Читать книгу Durch den Eisernen Vorhang - Gottfried Niedhart - Страница 17
Kommunikative Methoden
ОглавлениеAuch zwei deutscher Politiker brachen im Sommer 1966 zu mehrwöchigen Osteuropareisen auf. Im Unterschied zu de Gaulle verfügten sie als Abgeordnete der oppositionellen SPD über keinerlei Regierungsautorität. Der mindere Status hinderte sie jedoch nicht daran, sich ein eigenes Bild von den Lebensverhältnissen und politischen Stimmungen jenseits des Eisernen Vorhangs zu verschaffen. Privatreisen waren damals eine Seltenheit, mit einem enormen Planungsaufwand und ungewohnten Strapazen verbunden. Hans-Jürgen Wischnewski führte Gespräche in Prag, Warschau und Budapest. Helmut Schmidt, der in Begleitung seiner Familie und eines Mitarbeiters im eigenen Auto unterwegs war, besuchte die Tschechoslowakei und Polen, sein Hauptinteresse jedoch galt der Sowjetunion. Überall traf er auf großes Interesse an Westkontakten, von denen seine Gesprächspartner sich die Behebung von Versorgungsschwierigkeiten und wirtschaftlichen Defiziten versprachen. Auch wenn Schmidt nicht ausdrücklich von einem Ende des Kalten Kriegs sprach, hatte er doch den Eindruck, dass die sowjetische Supermacht ihren Einflussbereich in Europa zwar sichern, aber nicht ausdehnen wollte. Falsche Erwartungen dürfe man daran aber nicht knüpfen. Denn noch fehlten politische und wirtschaftliche Übereinkommen, um die von der Sowjetunion postulierte friedliche Koexistenz zu einer erfahrbaren Wirklichkeit werden zu lassen. Die westliche Sicherheit blieb an die eigene Verteidigungsfähigkeit und die Aufrechterhaltung des militärischen Gleichgewichts gebunden.
Schmidt konnte während dieser Reise in den damals noch weitgehend unbekannten östlichen Teil Europas Eindrücke aus erster Hand sammeln. Politisch ging es darum auszuloten, welche Aussichten eine aktive Ostpolitik hätte, für welche die SPD kurz zuvor auf ihrem Dortmunder Parteitag im Juni 1966 eingetreten war. Schmidt selbst hatte sich dazu im Auftrag des Parteivorstands grundlegend geäußert. Anknüpfen konnte er an die Erfahrungen, die der Parteivorsitzende Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin gemacht hatte. Nachdem der Ostteil der Stadt im August 1961 durch die Mauer abgeschnürt worden war, reagierte Brandt nicht nur mit Empörung und Protest. Inspiriert von Kennedys Beurteilung der Lage trat er für eine Kontaktoffensive ein. Gerade jetzt sei es wichtig, den östlichen Abschottungsmaßnahmen durch Gesprächsangebote entgegenzutreten. Es sei „wünschenswert und nicht aussichtslos, die osteuropäischen Staaten in möglichst zahlreiche Kommunikationen zu verweben“. Auf diese Weise könne man den Ost-West-Konflikt nicht aufheben, ihn aber „transformieren“.3
Kommunikation war der Gegenbegriff zu Abgrenzung und Mauerbau. Sie diente zum einen der Information über die Staaten des Ost- blocks, denn man wollte wissen, „was da vorging“.4 Zum anderen wurde sie als Oberbegriff für verschiedenste Formen des politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder kulturellen Austauschs mit dem Osten gebraucht. „Wir sind für so viel Kontakte wie möglich“, schrieb Brandts Pressesprecher Egon Bahr 1965 an den Intendanten des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, das zu einem Gastspiel nach Ost-Berlin eingeladen worden war.5 Eine aktive Ostpolitik musste sich „kommunikativer Methoden“ bedienen.6 Besuche und persönliche Begegnungen gehörten ebenso dazu wie die Einrichtung von Nachrichtenverbindungen. Beide Seiten sollten das Gespräch darüber suchen, wie sie sich wechselseitig wahrnahmen, und sich über Berührungspunkte und Kooperationsansätze austauschen. Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze sollten kein Hindernis für Kontakte sein. Grundsätzlich wurde angenommen, dass Wandel in den Ost-West-Beziehungen immer nur gradueller Wandel sein konnte.
Ganz konkret bedeutete Kommunikation auch, dass man über seinen Schatten springen und mit der DDR verhandeln musste, die als „Zonenstaat“ weder politisch noch juristisch anerkannt war. Aber wenn man die Mauer als gegeben hinnahm, brächte man ihre Erbauer vielleicht dazu, ein gewisses Maß an Durchlässigkeit zu erlauben. Zu diesem Zweck musste man miteinander reden. Als der West-Berliner Senat davor nicht zurückscheute, stand am Ende – Weihnachten 1963 – ein Passierscheinabkommen. Es ermöglichte vielen West-Berlinern Besuche in Ost-Berlin. Die Mauer öffnete sich nur für kurze Zeit, aber die kommunikative Politik der „kleinen Schritte“ war ein Anfang mit Modellcharakter.7
Wer wissen wollte, von welchen Überlegungen sich der West-Berliner Senat leiten ließ, der konnte eine Grundsatzrede von Brandt zur Hand nehmen. Sie wurde im Juli 1963 in Tutzing am Starnberger See gehalten, wo der Politische Club der Evangelischen Akademie seine jährliche Tagung veranstaltete. Zu seinem zehnjährigen Bestehen fanden sich auf zwölf Tage verteilt zahlreiche Politiker und Journalisten ein, um Fragen der aktuellen Politik zu diskutieren. Brandt sollte zum Thema „Denk ich an Deutschland“ sprechen. Der Abschlussvortrag „Zehn Jahre deutsche Politik“ war Bundeskanzler Adenauer vorbehalten. Brandts Rede wurde in Berlin sorgfältig vorbereitet. Sie verband Kritik an der Politik Adenauers mit eigenen Vorstellungen: „Die deutsche Politik hat ihre Energien in den zurückliegenden Jahren fast ausschließlich nach Westen gerichtet. Auf dieser Basis und in voller Kontinuität wird sie sich künftig stärker um unsere Interessen gegenüber dem Osten kümmern müssen.“ Es gelte, „die Erstarrung der Fronten zwischen Ost und West aufzubrechen“ und sich in die „Strategie des Friedens“ einzuklinken, von der Präsident Kennedy wenige Wochen zuvor in einer großen Rede gesprochen hatte. Nur „mit der Sowjetunion, nicht gegen sie“ könne man einer „Lösung der deutschen Frage“ näherkommen. Darum brauche man „Verbindungen auch zum kommunistischen Osten“, „soviel reale Berührungspunkte und soviel sinnvolle Kommunikationen wie möglich“. Brandt wollte die ost-westliche Sprachlosigkeit überwinden und redete in einer hoffnungslos erscheinenden Lage gegen das Trennende an. Es gebe „keine Hoffnung, wenn es keinen Wandel gibt“. Auch die Sowjetunion müsse zu der „Einsicht“ gebracht werden, „dass ein Wandel in ihrem eigenen Interesse liegt“.