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Kapitel 5: Töne, Klänge & Rhythmen
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Es ist spät am Abend. Adam sitzt bei sich zu Hause auf der Couch und isst aufgewärmte Nudeln. Ivy wollte pünktlich da sein. Das Keyboard, mit dem die beiden musizieren wollten, steht einsam und allein in der Mitte des Wohnzimmers. Es ist gemütlich. Aber nur, weil Ivy sich darum kümmert. Und weil Adam nicht oft genug hier ist, um es scheußlich aussehen zu lassen. Meistens schläft er im Labor. Da öffnet sich die Tür und Ivy betritt die Wohnung.
»Tut mir Leid, dass du warten musstest, Adam! Aber dein Vater und ich haben sehr lange über dieses Zuchtprojekt geredet.« entschuldigt sie sich.
»Du weißt, dass du das nicht tun musst. Ich könnte mich für deine Rechte einsetzen und dich decken, äh... Ich meinte dir Rückendeckung geben.« kommentiert Adam.
»Darüber haben wir doch schon geredet, Adam! Meine Daseinsberechtigung liegt darin, deinem Vater zu dienen. Dafür hat er mich erschaffen.«
Adam wirft entnervt seine Gabel in den Nudeltopf, aus dem er isst, und stellt diesen entnervt auf den Boden.
Dann legt er los »Sag mal! Hältst du dich etwa für sein Eigentum?«.
»Bin ich das nicht?«
»OK, Ivy! Lass uns über Eigentümer reden. Warum glaubst du, du gehörst meinem Vater?«
»Weil ich wegen ihm existiere.«
»Das tue ich auch, aber deshalb lasse ich mich nicht von ihm rumkommandieren.«
»Warum eigentlich nicht? Du stellst dich gegen deine eigene Sippe, Adam! Gegen deine eigene Nationalität, deine Religion, ja sogar gegen deine eigene Spezies.«
»Okay, fangen wir mal mit der Nationalität an. Davon kann ich dir ein ganzes Lied trällern. Zunächst einmal befinden wir uns in einer Kolonie. Es gibt hier keine Nation. Und warum diese Dödel von Volkstrotteln immer noch daran festhalten, ist der Grund, warum die nicht vorwärtskommen. Alle Gesellschaftsgruppen separieren sich in Russen, Inder, Japaner, Amerikaner, Deutsche... Und das, obwohl alle unter der gleichen Kuppel sitzen. Auf der Erde haben sich diese Menschenidioten deswegen Grenzen gesetzt, um sich noch weiter zu separieren. Jeder saß nur noch in seinem eigenen Kackland fest und konnte ohne Visum noch nicht mal das Land verlassen. Jedes Land wollte immer schön unter sich bleiben. Sie begründeten das mit Fantasien wie Nationalstolz und Landeigentum. „Das ist unser Land!“. Deswegen haben sich diese Schwachköpfe Massenvernichtungswaffen um die Ohren geworfen. Landeigentum, Nationen, Patente, Religion. Der Mensch hat ständig gepredigt „Das ist unser Land!“ „Das sind unsere Tiere!“ „Das ist mein Eigentum!“ „Diese Pflanzen gehören nicht in diese Stadt!“. Aber jetzt, wo niemand mehr auf der Erde lebt außer der Erde selbst und die Grenzen von niemandem wahrgenommen werden und die Tiere und Pflanzen einfach hin und her springen zwischen den Grenzen, frage ich dich jetzt, Ivy. In wie fern interessiert es das Universum, was die Menschen als ihr Eigentum betrachten? Ich will dir damit folgendes sagen. So etwas Abstraktes, wie nationale Grenzen oder Eigentum existiert nur in ihren beschränkten menschlichen Gehirnen. Und genau diese beschränkte Denkweise ist die Blockade ihrer geistigen Entwicklung. Landeigentum und Nationen sind Fantasien, an denen sie so stark festhalten, dass sie sich deswegen gegenseitig bekriegen. Der Mensch scheint das einzige Lebewesen zu sein, dass sich selbst Grenzen setzt, nur um seine eigene Unfähigkeit zu fördern. Das ist so erbärmlich. Wenn du mich fragst, hatte Ilmatar jeden Grund uns fertig zu machen und uns unsere Heimat zu nehmen. Dummheit muss bestraft werden. Der Mensch ist eine Plage, die dringend beseitigt werden muss.«
Ivy schreckt auf, als sie den letzten Satz gehört hat. Adam versucht sie mit einem zusätzlichem Kommentar zu beruhigen und fügt hinzu »Oder zumindest die dumme menschliche Denkweise.«.
Adam hebt den Nudeltopf auf und redet weiter »Dir ist schon klar, dass du und deine Kinder als Sklaven enden werden, wenn mein Vater das mit dir durchzieht. Du bist zu so viel mehr fähig. Wirf das nicht einfach weg, Ivy! Du unterschätzt dich bloß.«.
Ivy senkt den Kopf und erwidert »Das ist aber auch meine Entscheidung.«.
Adam hebt erschrocken den Kopf und sagt dazu »Willst du etwa wirklich ne Familie gründen? Vergiss nicht! So eine Entscheidung ist endgültig. So was probiert man nicht einfach aus. Das entscheidet man und muss mit den Konsequenzen leben.«.
»Würdest du den Respekt vor mir verlieren?«
Adam schweigt und wendet sich mit gesenktem Kopf den Nudeln zu.
»Sag was, Adam!« fordert Ivy auf.
»Ich würde meinen Respekt vor dir verlieren, wenn du deine Entscheidung bereust, weil ich dann sehe, wie naiv und dumm du handelst, aber nicht wenn du deine eigene Entscheidung triffst. Aber wehe es ist nicht deine.«
Ivy zieht mit glänzenden Augen ein Lächeln der Zufriedenheit. Dabei schweigt sie und geht mit leisen Schritten auf das Keyboard zu, streift mit ihren Fingerspitzen sanft über die Kanten des Instruments und fragt »Wollten wir nicht spielen?«.
Adam schleudert mit gelassener und geschmeidiger Wurftechnik den leeren Topf durch das halbe Wohnzimmer und verfehlt nur knapp das Waschbecken der Kochnische, in der er landen sollte. Stattdessen knallt der Topf gegen die Kante des Waschbeckens und hinterlässt dort eine dicke Delle, bevor er auf den Boden knallt und dort eine Soßensauerei und eine zersprungene Bodenkachel hinterlässt. Während Ivy zuerst das verschätzte Kunststück ansieht, blickt sie im selben Moment zurück zu Adam mit zornigem Blick und schreit »ADAM!!!«, denn sie hat die Küche erst gestern aufgeräumt und geputzt.
Aber Adam lächelt Ivy nur süß an und antwortet »Ich dachte schon, du fragst nie.«.
Adam geht auf das Keyboard zu und klimpert gleich eine hübsche Melodie auf die Tasten. Die Tasten sind übrigens Touchscreen-Oberflächen und das Gerät steht auf einem Gestell mit kleinen Rädern. Ivy schließt sich der Melodie an und spielt ebenfalls etwas Passendes zur Anfangsmelodie. Beide, Adam und Ivy, haben mehrere verschiedene Sequenzen komponiert und geübt, die sie verwenden, um sie in einem Stück spontan zu rekombinieren und ein völlig neues Lied zu spielen. Eigentlich ist es eher wie eine Unterhaltung, die die beiden führen, völlig ohne Worte. Wenn die beiden in ihrer Geheimsprache kommunizieren, ist es als leben beide in einer Welt ohne Flüche und ohne Vorurteile. In ihrer Unterhaltung streiten sich beide um die kaputte Kochnische und Adam versucht sich zu entschuldigen. Aber wenn man zuhört, merkt man nichts davon. Man hört nur Musik (Burton et al. 2004). Adam und Ivy haben einen Weg gefunden, aus einem Streit Harmonie werden zu lassen. Denn genau das ist es, was der Rest ihrer Gesellschaft nicht hat: Harmonie. Und kurzerhand später verwandelt sich dieser Streit in einen Strudel aus positiven Gedanken, die in Klänge, Töne und Rhythmen transmutieren. In diesem Moment ist alles gut und alles ist schön. Ihre Frequenzen harmonieren miteinander und umarmen sich, werden zu einem Lied, einem Orchester, einem Konzert. Ihre Klänge verschlingen sich, ihre Rhythmen zelebrieren. Es ist, als vollführen beide Künstler einen musikalischen Geschlechtsakt. Und tatsächlich bewirkt das Spiel sogar Erregung und Stimulanz. Ihr Blutdruck erhöht sich, ihre Herzrhythmen passen sich dem musikalischen Hintergrund an, als wollen sie damit verschmelzen und genau das tun sie auch kurz bevor beide zum Höhepunkt kommen. Aber nur Ivy erreicht ihren Höhepunkt und spielt bereits das hohe G. Adam verkneift es sich und spielt wieder tiefere Oktaven, um noch einen Refrain hinzubekommen. Ivy spielt noch die hohen Töne, lässt sich aber von Adam dann doch noch zu einer weiteren Melodie verleiten. Ihre Hände kreuzen sich auf der Tastenoberfläche. Bei diesem Durcheinander sollte man meinen, dass es nun zu chaotischen Tönen kommen sollte, aber Ivy und Adam machen das hier nicht zum ersten Mal. Bei ihrem ersten Mal waren sie total ungeschickt und wussten gar nicht, wo oben und wo unten ist. Und Adam hat ständig die falschen Töne getroffen, so dass es nie zu einem hohen G kam. Aber nun lässt er sie immer und immer wieder das G spielen. Manchmal bis zu acht Mal am Stück. Ivy versucht inzwischen Adam dazu zu verleiten, die höheren Oktaven zu spielen, während sich ihre Arme immer weiter überkreuzen und verknoten. Sie zieht Adam immer weiter nach oben und Adam lässt sich ein kleines Stück weiter zu den hohen Oktaven treiben. Nach einem ausgiebigem Vorspiel und einem halbstündigen Spiel erreichen nun beide das hohe G, um ihr Endstück zu vollbringen, und lassen ihre Töne in einem Strom gleißenden Schalls über ihre Ohren ergießen. Adam stimuliert zum großen Ende mit Zeige- und Mittelfinger die zwei höchsten Töne und klimpert mit den Fingern hin und her, um aus Ivy die besten Töne heraus zu fingern und zu kitzeln. Sie kann es nicht zurückhalten und spielt die höchsten und besten Töne. Während aus Adam nun auch die letzten Tropfen Musik tropfen, werden seine Rhythmen langsamer und seine Klänge tiefer, während Ivy immer noch ruckartig mit den Fingern zuckt, um Adams pulsierende Rhythmen zu genießen, die sie an den empfindlichsten Stellen ihres Inneren spürt und die Adam erbarmungslos in sie hineinpochen lässt. Seine letzten Amplituden sind heftig, aber dennoch geschmeidig und Ivy genießt jede einzelne Zehntelsekunde davon. Dann hören beide schlagartig auf. Das Spiel ist vorbei und beide haben nach 34 Minuten keine Kraft mehr in ihren Fingern, um weiter zu machen. Ihre Herzen schlagen immer noch und zwar vollkommen synchron zu ihrer gespielten Melodie und zu einander. Adam entfernt sich vom Keyboard und Ivy folgt ihm zur Couch, wo sich beide erschöpft hinsetzen. Ivy greift sich Adams Hand und er nach seiner Zigarettenschachtel in seiner Hosentasche. Er holt sich einen Glimmstängel raus und zündet sie sich an, während Ivy schwer atmend seine Hand festhält und drückt. Sie kann immer noch Adams Melodie in sich spüren, wie sie sich in ihren Bauch zwängt.
Adam nimmt erst einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und sagt dann mit erweiterten Pupillen zu Ivy blickend »Puuuh!!! Nicht schlecht! Das soll uns erst mal einer nachmachen.«.
Abb. 10: Musikalische Sprache trotzt den Barrieren jeder Logik.
2
Zur gleichen Zeit sind Maria, ihr Team und die Überlebenden des Matrixangriffes zur Kuppel zurückgekehrt. Der Sergeant und Privat Winchester besuchen die Familien ihrer gefallenen Kollegen und sagen ihnen, dass sie nicht mehr zurückkehren werden. Noah ist nach Hause gegangen, um seine verletzte Schulter selbst zu behandeln. Sie ist schlimm, aber der Doktor ist stur wie ein Esel. Währenddessen begleitet Maria Luke Colt zum Quartier seines Bruders Vergil. Sie hat es ihm bereits auf dem Rückweg zur Kuppel mitgeteilt. Die schlimme Nachricht, die niemand verkünden will. Maria packt Vergils Habe in eine Kiste, die unaufgeräumt auf seinem Bett liegt. Maria verspürt ein Gefühl von Wut und Verzweiflung, lässt diese Gefühle in ihr aber nicht machen, was sie wollen. Sie unterdrückt ihre Gefühle. Da erblickt sie das Buch mit dem Titel „Berge des Wahnsinns“.
Es ist das Buch, das Vergil erwähnt hat und sagt »Pah, du hast das noch nicht mal zu Ende gelesen, du verdammter Schwachkopf!«.
Luke nimmt das Buch vorsichtig in seine Hand und überreicht es Maria, während er sagt »Dann sollten Sie das für ihn übernehmen.«.
Er sieht ihr dabei lächelnd ins Gesicht und sie in sein vollbärtiges faltiges. Er ist älter als Vergil und sieht dementsprechend reifer und erfahrener aus. Sein Bart ist unten gerade geschnitten und gepflegt. Auf dem Nasenbein und an der linken Schläfe trägt er jeweils eine dicke Quernarbe. Eine dicke pummelige Nase lässt ihn sehr sympathisch wirken.
Maria nimmt ihm zögernd das Buch ab und als ihre Hände leicht anfangen zu zittern, fragt sie ihn »Sie wirken gar nicht aufgewühlt, Colt.«.
Luke hebt ablehnend die Handflächen in ihre Richtung und antwortet »Bitte! Nennen Sie mich Luke.«.
Während Maria weiter auf das Buch starrt, fügt Luke hinzu »Ich bin nicht so religiös wie die Anderen. Wissen Sie? Trotzdem glaube ich an einen Gott und an ein Leben nach dem Tod. Ich betrachte Gott als die Ursache für Existenz und, dass diese Ursache nicht unbegründet ist. Deswegen glaube ich auch nicht, dass mein Bruder gestorben ist, ohne etwas bewirkt zu haben. Seine Existenz war bestimmt nicht sinnlos. Dafür war er nicht untätig genug. Und dafür bin ich Gott sehr dankbar. Und wenn wir schon bei dem Thema sind, könnten Sie mir ja sagen, wofür er gestorben ist.«.
Maria drückt das Buch fest in ihrer Hand und antwortet »Dein Bruder starb... für etwas, das mein Bruder haben wollte.«.
Luke lächelt Maria mit weiten Mundwinkeln an und fragt »Und unterliegt das der Geheimhaltung?«.
»Ist das wichtig?«
»Nein, die Details sind nicht wichtig.«
»Mein Bruder könnte damit ein großes Problem lösen... oder ein noch Schlimmeres verursachen. Ich weiß das nicht, weil ich nicht in seinen verdammten Kopf schauen kann. Ich glaube auch nicht, dass ihm klar ist, dass Menschen für diese Sache sterben oder dass es für ihn eine Rolle spielt. Mein Bruder ist kaltblütig und undankbar. Zumindest glaube ich das manchmal. Ob dein Bruder für eine bedeutungsvolle oder bedeutungslose Sache gestorben ist, kann ich also nicht mit Sicherheit sagen.«
Luke packt ihr sanft mit der Hand auf ihre Schulter und sagt mit weit geöffneten Augen »Dann sorgen Sie dafür, dass er nicht bedeutungslos gestorben ist! Anstatt ihrem Bruder zu misstrauen oder ihn zu ignorieren, sollten Sie mit ihm zusammenarbeiten und eine Verbindung zu ihm aufbauen. Wenn Sie keine Verbindung zu Ihrem Bruder haben und ihn nicht einschätzen können, dann machen Sie als Schwester etwas gewaltig falsch. Vergil hat mir nie erzählt, was für ein komisches Zeug er liest, aber ich habe es schon irgendwie geahnt. Und als er der Interstellar Force beigetreten ist, wusste ich, dass er das nur macht, um besser auf mich aufzupassen, weil ich mich für den Außendienst freiwillig gemeldet habe.«.
Luke senkt den Kopf seitlich nach unten, seufzt und setzt seine Anekdote fort »Rückblickend betrachtet bin ich wohl für seinen Tod verantwortlich, aber wenn ich mir überlege, wie vielen Menschen ich und mein Bruder während unserer Dienstzeit das Leben gerettet haben, würde ich sagen...« nun blickt er wieder Maria tief in die Augen und setzt fort »Es ist egal, ob wir sinnlos sterben, so lange wir nicht sinnlos gelebt haben. Und ich denke, dass können Sie als sein Vorgesetzter am besten beurteilen. Das dürfen Sie nie vergessen, Miss Steinberg!«.
Maria kann zwei Tränen nicht davon abhalten, auf das Cover des Buches zu tropfen. Sie seufzt kurz und drückt das Buch fest an ihre Brust.
»Na, na! Der Major wird doch jetzt nicht wohl in Tränen ausbrechen!?« sagt Luke mit lächelndem und aufmunterndem Gesicht und packt mit der anderen Hand auch noch Marias andere Schulter.
Sie beißt sich auf die Unterlippe während sie noch ein paar letzte Seufzer von sich gibt und sagt »Er war ein guter Kerl. Viel zu gutmütig fürs Militär. Dieser Narr hatte da gar nichts zu suchen. Das letzte, was er vor seinem Tod gefühlt hat, war Schuld. Das hat er nicht verdient. Aber nein, er hat nicht umsonst gelebt. Niemals! Und ja, ich werde dafür sorgen, dass sein Tod auch nicht umsonst war.«.
Luke kann nicht anders, als sie väterlich zu umarmen und mit einem Kopfstreicheln zu trösten.
»Warum sind Sie eigentlich dem Militär beigetreten, Miss Steinberg?« fragt er sie.
Sie löst sich von seiner Umarmung, doch ihre Schultern hält er immer noch fest.
»Ich bin der Interstellar Force beigetreten, um meine Familie zu beschützen.« antwortet sie, während sie sich die letzten Tränen vom Gesicht wischt und lächelt »Und nenn mich Maria!«.
3
Nach dem emotionalen Gespräch will Maria Dr. Noah besuchen, um nach ihm und seiner Verletzung zu sehen. Schlitzi, die Stealth-Drohne, wurde vom Sergeant höchstpersönlich im Lagerraum der Militärbasis unter der Aufsicht von vier Wachleuten untergebracht. Maria steht nachts vor der Haustür von Doktor Noah und klopft an.
»Doktor Noah!« ruft sie.
»Doktor Noah, sie sollten mit der Verletzung besser in die sanitäre Einrichtung!«
Rückblickend betrachtet war es eine dumme Idee, Noah nach dem Feindkontakt überhaupt alleine nach Hause gehen zu lassen, aber es waren nach der Ankunft alle so aufgewühlt. Noah geht nicht an die Tür. Er gibt keine Antwort. Maria überprüft die Tür und stellt fest, dass sie nicht zugeschlossen ist. Sie geht rein.
»Dr. Noah?« ruft sie immer wieder.
Das Licht am Eingangsbereich brennt, die anderen Zimmer stehen offen und das Licht ist dort aus. Sie nähert sich dem Wohnzimmer und schaltet das Licht ein. Sie sieht einige umgeworfene Stühle um den Esstisch in der Mitte des Zimmers auf einem scharlachroten Teppich. Sie sieht sich um. Der Fernseher ist ebenfalls umgeworfen. Eine Blutspur ist auf dem Boden zu sehen und führt an der Kochnische des Wohnzimmers vorbei ins nächste dunkle Zimmer. Sie ahnt Schlimmes und eilt in das Zimmer, um nach Noah zu sehen. Sie schaltet auch dort das Licht an, aber es geht nicht. Der Lichtschalter ist kaputt, als hätte jemand mit einem Vorschlaghammer dagegen gehauen. Dann hört sie ein dumpfes Stöhnen aus der Richtung eines der Zimmerecken.
»Dr. Noah?« flüstert sie.
Zwischen der Wand und einem Schranktisch sitzt eine in sich zusammengekauerte Gestalt in der dunklen Ecke, die durch die Dunkelheit nur schlecht zu erkennen ist.
»Dr. Noah, was ist mit Ihnen?« fragt sie ihn. »Ich bringe Sie besser ins Krankenhaus, Dr. Noah.« sagt sie und nähert sich der Gestalt.
Dann regt sich die Gestalt und erhebt sich. Maria wird gerade ganz unwohl, als sie erkennt, dass diese Gestalt über zwei Meter hoch ist und nicht die Silhouetten eines Menschen aufweist. Die Umrisse sind wirr und chaotisch, als ob sie wuchern. Sie erkennt auch, dass die Gestalt pulsierende Bewegungen erzeugt, wie eine Herzpumpe. Maria ist starr vor Schock und schluckt erst mal tief. Dann bewegt sich die Gestalt auf sie zu und Maria greift reflexartig nach ihrer vollautomatischen Handfeuerwaffe in ihrem Pistolengurt. Als sie die Waffe auf das Ding richtet, läuft das wuchernde Ding auf das Licht zu, das aus dem Wohnzimmer an Marias Körper vorbei ins dunkle Zimmer hinein scheint, und gibt sich zu erkennen. Ein grauenvoller Anblick ergibt sich Maria, als sie eine fleischige wuchernde Masse in den Klamotten von Dr. Noah erblickt, die auf sie zuläuft. Sie erkennt eine Art Kopf, die aus einem geschwollenen Stiernacken mit unzähligen Geschwüren an der glitschigen faltigen Haut wächst. Das Gesicht von Dr. Noah starrt aus diesem Kopf in Marias Richtung und gibt ein stöhnendes wehklagendes »MA-RI-Aaaaaaahhh!!!« von sich, als es plötzlich die Augen verdreht und die Schädeldecke spaltet, woraus ein mit Tentakel besetztes Riesengehirn herausquillt. Der Arm und die Hand mit samt den Fingern des Mannes ähneln eher dem verschrumpeltem Ast eines Horrorfilmbaumes, zumindest der Linke. Der Rechte pulsiert eher und weist ebenfalls viele kleine Geschwüre und pochende Riesenadern auf. Maria bekommt vor Schreck keinen Ton raus und schießt mit zitternder Hand auf das Ding. Weniger zur Erlösung des Mannes, der noch in diesem ekelhaften wabernden Kloß steckt und leidet, sondern eher, um das eigene Leben zu verteidigen, weil sie unterbewusst vermutet, dass Noah etwas Ansteckendes haben könnte. Sie schießt in Kürze das ganze Magazin leer. Jeder Schuss sitzt, aber bewirkt außer ein paar blutigen und eiternden Einschusslöcher überhaupt nichts. Die Tentakel reagieren auf ihren Angriff und schlagen ihr die Pistole aus der Hand. Das Noahding beschleunigt sich, als wolle es sich Maria schnappen. Sie rennt fluchtartig zur Zimmertür hinaus und schmeißt sie zu. Nur die Tentakel klemmen sich dazwischen und versuchen nach Maria zu greifen. Einer der Tentakel grabscht ihr sogar über den Kopf. Maria kreischt vor lauter Panik. Tunnelblick-Marie existiert gerade nicht mehr. So einen Horror hat selbst sie bisher noch nicht erlebt. Jetzt existiert nur noch Angstschweiß-Marie. Maria drückt so fest es geht die Tür zu und schafft es, die Tentakel zwischen dem Türrahmen einzuquetschen, so dass Blut spritzt. Dann hört sie, wie der Türriegel einrastet. Sie ist zu und Maria stößt sich von der Tür weg. Sie verliert dabei ungewollt das Gleichgewicht und landet auf den Arschbacken und ihren Handflächen. Das Noahding rammt einmal ganz fest gegen die Tür und schafft es sie fast zu durchbrechen. Splitter und Risse ragen aus der Holztür heraus. Noah hat eine Holztür. Er muss echt reich sein. Aber das spielt gerade keine Rolle für Angstschweiß-Marie. Sie steht auf und rennt so schnell es geht zur Wohnzimmertür. Da kracht das Noahding endgültig durch die Tür und Maria weiter hinterher. Maria schnappt sich ihren waffenfähigen Schweißbrenner aus ihrer Hosentasche. Aber ihn einzusetzen würde bedeuten, sie müsste sich zu dem Ding umdrehen... und stehenbleiben. Aber das Noahding ist schneller als sie. Das kann sie hören. Ihr bleibt keine Wahl. Bereits im Eingangsflur wendet sie sich mit vorgehaltenem Schweißbrenner zum Noahding um und richtet den Brenner direkt in seine Richtung und zündet die Waffe. Eine schnurgerade Stichflamme schießt hervor und lässt das Noahding in einen Anzug aus Feuer tauchen. Das eklige Ding brüllt, grunzt und kreischt wie eine Furie, die gerade tausend Tode stirbt. Dann schnellt plötzlich ein fetter und faltiger Tentakel aus dem Mund des brennenden Noahdings hervor und umschlingt Marias Bein. Es bringt sie zum Sturz und zieht sie in seine Richtung. Der Mund reißt an den Mundwinkeln auf immer weiter über den halben tumorhaften Stiernackentorso und offenbart ein noch größeres mit rasiermesserscharfen Zähnen bewehrtes Maul, das bereit ist, Maria in einen brennenden Schlund zu ziehen. Maria kämpft dagegen an und muss an ihre toten Kameraden denken, denen sie noch was schuldig ist. Sie kann noch nicht sterben. Nicht jetzt und erst recht nicht so. Maria greift in den Laminatboden des Flurs und drückt ihre Fingernägel hinein. Sie wird trotzdem weiter hinein gezogen und kratzt sich obendrein noch die Fingernägel am Laminat blutig. Dann hebt sie das andere Bein hoch und rammt mit aller Wucht mit der Hacke ihres Stiefels den Tentakel gegen den Laminatboden. Blut und Eiter triefen heraus. Der Tentakel lässt leicht locker und Maria gelingt es, sich aus seinem Griff zu befreien. Unbeholfen versucht sie aufzustehen, rutscht aber immer wieder am Schleim des Tentakels aus. Das Ding läuft brennend weiter auf sie zu und sie versucht immer wieder aufzustehen. Aber sie ist zu hastig und fällt immer wieder auf alle Viere. Dann muss sie eben aus der Wohnung raus kriechen. Das Ding hat sie bereits eingeholt, aber läuft an ihr vorbei, weil es förmlich blind geworden ist durch das ganze Feuer. Maria bleibt am Boden und versucht, unauffällig zu sein, während das Noahding unkoordiniert weiter und mehrmals unbeholfen gegen die Flurwände läuft. Maria kann schließlich beobachten, wie das Noahding durch das Feuer kurz vor der Eingangstür zu Boden sackt und zu Grunde geht. Maria setzt sich hin und lehnt ihren Rücken gegen die Wand des Korridors. Mit Tränen im Gesicht und Schockfrost im Blut sieht sie, wie das Ding verbrennt. Dann richtet sie sich auf und geht ins nächste Zimmer, um dort durchs Fenster zu steigen. Denn in einem brennenden Haus sollte niemand lange sitzen bleiben. Und ein blutrünstiges Monster, das brennt, will niemand löschen. Maria hat überlebt.
Abb. 11: Ein wucherndes Chaos bricht in jedem von uns aus. Sowohl im Geist wie auch im Fleisch.