Читать книгу Durch den Eisernen Vorhang - Gottfried Niedhart - Страница 19

Mehr Wahrheit in der Politik

Оглавление

Während von der Sowjetunion lediglich gefordert wurde, einen schon bestehenden Zustand völkerrechtlich verbindlich zu bestätigen, verlangte die Verpflichtung auf den Status quo von vielen Deutschen einen emotionalen Kraftakt ab. Während die DDR die Nachkriegsordnung schon aus purem Eigeninteresse anerkannte, konnte sich die Bundesrepublik nur langsam damit abfinden. Auf den gängigen Landkarten waren Anfang der 1960er-Jahre sowohl die tatsächlich bestehenden Grenzen markiert als auch Grenzverläufe aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Da es keinen Friedensvertrag gab, wurden die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie als unter polnischer beziehungsweise sowjetischer Verwaltung stehend bezeichnet. „Dreigeteilt niemals“ war auf Plakaten zu lesen, die Deutschland in den Grenzen von 1937 mit der Bundesrepublik und der DDR sowie den von Pommern und Ostpreußen bis Schlesien reichenden Ostgebieten darstellten. Demgegenüber verlangte die Sowjetunion die Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg gezogenen Grenzen und geißelte die westdeutsche Einstellung als „Revanchismus“ und „Revisionismus“.

Die Westmächte verteidigten die Bundesrepublik zwar gegen solche verbalen Angriffe, ließen aber bald erkennen, dass auch sie am territorialen Status quo festhalten wollten. Die Überwindung der Teilung Europas und auch Deutschlands erschien zwar wünschenswert, doch blieb ein „größeres, friedliches und prosperierendes Europa“, das der amerikanische Präsident Johnson 1966 als die „große unerledigte Aufgabe“ seiner Generation bezeichnet hatte, eine Wunschvorstellung. Erreichbar dagegen schien die friedliche Koexistenz von Ost und West auf der Grundlage bestehender Machtverhältnisse. Um die Vorstellung einer großen gesamteuropäischen Friedensordnung als Zukunftsperspektive aufrechterhalten zu können, durfte die kleine Lösung eines waffenstarrenden, aber friedlichen Nebeneinanders nicht gefährdet werden. Dies war gemeint, wenn Johnson betonte, nichts sei „wichtiger als der Frieden“.16

Konkret bedeutete diese Friedensrhetorik für die DDR eine Bestätigung ihrer Existenz, wenn auch auf längere Sicht keine Existenzgarantie. Für die Bundesrepublik hingegen war sie ein Appell, sich um des Friedens willen an die aktuelle politische Landkarte mit zwei deutschen Staaten und der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze zu gewöhnen. Im Auswärtigen Amt brauchte Staatssekretär Carstens nicht lange, um die Brisanz der Lage zu erkennen. Der Wind hatte sich gedreht und blies der ohnehin in den letzten Zügen liegenden Regierung Erhard ins Gesicht. Um der drohenden Isolierung im Westen zu entgehen, müsse die Bundesregierung sich, so Carstens in einer Aufzeichnung vom 14. November 1966, an der „allgemeinen westlichen Entspannungspolitik beteiligen“. Die „deutsche Wiedervereinigungsforderung“ könne nicht aufgegeben werden, aber keine westliche Regierung sei länger bereit, zu ihrer Erfüllung „Druck auf die Sowjetunion“ auszuüben. Ganz im Gegenteil: „Unsere Bundesgenossen“ wollten sich mit der Sowjetunion „versöhnen“. Darum müsse man künftig die deutsche Frage im Zusammenhang mit „Entspannungs- und Abrüstungsmaßnahmen“ sehen. Eine Wiedervereinigung sei nach allgemeiner westlicher Überzeugung nur „als Ergebnis eines langfristigen Ausgleichsprozesses zwischen Ost und West“ vorstellbar. Was die Oder-Neiße-Linie betreffe, dürfe man sich keinen Illusionen hingeben und müsse sich vor Augen halten, „dass unsere bisherigen Versuche, die Grenzfrage offen zu halten, keine Unterstützung mehr finden“. Die letzten Sätze stimmten mit der Position überein, welche die SPD schon auf ihrem Dortmunder Parteitag im Juni 1966 vertreten hatte. Kein Wunder, dass Brandt sie in einem Exemplar der Aufzeichnung, das Carstens ihm als neuem Außenminister der Großen Koalition übergeben hatte, hervorhob.17

Aus dieser Bestandsaufnahme sprach auch der Wunsch nach „mehr Wahrheit in der Politik“, ein Anspruch, der schon 1961 im sogenannten Tübinger Memorandum formuliert worden war, das Anfang 1962 an die Öffentlichkeit gelangte. Darin hatten sich acht namhafte protestantische Wissenschaftler – darunter der Tübinger Jurist Ludwig Raiser, der Hamburger Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker und der Leiter der Heidelberger Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft Georg Picht – zu verschiedenen Grundfragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens geäußert. Für heftige Kontroversen sorgte eine Passage, in der zu einer „aktiven Außenpolitik“ aufgerufen wurde, denn damit war eine Politik gemeint, die nicht mehr die Augen vor den Nachkriegsrealitäten verschloss. Eine Wiedervereinigung Deutschlands sei nur im Rahmen einer gesamteuropäischen Lösung vorstellbar. Um ihr näherzukommen, wurde ein ausdrücklicher Verzicht auf die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie empfohlen. Die Anerkennung „geschichtlicher Fakten“ wäre ein Signal, das der Anbahnung von Ost-West-Kontakten zum Zweck einer Normalisierung der Beziehungen dienen würde.18

In der öffentlichen Diskussion galt dies als Tabubruch. Nur ganz vereinzelt wurden die Autoren des Tübinger Memorandums als „Lobbyisten der Vernunft“ bezeichnet.19 Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland beeilte sich zu betonen, die Forscher hätten die Denkschrift als Privatpersonen abgefasst. Auch die Spitzen der Bonner Politik hatten zu diesem Zeitpunkt parteiübergreifend einen anderen Wahrheits- und Realitätsbegriff, ganz zu schweigen von den Vertriebenenverbänden. Sollte etwa als „geschichtliches Faktum“ hingenommen werden, was die Sowjetunion eigenmächtig durchgesetzt hatte: die Unterstellung deutscher Ostprovinzen unter polnische Kontrolle und die Vertreibung von Millionen Deutschen? Niemand konnte leugnen, dass es sich um einen realen Tatbestand handelte. Aber sollte man ihn als gegeben hinnehmen, wie kein Geringerer als der Präsident des Bundestages Eugen Gerstenmaier fragte. Konnte eine „Unterwerfung unter Tatbestände“ verlangt werden, die man nur als „Unrechtstatbestände“ bezeichnen konnte?20 Hatte die „Geschichte“ schon das letzte Wort zur Berliner Mauer, zum Schießbefehl an der innerdeutschen Grenze, zur Unterdrückung der Menschenrechte in der mit Anführungszeichen versehenen „DDR“ gesprochen? Durfte man ruhigen Gewissens den „Status quo der sogenannten in Europa bestehenden wirklichen Lage“ hinnehmen? Musste man nicht eher von „sogenannten Realitäten“ sprechen,21 jedenfalls von Realitäten, die nicht zur Legitimierung deutscher Politik dienen durften?

Die Kontroverse über die Wahrnehmung der Realität begleitete jede ostpolitische Initiative. Nur langsam vollzog sich ein Perspektivenwechsel, bei dem die Nachkriegsrealität nicht mehr überwiegend als verlustreiche Gewalterfahrung wahrgenommen wurde, sondern zunehmend auch als Ausgangspunkt für einen „Dialog auf neuer Ebene“. Dieser Dialog sollte den „Nachbarn im Osten“ angeboten werden, wie es in einem weiteren Dokument aus dem protestantischen Umfeld hieß. Wieder war Raiser maßgeblich beteiligt, nun in seiner amtlichen Funktion als Leiter der Kammer der EKD für Öffentliche Verantwortung. Im Herbst 1965 erschien die sogenannte Ostdenkschrift der EKD mit dem Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“.22 In diesem für das entspannungspolitische Denken wegweisenden Text wurde von der Notwendigkeit der „Versöhnung“ im Verhältnis zwischen Deutschen und Polen gesprochen. Ohne die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie direkt zu empfehlen, wurde ein deutscher Rechtsanspruch auf die Gebiete jenseits von Oder und Görlitzer Neiße verneint. Im Unterschied zum Tübinger Memorandum handelte es sich bei der Ostdenkschrift um ein offizielles kirchliches Dokument, das auf starke politische und gesellschaftliche Resonanz stieß. An den Impuls, der von ihm ausging, sollte sich Brandt später „dankbar“ erinnern, als er im Dezember 1970 in der polnischen Hauptstadt zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags weilte, mit dem die an Oder und Neiße verlaufende polnische Westgrenze als unverletzlich anerkannt wurde.23

Durch den Eisernen Vorhang

Подняться наверх