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Hegemonialmacht Sowjetunion

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Damit war zugleich eine Zukunft gemeint, in der die Sowjetunion als globale Supermacht und als Hegemonialmacht in Osteuropa ebenso einen festen Platz hatte wie die DDR als zweiter deutscher Staat. Die Ausrichtung an den bestehenden Machtverhältnissen folgte dem globalen Trend. Denn auf der Ebene der Supermächte gehörten die wechselseitige Anerkennung ihrer Imperien und Interessensphären sowie Entspannungsbemühungen auf das Engste zusammen. Schon Kennedy hatte in der Berliner Mauer nicht nur ein Zeichen von Willkür und Machtmissbrauch erblickt, sondern in Zeiten weltpolitischer Konflikte auch ein Mittel zur Stabilisierung. Er hielt sie allemal für verdammt viel besser als einen Krieg – „a hell of a lot better than a war“.31 Ende der 1960er-Jahre drohte kein Krieg, und auch der Kalte Krieg sollte der Vergangenheit angehören. Als Grundlage für Détente diente das Einverständnis darüber, die sowjetische Position in Osteuropa nicht anzutasten. Jedenfalls sicherte Kissinger dies im März 1969 in einer richtungweisenden Verständigung mit dem sowjetischen Botschafter zu.32

Auch in den Verhandlungen mit der Bundesrepublik erwartete die Sowjetunion, in ihrer Rolle als Hegemonialmacht wahrgenommen zu werden. Nichts sollte ohne sowjetische Zustimmung oder gar gegen den Willen Moskaus geschehen. Noch vom Trauma des „Prager Frühlings“ verfolgt, bestand die Sowjetunion auf dem Grundsatz, dass jeder Bonner „Vereinbarung mit anderen sozialistischen Staaten“ eine „Vereinbarung mit der UdSSR“ vorausgehen müsse.33 Auch in Bonn kam man spätestens seit der sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei 1968 nicht um die Einsicht herum, dass der Sowjetunion eine uneingeschränkte Führungsrolle zustand. Einerseits musste man prinzipiell darauf bestehen, dass die einzelstaatliche Souveränität respektiert wurde, andererseits waren die „Machtinteressen der Sowjets“ zu beachten.34 Verhandlungen mit einzelnen Warschauer-Pakt-Staaten konnten nur unter Rahmenbedingungen geführt werden, die zuvor in Moskau besprochen worden waren. „Nichts soll hinter dem Rücken der Sowjetunion“ geschehen, versicherte Außenminister Scheel dem sowjetischen Botschafter kurz nach Bildung der sozial-liberalen Regierung. Mit der Ostpolitik solle kein „Keil zwischen die sozialistischen Länder“ getrieben werden.35 Für Bundeskanzler Brandt war die Anerkennung der sowjetischen „Richtlinienkompetenz“ ein unumstößliches Faktum. Verhandlungen mit der „Führungsmacht des Warschauer Pakts“ konnten darum nicht nur bilateraler Natur sein, sondern berührten „vieles andere“ im Verhältnis der Bundesrepublik zu ihren östlichen Nachbarn.36 Unmittelbar davon betroffen war Polen, das nicht aus eigener Souveränität ein Abkommen über seine Westgrenze aushandeln konnte. Die Polen mussten zusehen, wie Gromyko und Bahr in Moskau darüber sprachen und befanden. In der Sache änderte sich dadurch nichts, doch Brandt tat gut daran, bei seinem polnischen Amtskollegen Cyrankiewicz schon früh um Verständnis dafür zu werben, dass man die bündnisbedingten „Bindungen“ nicht ignorieren könne.37

Die Anerkennung der sowjetischen Vorrangstellung hatte aus Bonner Sicht den Vorteil, dass man mit der Zentrale des Warschauer Pakts in Moskau Regelungen aushandeln konnte, die zu übernehmen die sowjetischen Klientelstaaten gezwungen wären. Im „Leitgespräch mit der Führungsmacht“ sollten westdeutsche Positionen durchgesetzt werden.38 Polen sollte von der Forderung nach unwiderruflicher Anerkennung seiner Westgrenze, wie sie von der DDR schon 1950 im Görlitzer Vertrag ausgesprochen worden war, abgebracht werden. Auch war die Bundesrepublik nicht bereit, die DDR völkerrechtlich anzuerkennen und damit als Ausland zu betrachten. Was Brandt in seiner ersten Regierungserklärung gesagt hatte, musste genügen. Die DDR war ein Staat, der zu allen Staaten diplomatische Beziehungen unterhalten konnte, nur nicht zur Bundesrepublik. Wenn die Bundesregierung gewillt war, via Moskau Druck auf Polen und die DDR auszuüben, musste sie mit dem Vorwurf leben, damit stillschweigend der sogenannten Breschnew-Doktrin Vorschub zu leisten, wonach die Souveränität der Staaten des Warschauer Pakts durch die „Pflichten der sozialistischen Länder“ begrenzt sei. Der Einmarsch von Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten unter Führung der Sowjetunion in die Tschechoslowakei 1968 wurde mit dem Hinweis auf deren eingeschränkte Souveränität gerechtfertigt. Auch wenn es kein Anliegen der Bundesrepublik sein konnte, das „klassenmäßige Herangehen an die Fragen der Souveränität“ zu teilen und sich um den „Schutz der sozialistischen Errungenschaften“ zu kümmern, musste die Bundesregierung ohne Umschweife einräumen, dass die Sowjetunion die „Hauptkraft“ im sozialistischen Lager war.39

Im Fall der DDR erschien ein Einwirken „im Sinne“ der westdeutschen „Vernunft“ nicht weiter problematisch.40 Polen dagegen war ein Land mit einer ausgeprägten historischen Tradition und entsprechendem Nationalbewusstsein, zudem ein Land, das im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzungsherrschaft Tod und Verwüstung erfahren hatte. Gleichwohl war an der „realen hegemonialen Machtlage“ nicht zu rütteln.41 Vergeblich wandte sich Ralf Dahrendorf während seiner kurzen Amtszeit als Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt gegen eine Fixierung auf Moskau. Er erblickte in Polen die „zentrale Aufgabe des Augenblicks“.42 Was den Augenblick tatsächlich ausmachte, teilte Gromyko Ende Februar 1970 in Ost-Berlin und Warschau mit, als er dort über die erste Verhandlungsrunde mit Bahr berichtete. Dieser hatte seinem Gastgeber schon beim ersten Zusammentreffen reinen Wein eingeschenkt. Drei Themenkomplexe standen an: die territoriale Ordnung in Europa, die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten und die Lage in und um Berlin. Die von Bahr vorgebrachten Angebote und Forderungen stellten nichts Neues dar. Unter dem Dach eines multilateralen Gewaltverzichts wurde die „territoriale Integrität für jeden Staat in Europa“ bestätigt. Für Deutschland als Ganzes erinnerte Bahr an den Vorbehalt des noch ausstehenden Friedensvertrags und die Pflichten der Vier Mächte sowie an die nach wie vor bestehende „Absicht zur Wiedervereinigung“, sodass eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR ausgeschlossen war. Schließlich erwartete die Bundesrepublik einen verbesserten „Zugang“ nach West-Berlin.43

Bis sich beide Seiten im Moskauer Vertrag auf eine Sprachregelung zur Umschreibung der europäischen Nachkriegsrealität einigen konnten, bedurfte es noch eines längeren diplomatischen Ringens. Schon jetzt aber ließ Gromyko bei seinen Bündnispartnern durchblicken, worauf es ihm ankam, nämlich nicht auf das Erreichen von im Prinzip erstrebenswerten Maximalzielen, sondern auf eine Übereinkunft mit der Bundesrepublik. Moskau brauchte eine solche Übereinkunft, um das zentrale Projekt sowjetischer Westpolitik, die Einberufung einer Europäischen Sicherheitskonferenz, realisieren zu können. Mit anderen Worten: Auch die Sowjetunion sah sich genötigt, Realitäten anzuerkennen, die für die Bundesrepublik nicht verhandelbar waren. Gromyko spürte genau, was Bahr intern aussprach. Die sowjetische Weltmacht konnte „zur Kasse“ gebeten werden.44

Dem durften ostdeutsche oder polnische Wünsche nicht entgegenstehen. Immerhin wahrte Gromyko den Schein, als er zu Konsultationen nach Ost-Berlin und Warschau reiste. Zum Auftakt warb er in einem mehr als vierstündigen Treffen mit Ulbricht und anderen Mitgliedern der SED-Führung um Zustimmung zu dem, was seiner Auffassung nach unter „Anerkennung der realen Lage in Europa“ zu verstehen sei.45 Welche Bedingungen mussten erfüllt sein, damit die Realität als „anerkannt“ gelten konnte? Gromyko empfahl, die bisherigen Anerkennungsschritte Bonns zu würdigen, auch wenn sie hinter den Erwartungen der „sozialistischen Länder“ zurückblieben. Er sprach sogar von der „Besonderheit der bestehenden Lage“, die man nicht ändern könne, die man aber nutzen solle. „Was uns die Bundesrepublik heute schon geben kann“, stelle im Vergleich mit früheren Bundesregierungen einen beachtlichen Fortschritt dar. In der „Frage der Grenzen“ habe Bonn deren Unverletzlichkeit erklärt. Die DDR sei als Staat anerkannt. Darüber hinaus vermerkte Gromyko auf der Habenseite den im November 1969 erfolgten Beitritt der Bundesrepublik zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Dieser positiven Bilanz stand allerdings die Unsicherheit über die Stabilität der Bonner Regierung gegenüber. Man wisse nicht, „was für eine Regierung nach der Regierung Brandt in Westdeutschland sein wird“. Daran schlossen sich bohrende Fragen an: „Wenn es sich in dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion oder zwischen Ihrer Republik und der Bundesrepublik erweist, dass es unmöglich sein wird, eine Formulierung einzubeziehen, die direkt besagt, dass die Bundesrepublik die DDR völkerrechtlich anerkennt, […] was sollen wir dann unternehmen? Sollen wir in der Sowjetunion und Sie in der DDR dann alle Kontakte abreißen lassen? Sollen wir dann auf all das verzichten, was wir jetzt schon herausholen können, vor allem in der Grenzfrage und in einigen anderen Fragen?“ Zu diesem „taktischen Moment“, wie er es nannte, erbat Gromyko den „Rat“ Ulbrichts. Dieser leistete, wie Bahr aus sowjetischer Quelle sogleich erfuhr, „keinen Widerstand“.46

Während der DDR suggeriert wurde, wo sie zu Zugeständnissen bereit sein müsse, versicherte man ihr zugleich, „dass der Kampf um die volle Anerkennung der Deutschen Demokratischen Republik ohne jegliche Vorbehalte in jeder Beziehung auch weiterhin geführt werden muss“. Allzu schnell wollte auch Gromyko in den Verhandlungen mit Bahr nicht nachgeben. Vor allem aber sollte die DDR in ihrem Verhältnis zur Bundesrepublik auf eine harte Linie festgelegt werden. Die Entscheidung über ein mögliches Abweichen von dieser Linie sollte ausschließlich in Moskau liegen. Die DDR durfte im Dreieck Bonn – Ost-Berlin – Moskau keine eigenständige Rolle spielen. Gleich zu Beginn der Kanzlerschaft Brandts, als dieser der DDR Verhandlungen über die innerdeutschen Beziehungen anbot und in Moskau das Gespenst einer Lockerung der strikten Abgrenzung der DDR von der Bundesrepublik umging, wurde die DDR-Führung ermahnt, nichts ohne vorherige Absprache mit Moskau zu unternehmen und der Sowjetunion die Initiative zu überlassen.47 Zwischen November 1969 und Mai 1970, als es in den westdeutsch-sowjetischen Kontakten um eine beiderseits annehmbare Lesart des Begriffs Anerkennung ging, wurde die DDR dazu verpflichtet, an ihrer Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung festzuhalten. Noch am 21. Mai 1970 wiederholte Stoph gegenüber Brandt diese Forderung, während Gromyko sie in den mit Bahr ausgehandelten Leitsätzen fallenließ. Kein Wunder, dass ein Ost-Berliner Diplomat rückblickend von einem „Vertrauensbruch der sowjetischen Seite“ sprach.48

Der sowjetischen „Hegemonialstellung“49 musste sich auch Polen beugen. Vergeblich hatte das Land sich bereits dagegen gewehrt, dass der Warschauer Pakt mit dem Budapester Appell im März 1969 auf Vorbedingungen für die Einberufung einer Europäischen Sicherheitskonferenz verzichtete. Als Gromyko in Warschau seine schon in Ost-Berlin gestellte Frage wiederholte, ob man sich Bonn annähern solle und wenn ja, zu welchen Bedingungen, blieb Gomułka ungerührt. Für ihn war der Preis zu hoch, den Polen für eine Annäherung von Ost und West zahlen sollte, und der Preis zu niedrig, den die Bundesrepublik zu zahlen bereit war. Man solle „abwarten, bis die Deutschen für eine Lösung reif sind“.50 Sie könne für Polen nur darin bestehen, dass die Endgültigkeit und Unverrückbarkeit seiner Westgrenze anerkannt werde. Der polnische Parteichef war auch nicht durch Gromykos Hinweis auf die Rechte der für Deutschland als Ganzes verantwortlichen Mächte zu beeindrucken, aufgrund derer die Bundesrepublik gar keine einseitigen Erklärungen in der Grenzfrage abgeben könne. Aber statt sich auf Bahr zu berufen, der diesen Punkt schon vorgebracht hatte, verwies er interessanterweise auf die USA. Die Amerikaner könnten Brandt „am Kragen packen“, sollte er seine Handlungsbefugnis überschreiten.51

Wie Bahr in Moskau erfuhr, war Polen „schwieriger als die DDR“.52 Polen fühlte sich in seiner nationalen Ehre verletzt, wenn in Moskau über polnische Angelegenheiten gesprochen wurde, und dies noch nicht einmal zu seiner vollen Zufriedenheit. Als schließlich eine Entscheidung anstand, setzte sich die Sowjetunion über die Wünsche ihres Bündnispartners hinweg. Gromyko mochte dabei im Kopf haben, wie Bahr den Oberbegriff der Bonner Ostpolitik erläutert hatte. Gewaltverzichtsvertrag sei „ein anderes Wort für Grenzvertrag“.53 Die Aussage zur Grenze erhielt dadurch einen höheren Verbindlichkeitsgrad. Allerdings ließ ein Gewaltverzicht die Möglichkeit einer Grenzveränderung mit friedlichen Mitteln offen. Im Fall der polnischen Westgrenze strebte die Bundesregierung auch langfristig eine solche Korrektur nicht an, wohl aber hinsichtlich der „Grenze zur DDR“, der einzigen Grenze, welche die Bundesrepublik „ändern“ wollte.54 Um an diesem Ziel festhalten zu können, bestand Bonn auf der Möglichkeit des friedlichen Wandels von Grenzen. Aus polnischer Perspektive reichte die Zusicherung „friedlicher Absichten“ jedoch nicht aus, wie man im Auswärtigen Amt durchaus erkannte. Polen wollte eine „endgültige Regelung der Grenzfrage“ durchsetzen und keine „Formel akzeptieren“, „die materiell diese Frage in irgendeiner Weise offen lässt“.55 Der Warschauer Vertrag kam dem sehr nahe, wenn er auch nicht alle polnischen Erwartungen erfüllte. Denn die Bundesregierung hielt bei der Bekräftigung der Unverletzlichkeit bestehender Grenzen am Friedensvertragsvorbehalt fest.56 Polen erreichte, dass im Warschauer Vertrag – anders als im Moskauer Vertrag – die Aussage zur polnischen Westgrenze nicht als Ableitung aus dem Gewaltverzicht erschien, der erst in Art. II als leitendes Prinzip zwischenstaatlicher Beziehungen genannt wurde. Rückblickend meinte Brandt, der Warschauer Vertrag sei „weder nur ein Gewaltverzichtsabkommen noch allein ein Grenzvertrag“ gewesen.57

Durch den Eisernen Vorhang

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