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Kapitel 1
Das Aushöhlungssyndrom
ОглавлениеAls die Bewohner eines Apartmenthauses in Florida aufwachten, erwartete sie vor ihren Fenstern ein erschreckender Anblick: Der Boden vor ihrem Gebäude war buchstäblich eingebrochen; zurückgeblieben war ein riesiger Krater. In diesen sich ständig erweiternden Abgrund stürzten Autos, Straßenbelag, Bürgersteige, Gartenmöbel. Und offensichtlich war das Gebäude selbst als Nächstes an der Reihe.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass solche Aushöhlungen zum Beispiel dann entstehen, wenn unterirdische Strömungen während Dürrezeiten versiegen und so dem Boden seinen darunterliegenden Halt entziehen. Plötzlich wird alles zum Einsturz gebracht, und man bekommt eine erschreckende Ahnung davon, dass man auf nichts bauen kann – nicht einmal auf den Boden, auf dem man steht.
Es gibt eine beachtliche Anzahl von Menschen, deren Leben an eine solche Aushöhlung wie die in Florida erinnert. Vermutlich kommt es vielen von uns hin und wieder so vor, als würden wir uns auf dem wegsackenden Rand eines Kraters befinden. Wir empfinden eine lähmende Müdigkeit, erleben Scheitern oder Versagen oder machen die bittere Erfahrung, dass wir Ziele oder Absichten nicht realisieren können, und merken, wie etwas in uns nachgibt. So als ob wir kurz vor einem Zusammenbruch stünden, der unsere gesamte Welt in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen droht. Manchmal scheinen wir auch nur wenig tun zu können, um einen solchen Zusammenbruch zu verhindern. Was machen wir nur falsch?
Wenn wir einmal länger darüber nachdenken, werden wir die Existenz eines inneren Raumes – unserer Innenwelt – entdecken, den wir vorher nicht wahrgenommen hatten. Ich hoffe, dass Folgendes deutlich werden wird: Wenn wir unser Innenleben vernachlässigen, wird es dem Gewicht der Ereignisse und Spannungen nicht auf Dauer standhalten können, die sich zwangsläufig einstellen.
Manche Menschen sind überrascht und verstört, wenn sie zu dieser Selbsterkenntnis gelangen. Plötzlich entdecken sie, dass sie den Großteil ihrer Zeit und Energie auf ihr sichtbares Leben, auf die Oberfläche, verwendet haben. Sie haben viele gute und vielleicht sogar außerordentliche Errungenschaften angehäuft, wie beispielsweise akademische Grade, berufliche Erfahrungen, einflussreiche Beziehungen, körperliche Kraft oder Schönheit.
Daran ist auch per se nichts Schlechtes. Aber oft entdecken wir beinahe zu spät, dass unsere verborgene Welt geschwächt oder aus den Fugen geraten ist. Und dieser Punkt schafft beste Voraussetzungen für das „Aushöhlungssyndrom“.
Wir müssen lernen, dass wir in zwei völlig verschiedenartigen Welten leben. Der Umgang mit unserer äußeren, öffentlichen Welt ist dabei einfacher, denn sie ist leichter messbar, sichtbar, ausbaufähig. Unsere äußere Welt besteht aus Arbeit, Besitztümern, Sport und Spaß und vielen Bekanntschaften, die unser soziales Netzwerk bilden. Diesen Teil unserer Existenz kann man am leichtesten mit Begriffen wie Erfolg, Popularität, Besitz und Schönheit klassifizieren. Unsere innere Welt dagegen ist eher geistiger Natur. In seinem Zentrum werden Maßstäbe und Werte festgelegt, hier können Überlegungen in der Stille reifen. Es ist ein Ort der Anbetung und des Bekennens, ein einsamer Raum, in den die moralische und geistliche Verschmutzung der Zeit nicht eindringen darf.
Den meisten unter uns wird beigebracht, wie wir aus unserem äußerlichen Leben etwas machen. Natürlich wird es immer den Kollegen geben, der sich von anderen nichts sagen lässt, den unorganisierten Heimwerker oder die Person, die so unreif ist, dass sie allen in ihrem Umfeld zur Last fällt. Aber die meisten von uns haben gelernt, Anweisungen entgegenzunehmen, Arbeitspläne aufzustellen und Anordnungen zu erteilen. Wenn es um Arbeit und Beziehungen geht, wissen wir, welche Struktur uns am meisten liegt, wie wir hier am besten vorgehen. Wir treffen Entscheidungen hinsichtlich Unterhaltung und Freizeit. Wir besitzen die Fähigkeit, Freunde zu finden und Beziehungen zu pflegen.
Die sichtbaren Bereiche unseres Lebens stellen unendlich viele Anforderungen an unsere Zeit, unsere Loyalitäten, unsere Finanzen und unsere Energie. Und weil unsere äußerliche Welt so sichtbar, so real ist, müssen wir darum kämpfen, all ihren Verführungen und Anforderungen aus dem Weg zu gehen. Sie schreit geradezu nach unserer Aufmerksamkeit und danach, dass wir aktiv werden.
Aber es gibt in jedem von uns eben auch die verborgene Welt. Eine Welt, die möglicherweise so unendlich groß ist, wie es unsere äußere Welt zu sein scheint. Aber sehr häufig bleibt die verborgene Welt – wie die Tiefen des Ozeans – unerforscht, voller Überraschungen, Emotionen und Träume.
In einer der letzten Staffeln der beliebten TV-Serie Survivor sprach Gerry, eine der Finalistinnen, über den Druck, der auf ihr lastete, als sie sich darum bemühte, nicht durch das Publikumsvoting von der Insel und somit aus dem Spiel zu fliegen. Auf die Frage, ob sie auf der Jagd nach dem Preisgeld irgendwelche neuen Seiten an sich entdeckt habe, die sie selbst überraschten, antwortete sie: „Soll ich ehrlich sein? Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, dass es so hart werden würde. Ich wachte morgens auf und fragte mich dann den ganzen Tag über, wer ich eigentlich sei. Durch Frustration, Hunger und … Stress kamen manchmal Dinge aus meinem Mund, die ich am liebsten gleich wieder zurückgenommen hätte, denn unter normalen Umständen hätte ich solche Dinge niemals gesagt (oder getan) … Also, ja, ich war teilweise sehr überrascht über mich selbst.“
Gerry beschreibt zwar das Leben in einer künstlichen (TV-)Welt; dennoch sind ihre Worte auch die von jemandem, der auf der Überholspur unterwegs ist. Und sobald das Leben etwas turbulenter wird, ist sie verwundert, Charakterzüge an sich zu entdecken, die sie doch eigentlich nie besitzen wollte.
In einer realen Welt, die der von Gerry ähnelt, erliegt man leicht der Versuchung, die Existenz einer eigenen verborgenen Welt zu ignorieren, denn diese macht nicht allzu lautstark auf sich aufmerksam, wenn man ihr keine Beachtung schenkt. Tatsächlich kann sie über lange Zeit ignoriert werden, bevor sie sogartig einbricht.
Der irische Schriftsteller und Dramatiker Oscar Wilde widmete seiner verborgenen Welt nur spärliche Aufmerksamkeit. William Barclay zitiert Wildes Bekenntnis:
Die Götter hatten mir fast alles geschenkt. Ich aber ließ mich in lange Perioden sinnlosen Leichtsinns locken … Der Höhenflüge müde geworden, ließ ich mich absichtlich in die Tiefen gleiten, auf der Suche nach neuen Empfindungen. Was mir in der gedanklichen Sphäre das Paradoxe bedeutete, wurde mir in der leidenschaftlichen Sphäre die Perversion. Das Leben anderer kümmerte mich immer weniger. Ich ließ kein Vergnügen aus und lebte in den Tag hinein. Dabei vergaß ich, dass jede kleine Handlung im Alltag den Charakter formt oder zerstört; was man einmal im verborgenen Raum getan hat, wird man eines Tages laut von den Dächern schreien müssen. Ich war nicht länger Herr über mich selbst. Ich war nicht mehr Kapitän meiner Seele, doch ich merkte es nicht. Ich erlaubte dem Vergnügen, über mich zu herrschen. Ich endete in fürchterlicher Schmach und Schande.1
Wenn Wilde schreibt: „Ich war nicht mehr Kapitän meiner Seele“, so schildert er eine Person, deren verborgene Welt in die Brüche gegangen ist und deren Leben in sich zusammenstürzt. Auch wenn seine Worte ein großes persönliches Drama beschreiben, könnten doch viele Menschen Ähnliches von sich sagen – diejenigen, die wie er ihre verborgene Welt ignoriert haben.
Ich glaube, dass die Innenwelt des einzelnen Menschen eines der großen Schlachtfelder unserer Zeit ist. Dort findet ein Kampf statt, der insbesondere von denen ausgefochten werden muss, die sich Christen nennen. Unter ihnen sind Menschen, die hart arbeiten, die zu Hause, bei der Arbeit und in der Kirchengemeinde enorme Verantwortung auf ihre Schultern laden. Es sind gute Menschen, aber sie sind sehr, sehr müde! Und so befinden sie sich häufig am Rande eines erosionsartigen Einbruchs. Warum? Aus folgendem Grund: Obwohl ihre Aktivitäten nichts mit denen von Oscar Wilde gemein haben, orientieren sie sich, genauso wie er, viel zu sehr nach außen und ignorieren die persönliche Seite, bis es beinahe zu spät ist.
Wayne Muller schreibt:
Je beschäftigter wir sind, desto bedeutender kommen wir uns selbst und, wie wir glauben, auch den anderen vor. Für unsere Freunde und unsere Familie nicht mehr da zu sein, keine Zeit mehr zu haben, um einen Sonnenuntergang zu genießen (oder nicht einmal mehr zu realisieren, dass die Sonne bereits untergegangen ist), eine Verpflichtung nach der anderen abzuarbeiten, ohne sich die Zeit zu nehmen, ein einziges Mal tief durchzuatmen – das alles ist für uns der Inbegriff eines erfolgreichen Lebens.2
Die Wertmaßstäbe der westlichen Welt haben dazu beigetragen, dass wir uns dessen gar nicht bewusst sind. Wir glauben ganz naiv, dass die Menschen, die sich für alle sichtbar am meisten engagieren, auch das geistlichste Seelenleben hätten. Wir denken: Je größer die Gemeinde, desto größer der himmlische Segen. Je mehr Bibelkenntnis ein Mensch besitzt, desto näher müsse er wohl Gott sein.
Deshalb ist die Versuchung groß, unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit auf unser äußerliches Leben zu richten, was aber auf Kosten unseres Innenlebens geht. Mehr Dienstbereiche, mehr Veranstaltungen, mehr Lernerfahrungen, mehr Beziehungen, mehr Geschäftigkeit – bis all das, was an der Oberfläche unseres Lebens ist, ein solches Gewicht bekommt, dass die ganze Sache in sich zusammenzustürzen droht. Erschöpfung, Enttäuschung, Versagen, Niederlagen sind dann die erschreckenden Konsequenzen. Die vernachlässigte verborgene Welt kann dem Druck des Gewichts nicht länger standhalten.
Ich unterhielt mich einmal mit einem Mann, der bereits seit einigen Jahren Christ war. Im Laufe unseres Gespräches stellte ich ihm eine der typischen Fragen, die Christen einander eigentlich stellen sollten, bei denen man sich aber immer etwas dumm vorkommt.
Ich sagte: „Erzählen Sie mir doch mal, wie es Ihnen geistlich so geht.“
Und er antwortete: „Das ist eine interessante Frage! Was kann man da wohl antworten? Ach, mir geht’s, glaub ich, ganz gut. Ich würde gern sagen, dass ich die Beziehung zu Gott immer weiter vertiefe oder dass ich das Gefühl habe, ihm immer näher zu sein. Aber die Wahrheit ist, dass ich keinen Meter weiterkomme.“
Er vermittelte den Eindruck, als wollte er dieser Sache nachgehen, also hakte ich nach: „Nehmen Sie sich regelmäßig Zeit dafür, Ihr Innenleben zu ordnen?“
Fragend blickte er mich an. Hätte ich ihn gefragt: „Wie steht es mit Ihrer Stillen Zeit?“, hätte er problemlos antworten können. Das wäre messbar gewesen, er hätte mit Begriffen wie Tage, Stunden und Minuten, Methoden und Techniken antworten können. Aber ich hatte ihn nach der Ordnung seiner Innenwelt gefragt. Das Schlüsselwort war Ordnung, ein Begriff, bei dem nach Qualität, nicht nach Quantität gefragt wird. Als er das merkte, wurde ihm unbehaglich zumute.
„Wie kann man je sein Innenleben in Ordnung bringen?“, fragte er. „Bei mir hat sich bereits so viel Arbeit angehäuft, dass ich bis zum Jahresende zu tun habe. In dieser Woche ist jeder Abend verplant. Meine Frau drängt mich dauernd, ich solle eine Woche Urlaub nehmen. Das Haus muss gestrichen werden. Also, wie man’s auch dreht und wendet, es bleibt mir nicht gerade viel Zeit, um über die Ordnung meines Innenlebens nachzudenken.“
Er hielt einen Moment inne und fragte dann: „Was heißt eigentlich ‚Innenleben‘?“
Damit waren wir am Kern angekommen. Hier stand ein Jesus-Nachfolger vor mir, der sich seit Jahren in christlichen Kreisen bewegt hatte; der den Ruf hatte, Christ zu sein, weil er christliche Dinge tat, der aber nicht wusste, dass es außerhalb all dieser gut gemeinten Betriebsamkeit noch etwas Beständiges, Verlässliches geben muss. Dass er sich für zu beschäftigt hielt, um sein Innenleben zu pflegen, und unsicher war, was „Innenleben“ eigentlich bedeutete, zeigte mir bereits, dass er den zentralen Punkt eines Lebens in Verbundenheit mit Gott verfehlt hatte. Nun hatten wir eine Menge Gesprächsstoff.
Kaum jemand hatte mehr mit dem Druck der Öffentlichkeit zu kämpfen als Anne Morrow Lindbergh, die Frau des berühmten Fliegers. Sie war dennoch sehr darauf bedacht, ihr Innenleben zu pflegen, und schrieb darüber einige aufschlussreiche Dinge in ihrem Buch Muscheln in meiner Hand.
Als Erstes möchte ich … mit mir selbst im Reinen sein. Ich wünsche mir eine Aufrichtigkeit, eine Reinheit in meinen Absichten und einen inneren Kern in meinem Leben, der mich dazu befähigt, all meine Verpflichtungen und Aktivitäten so gut wie möglich zu meistern. Und ich möchte den größtmöglichen Teil meiner Zeit „in Gnade“ verbringen, um es einmal in der Sprache der Heiligen auszudrücken. Ich benutze diesen Begriff nicht im streng theologischen Sinne. Mit Gnade meine ich innere, vor allem geistige Harmonie, aus der dann äußere Harmonie resultieren kann. Vielleicht suche ich dasselbe, was Sokrates im Phaidros erflehte: „Gebt mir schön zu werden im Innern und lasst, was ich außen besitze, dem Innern befreundet sein.“ Ich sehne mich nach einem Zustand innerer geistlicher Gnade, von dem aus ich handeln und geben kann, wie es von Gott her für mich vorgesehen war.3
Auf dem Schreibtisch von Fred Mitchell, ein Leiter der Weltmission, stand folgender Spruch: „Hüte dich vor der geistigen Dürre eines geschäftigen Lebens.“ Auch er war sich bewusst, dass Zusammenbruch das Ergebnis eines missachteten Innenlebens sein konnte.
Die Erosion in Florida ist ein physisches Bild für ein geistliches Problem, mit dem viele Christen in der westlichen Welt fertigwerden müssen. Je höher die Anforderungen des Lebens in den kommenden Jahren sein werden, desto mehr Menschen werden innerlich ausgehöhlt sein – es sei denn, sie schauen nach innen und fragen sich: „Gibt es denn unterhalb dieses äußerlichen Lärmens und Treibens in meinem Leben noch eine verborgene Innenwelt? Einen Bereich, der erforscht und bewahrt werden muss? Kann es mir gelingen, genug Widerstandskraft zu entwickeln und dem Druck der Oberfläche standzuhalten?“
Als John Quincy Adams, der sechste Präsident der Vereinigten Staaten, in Washington vom Heimweh nach seiner in Massachusetts lebenden Familie überwältigt wurde, schrieb er einen Brief an jedes seiner Kinder. Diese waren voll mit Ratschlägen und Ermutigungen. Seiner Tochter schrieb er etwa darüber, ob sie heiraten und welche Art von Mann sie erwählen solle. An seinen Worten kann man ablesen, welches Gewicht er einer geordneten Innenwelt beimaß:
Tochter! Heirate einen Mann, der ehrlich ist, und achte darauf, dass er ehrlich bleibt. Es ist unwichtig, ob er reich ist, Hauptsache, er ist unabhängig. Achte mehr auf die Ehrbarkeit und den moralischen Charakter des Mannes als auf alle anderen Umstände. Denke an keine andere Größe als an die der Seele, an keinen anderen Reichtum als an den des Herzens.4