurrilität schoss der Tüftler mit seinem Vorschlag ab, einen flexiblen Kirchhof zu gestalten, wobei die Särge und die Urnen nach dem Platzbedarf angepasst wurden, den täglich ein Computer neu berechnete und somit wurden die Urnen und Särge immer wieder vom Platz her angepasst, sprich umgesetzt. Ein anderer Thekengast meinte bei dieser Vorstellung: „Das ist ja Beerdigungstourismus und unsere Oma soll nicht jeden Tag auf dem Friedhof woanders liegen, Karussell fahren mochte sie noch nie in ihrem Leben.“ Ein weiterer Gast, ein pensionierter Kriminalkommissar, fügte hinzu: „Haben Sie schon mal etwas vom Verbot einer Störung der Totenruhe gehört?" Damit war dieser Plan bei dem Professor schlagartig hinfällig. Er hatte auch Zeichnungen zur Bewältigung der Transportproblematik zur Beförderung von Touristen auf Inseln und speziell nach Baltrum entworfen. Da war die Planung eines Tunnels nicht neu und nicht wirklich bahnbrechend, aber seine Seilbahnen hatten es in sich. Er ging als Problemlösung davon aus, die Inseln tideunabhängig und somit völlig wetterunabhängig zu versorgen. Er plante Seilbahnen in ausreichender Höhe für die Schifffahrt wie im Gebirge zum Festland zu installieren. Die ersten Zeichnungen gingen von Liften aus, wie man sie aus den Bergen her kannte und da auch Güter transportiert werden mussten, kam er auf geschlossene Gondeln. Der helle Wahnsinn manifestierte sich in der Seilbahn mit Gondeln in luftiger Höhe. Hier sollten Zeppeline mit Solarmotoren zur Haltung der Position und per Satellit gesteuert, als Haltepfeiler herhalten und unterhalb sollten Seile gespannt werden, um die Gondeln zu transportieren: „Sag mal, du Bastelkasper, und wie soll das unabhängig vom Wetter sein, die Dinger schaukeln doch nur so im Wind. Da werden die Gondelgäste seekrank und leiden obendrein auch noch unter Höhenangst.“ Das war der vernichtende Kommentar eines Ingenieurs am Tresen und somit starb auch diese bahnbrechende Idee eines natürlichen Tüfteltodes. Danach widmete sich der Herr Professor den Fahrrädern mit Solartechnik und Windsegeln. Diese Fahrradzeichnungen machten am Tresen die Runde. Der Tüftler malte sein Segel auf dem Fahrrad wunderbar etwas seitlich versetzt auf und reichte stolz die Zeichnungen an einen Gast am Tresen. An sich hätte der Professor gewarnt sein sollen, denn der Gast holte seinen Stift aus der Jackentasche, malte das Segel vor die Nase des Fahrradmänneken und dieser wurde auch so mit einer dicken Nase verändert, dass er einen langen Hals um das Segel machen musste, um nach vorne sehen zu können. Als die Zeichnung an dem Tresen herumgereicht wurde, gab es ein schallendes Gelächter. Der Tüftler hatte aber auch selber Humor und lachte lauthals mit, als er die Zeichnung zurückbekam.
Von dieser guten Stimmung war heute aber partout nichts zu bemerken, der Regenblues machte am Tresen die große Runde. Die Thekengäste schauten sich eher ziemlich gelangweilt an und wären froh, wenn ein neuer Gast an den Tresen käme, an dem man sich so richtig reiben konnte. Nur dem Tüftler machte das Wetter überhaupt nichts aus. Er bekam von Engelbert seinen zweiten Grog und merkte es nicht einmal. Er langte automatisch zum Grogglas und wenn man dachte, er blickte in die Runde der Menschen an der Theke, war er mit seinen Gedanken Lichtjahre von ihnen entfernt. Das Thema, was wohl alle Insulaner bei schlechtem Wetter interessierte, war, ob die Fähre heute bei diesem Wetter führe oder nicht. Dabei wurde das Wort 'bei diesem' immer ganz besonders in der Betonung hochgezogen. Die Fähre war aber auch bei jedem Wetter ein Thema. Dieses Thema würde auf dem Festland naturgemäß keinen interessieren, aber wenn der Festländer erst hier eine Zeit wohnte, fragte er viel häufiger nach der Fahrmöglichkeit der Fähre als die Insulaner. Das hatte wohl mit der Urangst eines Menschen zu tun, von der Außenwelt ohne Nahrung abgeschlossen zu werden und langsam zu verdursten und zu verhungern. Sie sahen sich wohl schon in der misslichen Lage, wenn der Sturm abzog, auf allen Vieren am Strand kriechend, mit aufgeplatzten Lippen und schweren Lidern und ‚Wasser, Wasser‘ rufend. Sie fanden aber kein Gehör und der linke Arm wurde wie zu einem letzten Gruß mit allerletzter Kraft in die Luft gehalten und die gnadenlose sengende Sonne zeigte die Fata Morgana einer Stadt und danach fiel der Oberkörper mit einem Rums in den heißen Sand. Die Möwen warteten schon. Engelbert kannte das in all den Jahren an der Theke seiner Kneipe. Er pflegte dann immer mit seiner Bassstimme dröhnend in die Kneipe zu rufen: „Ist hier schon jemand auf der Insel verdurstet? Der möge sich bitte bei mir melden!“ Das brachte immerhin einige Lacher, bei einigen wohl auch verzweifelte. Engelbert verstand es aber stets, alle zu beruhigen. „Wir leben nun mal auf einer Insel und da kann es passieren, dass wir witterungsbedingt eine kurze Zeit, ich wiederhole, kurze Zeit vom Festland abgeschnitten sind. Wir haben genügend Vorräte auf der Insel und selbst der stärkste Frost kann uns nicht umwerfen. Wir werden dann mit Flugzeugen und Hubschraubern versorgt. Falls der Rum ausgehen sollte, eher habe ich aber einen Sechser im Lotto, nehme ich meine Schlittenhunde aus dem Stall und kutschiere selber nach Esens und hole Nachschub.“ Nun, aber unabhängig davon ist natürlich auf der Insel die Frage nach dem tideabhängigen Fahrplan der Fähre berechtigt. Es ist auch ein Eröffnungsgespräch bei fremden Gästen am Tresen. „Na, ob die Fähre wohl fährt?“ Schon hatte man vor dem zweiten Thema, „Wie wird das Wetter?“, einen Anknüpfungspunkt, der oft dergestalt ausgebaut wurde, dass der neue Gast einen Grog ausgab. Engelbert erklärte stolz seinen Tresengästen gerade die neuerworbene Saftpresse. Damit konnte er mit geschnittenen Äpfeln und Karotten einen herrlich sämigen Saft herstellen und als Energieträger anbieten. „Das trink man selber, damit dein Kamillentee im Magen nicht so alleine ist“, schüttelte sich der Stammgast Bruno Schmidt.
Engelbert wollte in der Erklärung seiner Wunderpresse gerade fortfahren, als sich die Kneipentür öffnete und wie ein nasser Pudel ein neuer Gast eintrat. „Nun kommt das Reibeisen, von dem die Tresenkameraden gerade redeten“, dachte Engelbert und brach seinen Verkaufsvortrag ab. Bruno Schmidt drehte sich um und sagte: „Mann, da kommt ja unser Reibeisen, jetzt wird es hier endlich lustig.“ Der Gast schüttelte den Regen ab, zog seinen Regenmantel umständlich aus und begrüßte die Gäste. Die Begrüßung bei ihm unbekannten Personen ging folgendermaßen ab: „Gestatten, mein Name ist Oberst außer Dienst, Hermann Schlünders, Bonn - Bad Godesberg, Hardthöhe.“ Dabei nickte er kurz und militärisch nach den Seiten hin und schlug mit einem Klacken seine Hacken zusammen. Bruno sagte immer: „Wer das nicht glaubt, muss es selber sehen. Der könnte auf dem Jahrmarkt auftreten.“ Einmal hatte ein Gast zum Oberst a. D. folgendes gesagt: „Ich war schon einmal in Bonn, aber den Stadtteil Hardthöhe kenne ich nicht.“ Daraufhin hatte der freundliche Herr Oberst a.D., der immer Korrekte, erwidert: „Die Hardthöhe ist das Verteidigungsministerium in Bonn.“ „Museum wäre besser“, hatte Bruno geantwortet. „Verteidigungsmuseum klingt doch viel besser, da wir uns neuerdings mit dem Ostblock gut verstehen.“ Schon wurden die heißesten politischen Theorien am Tresen leidenschaftlich diskutiert.
Der Oberst, wie er hier intern hieß, hatte für die Insulaner ein merkwürdiges, skurril anmutendes Hobby. Er war ein sogenannter Sondengänger. „Ein Sonderling bist du auch“, bemerkte ein Thekengast, als der Oberst von seinem Hobby berichtete. Der Oberst gehörte zu der merkwürdigen Kaste in unserem Land, deren Mitglieder mit einem Metalldetektor und mit einem Kopfhörer bewaffnet, frühmorgens oder kurz vor Sonnenuntergang, so als wären sie menschen- oder lichtscheu, wie böse Zungen sagten, loszogen und in einem gleichmäßigen Rhythmus das Suchgerät waagerecht vor sich langsam hin und her schwenkten. In der linken Hand hielten sie eine kleine Schaufel und in Abständen stutzten sie, prüften gezielt noch einmal die Stelle, bückten sich und fingen mit der Schaufel zu graben an. Ihre Ausbeute ließ sich jedes Mal sehen, sie fanden jede Menge an Münzen, Uhren, Ringe und vor allen Dingen Bierverschlüsse aus Metall und auch Schlüssel. Der Oberst hatte bereits einen Ring gefunden, der vom hiesigen Juwelier auf mehrere Tausend Euro geschätzt worden war und den er bei der Polizei abgegeben hatte. Der Oberst telefonierte mit dem zuständigen Fundamt und wenn sich nach sechs Monaten niemand gemeldet haben würde, konnte er den Ring abholen und wäre dann der stolze Besitzer des wertvollen Ringes. Es gab aber auch Fälle, wo Hotelbesitzer ihn um Hilfe baten, weil die Gäste irgendetwas verloren hatten, meist waren es Haustürschlüssel.
Aber eine große Sache war mit die mit dem Oberst und dem ebenfalls als Rentner hier auf der Insel ansässigen Kriminalkommissar. Der pensionierte Kriminalkommissar Walter Schmelzig aus Leipzig, der jetzt hier auf Baltrum seinen Wohnsitz hatte, war genau der Typ eines Polizisten oder war es früher gewesen, wie man sich einen Schutzpolizisten, auch Schupo genannt, so vorstellte. Bei diesem Typ eines Polizisten fühlt man sich als Bürger im Falle der Gefahr gut aufgehoben. Als vor einiger Zeit die örtliche Bank das Ziel von Räubern geworden war, hatten diese mit Erfolg dem gerade aufschließenden Filialleiter die Schlüssel für die Banktüren und eine Geldbombe entrissen. Der Filialleiter hatte die Geldbombe eines örtlichen Einzelhändlers unter dem Arm. Dieser Einzelhändler war sein Nachbar und auf diese einfache Transportweise nahm der Filialleiter täglich immer die Geldbombe mit zur Bank. Nun ja, die Geldbombe und die Schlüssel waren ihm entrissen worden, zu weiteren Untaten waren die Räuber aber nicht gekommen. Sie waren über den Strand geflüchtet, wo sie ein Boot mit einem kleinen Motor versteckt hatten. Das Ganze hatte für die beiden Räuber nicht gut gehen können. Denn nach dem Alarm in Aurich hatte die Hubschrauberbesatzung der Polizei schnell das Boot in der See auf dem Weg in Richtung Neßmersiel entdeckt. Bei den Räubern waren aber weder die Geldbombe noch die Schlüssel gefunden worden. Die Räuber hatten behauptet, beides im Sand am Strand auf der Flucht vergraben zu haben. Nun hatte die Stunde des vielfach belächelten Sondengängers Hermann Schlünders von der Bonner Hardthöhe geschlagen. Zusammen mit dem Kommissar hatten sie generalstabsmäßig eine Suchaktion mit Plan und Millimeterpapier ausgearbeitet. Die Polizei hatte natürlich auch gesucht, aber an der falschen Stelle. Oberst Herman und Kommissar Walter waren so beschäftigt, dass sie keine Zeit gehabt hatten, in die Kneipe zu Engelbert zu kommen. Nach einer Woche des Suchens hatte der Metalldetektor endlich erst bei den Schlüsseln und nach wenigen Metern bei der Geldbombe gepiept. Zur Belohnung war der Bankdirektor vom Festland gekommen und man munkelte noch heute, es wäre ein hübscher Betrag gewesen. Denn bei Engelbert war danach kräftig gefeiert worden und die beiden Suchstrategen hatten die gesamte Zeche gezahlt.
An der Theke gab es in unregelmäßigen Abständen aber noch eine liebenswürdige skurrile Erscheinung. Es war die Gräfin aus Berlin. Ihren Namen kannte hier keiner, sie wurde nur als Gräfin bezeichnet und merkwürdigerweise wurde sie von der täglichen Thekencrew nie mit Spott oder Andeutungen traktiert. Sie redeten immer sehr respektvoll von der Gräfin und, wenn sie erschien, verstummten auch sofort derbe Witze. Die Gräfin kam einmal im Jahr für sechs Monate hierher nach Baltrum und wurde stets von zwei Hausdamen begleitet, dabei konnte sie sich auch ganz gut ohne ihren Rollstuhl selber bewegen. Aber über ihre Herkunft wurde natürlich gemunkelt. Einige meinten, sie wäre auf Baltrum aufgewachsen und als Kind mit den Eltern auf das Festland gezogen und sie sei steinreich. Die Gräfin bezog immer dasselbe Hotel und saß oft lange in ihrem Lehnstuhl auf der windgeschützten Terrasse warm eingemummelt und sah sich stundenlang die Wellen an. Hier in die Kneipe „Ohne Hausnummer“ erschien sie immer am Sonnabend, nachdem sie mit ihrem Personal, wie es hieß, im Café zum Kaffee und Kuchen gewesen war. Danach wurde sie exakt für zwei oder je nachdem, drei Stunden durch den Gang zur Kneipe mit dem Rollstuhl geschoben und ihre Hilfe verabschiedete sich, da diese Kneipen nicht ausstehen konnte. Die Gräfin fühlte sich sichtlich wohl in der Kneipe und unterhielt sich mit den Leuten, wobei sie ihren dicken rotflüssigen Kirschlikör trank. „Wir hatten früher in Berlin eine Likörfabrik“, hatte sie einmal über sich verraten.
Zum Abschluss war noch zu sagen, dass die reservierte Gruppe mit zwanzig Gästen zum Fischessen Engelbert versetzte und der Donnerstag auch nicht voll ausgebucht war. Das Fischessen selbst war aber wie immer sehr gelungen und die Gäste freuten sich schon auf die nächste Fischsaison mit einem neuen Fischkoch.