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1.9 Besuche in der Heimatstadt

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Über Jahrzehnte hinweg ging man in den verschiedensten regionalen Veröffentlichungen zu Geithain davon aus, dass Paul Guenther nach seiner Auswanderung 1890 erst im Jahre 1919 seine Heimatstadt erstmalig besucht hatte. Mit dem Auffinden eines Dokuments im Kirchenarchiv der Nikolaikirche von Geithain (25) vor wenigen Jahren musste hier eine Korrektur vorgenommen werden.

Im Taufregister von St. Nikolai KB 13, S. 72, steht unter Nummer 46: „Tochter Therese Louise Margarethe, geb. 19. Juni 1896 in Paterson, Staat New Jersey (USA), getauft am 3. Juni 1900 in St. Nikolai

Vater: Paul Guenther, Mutter: Auguste Anna Olga, geb. Mechel von Kirchhein/Niederlausitz

Paten:

Bruno Günther, Bretthändler

Otto Polster, Kaufmann in Ölsnitz

Mimi Mechel, Ehefrau des Kaufmanns Karl Mechel in Milwaukee (USA), vertreten durch Frieda Polster, Näherin hier“

Mimi Mechel ist Frau Olga Guenthers Schwägerin, also eine Tante von Margarethe Guenther. Sie reiste nicht zur Taufe aus den USA nach Geithain, ließ sich aber von Tante Frieda Polster vertreten. Diese ist die Schwester von Otto Polster. Die Mechels wohnten zuletzt, d. h. vor ihrer Auswanderung, zwar in Berlin, stammten offensichtlich aber aus der Niederlausitz. Die Eintragung im Kirchenbuch lässt keinen Zweifel an der Feststellung, dass die Guenthers (beide oder nur Mutter Olga?) mit ihrer vierjährigen Tochter Margarethe im Sommer 1900 die Reise nach Geithain zum Zwecke der Taufe angetreten hatten. Der Wunsch nach einem Wiedersehen und einer Taufe in der alten Heimatkirche, zehn Jahre nach ihrer Auswanderung und vier Jahre nach Geburt der Tochter, ist nachvollziehbar, sowohl bei den Eltern in Amerika als auch bei den Großeltern Bruno und Therese Guenther in Geithain. Wie oben (s. S. 28) dargestellt, erlaubten die materiellen Verhältnisse der jungen Familie durchaus eine solche Reise im Jahr 1900. Der Besuch fand statt, ist aber nicht vergleichbar mit den späteren Besuchen Guenthers in seiner Heimatstadt. Schulfreunde und nähere Bekannte in Geithain werden zwar von dem Aufenthalt gewusst haben, er berührte die Geithainer Öffentlichkeit aber nicht weiter.

Wir befinden uns im Jahr 1900! Die ersten Spenden Guenthers und auch deren Veröffentlichung im Geithainer Wochenblatt erfolgten sechzehn Jahre später! Guenther war ganz einfach im Jahre 1900 für Geithain noch „ein Auswanderer“ und noch nicht der spätere „Wohltäter Geithains“.

Drei Jahre später erlitt Vater Bruno beim Obstpflücken einen schweren Unfall, von dem er sich nie wieder erholte. Mutter Therese pflegte ihn über die lange Leidenszeit hinweg bis zu seinem Tod im Jahre 1912. Pfarrer Wagner würdigte in der Trauerrede (32) Leben und Leiden des Toten. Besonders beeindruckend sind darin die Sätze, welche sich auf den Sohn des Ehepaares Guenther beziehen: „So hast Du mit Deinem nun verewigten Lebensgefährten einen langen Ehestand verbracht, in welchem es an manchem Weh und Ach, an Tränen und Seufzern wohl auch nicht fehlte, dessen größter Schmerz es aber doch wohl war, den einzigen Sohn dauernd in weiter Ferne zu wissen. Es ist ja schön, wenn Eltern aus eigener Erfahrung sagen können: ‚Wohl dem, der Freude an seinen Kindern erlebt!‘ Aber es ist doch betrüblich für solche Väter und Mütter, in der und jener besonderen Stunde ihres Lebens ihr Kind nicht bei sich zu haben … Auch in dieser Stunde fehlt er. Vielleicht träumt er drüben in der neuen Welt gerade jetzt von den Tagen seiner Kindheit und ruft im Traume seinen Vater, wie dieser in seinen letzten Krankheitstagen mehrmals im Traum oder Fieberwahn den Sohn gerufen hat.“


Bild 28: Widmung in der Trauerschrift

Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, warum Paul Guenther die Reise zur Beisetzung seines Vaters nicht angetreten hat. Heute dauert die Reise von New York nach Frankfurt/M. nur wenige Stunden, während damals mit vielen Tagen bis Wochen zu rechnen war. Es muss auch beachtet werden, dass eine Beerdigung nach den damals geltenden Gesetzen innerhalb weniger Tagen nach Eintritt des Todes zu erfolgen hatte. Die Trauerfeier fand am Pfingstsonntag des Jahres 1912 statt. Die Grabrede erschien gedruckt (Druckerei August Wiedner, Geithain) im Juli jenes Jahres mit obiger Widmung.

Therese Guenther lebte noch sieben Jahre lang als Witwe in Geithain. Zwischen ihr und dem Sohn bestanden briefliche Verbindungen. In Geithain lebten viele Verwandte, sowohl eigene als auch Geschwister ihres Mannes mit deren Familien. Sie freute sich an den Erfolgen ihres Sohnes in der Neuen Welt und an den Veröffentlichungen im Geithainer Wochenblatt über seine ersten Spenden für Geithainer Kriegerwitwen und Waisenkinder. Zu gegenseitigen Besuchen kam es, auch durch die vier Jahre Krieg bedingt, nicht. Am 18. November 1918 starb Therese Guenther im Alter von knapp 80 Jahren. Nun, zu Ende des Krieges und in den Wirren der Revolution, wundert es nicht, dass zur Beerdigung zwar viele Verwandte, darunter auch Cousin Oberlehrer Clauß aus Chemnitz (s. S. 67), später die „rechte Hand Guenthers beim Schulbau“, kamen, nicht aber der Sohn aus dem fernen Amerika.

„Sofort nach Wiederaufnahme des unmittelbaren Dampferverkehrs mit Deutschland reiste ich … im November 1919 in meine Heimatstadt.“ (18) Nach Jahren traf er sich mit den vielen Verwandten in Geithain und in der Chemnitzer Gegend. Auch „offizielle“ Treffen mit Geithains Bürgermeister Dr. Focke und Stadträten fanden statt. Man bedankte sich natürlich für die Spenden Guenthers während der Kriegsjahre. Neu aber – und für Stadt, Kirche und Schule von höchster Bedeutung – ist die Mitteilung Guenthers, eine Stiftung zu errichten. „Ich reiste in meine alte Heimat, um meinen Landsleuten Hilfe zu bringen. Diese Hilfe sollte aber keine vorübergehende sein. Ich errichtete deshalb zugunsten meiner Vaterstadt eine Stiftung und bestimme über deren Verfassung und Verwaltung Folgendes: … 1. Die Stiftung führt zum Andenken an meine Eltern den Namen Bruno-und-Therese-Guenther-Stiftung.“ (18, mehr zur Stiftung s. S. 53 ff.). Nach diesem Besuch wurden die Verbindungen zwischen Geithain und Guenther wesentlich intensiver. Mit dem folgenreichen Brief des Schulleiters Petermann vom 22.08.1922 an Guenther begann die noch bedeutsamere Phase der Spenden- und Stiftertätigkeit Paul Guenthers. Der Schulbau wird im Kapitel 2.2 gesondert beschrieben. In diesem Abschnitt stehen die Besuche aus Amerika in Geithain im Mittelpunkt.

Zur Grundsteinlegung der Schule am 4. Juli 1923 reiste Tochter Margarethe nach Geithain, überbrachte die Grüße ihres Vaters und wünschte für die nächsten Monate gutes Gelingen. Alle, sowohl Paul Guenther selbst als auch die Geithainer, rechneten fest damit, dass der Schulstifter an der reichlich zwei Jahre später erfolgten Schulweihe teilnehmen würde. Zum Ablauf der Weihefeier steht in der Weiheschrift (1) u. a. der Satz: „Übergabe des Hauses an den Vertreter der Stadtgemeinde Geithain, Herrn Bürgermeister Dr. Focke, durch Herrn Paul Guenther.“ Die Festschrift zur Feier am 29. Oktober 1925 war natürlich vor diesem Termin gedruckt worden. Es wird Oberlehrer Clauß nicht leicht gefallen sein, bei der Begrüßung der Festversammlung das Telegramm Paul Guenthers „… bedaure unendlich meine Abwesenheit …“ verlesen zu müssen. Dringende geschäftliche Gründe erlaubten keine lange Reise nach Deutschland. Nun musste Clauß auch die laut Programm dem Schulstifter zugeschriebenen Parts stellvertretend übernehmen.

Drei Jahre nach der Schulweihe ist es wieder Tochter Margarethe, inzwischen Frau Margarethe Osgood, die Geithain am 18. Oktober 1928 einen Besuch abstattet und die Ehrungen der Stadt für den Schulstifter entgegennimmt. Über den Ablauf des Besuchstages existiert ein anschaulicher Bericht (33):

„Unsere Paul-Guenther-Schule prangte am Donnerstag im Flaggenschmuck anlässlich des Besuches der Tochter des Schulstifters aus Amerika. Um 11 Uhr fand die Begrüßung von Frau Margarethe Osgood, die von Herrn Oberlehrer Clauß aus Chemnitz, dessen Gemahlin und Schwester begleitet war, im Amtszimmer des Schulleiters statt, wobei Herr Direktor Petermann erwähnte, dass fast 400 Mütter aus Geithain und Umgebung ihre Kinder täglich in diese schöne Schule schickten, in dem Bewusstsein, dass sie in solchen Räumlichkeiten gut aufgehoben seien und dass die Stadt diese herrliche Stiftung der Großherzigkeit ihres Vaters zu verdanken habe. Anschließend erfolgte eine Vorstellung des Lehrerkollegiums im Lehrerzimmer. Ins Gästebuch trug hier Frau Osgood ein: ‚Zur freundlichen Erinnerung an meinen Besuch in der Paul-Guenther-Schule. Ich bin stolz darauf, was mein guter Vater hier geschaffen hat.‘ Alsdann wurden dem Besuch im Festsaal die Kinder vorgestellt. Die Klassenerste der Konfirmandinnen, Ilse Meinel, überreichte dabei einen Blumenstrauß, worauf Herr Kantor Andreas mit seinem Schulchor einige Heimatlieder bot. Nachdem sich Frau Osgood bei den Kindern bedankt hatte, trat sie einen Rundgang durch das Schulhaus an. Besonderes Interesse widmete sie hierbei dem Handarbeitssaal, dem Gesangszimmer und dem Bad. In der Berufsschule besichtigte sie die Schulküche und den Speisesaal und kostete vergnügt von dem Gebäck, das Frau Roppenecker mit ihren Kochschülerinnen in aller Eile, aber wohl gelungen, hergestellt hatte. Nach beendigtem Rundgang erfolgte eine fotografische Aufnahme vor dem Eingang des Schulgebäudes.

Nachmittags vier Uhr trug Konzertsängerin Susanne Petermann in schöner Vollendung den Weihegesang ‚Halleluja‘ von Hummel vor, der zur Schulweihe dargeboten worden ist. Auf allseitigen Wunsch sang sie noch das Lied ‚Der Vogel im Walde‘ von W. Taubert mit Koloraturen, auf dem Flügel begleitet von Herrn Oberlehrer Clauß.

Gegen 6 Uhr stellten sich die Kinder vor der Schule zu einem Lampionumzuge, der unter Klängen einer Musikkapelle (Musikvereinigung Geithain) seinen Weg durch die Eisenbahn- und Bahnhofstraße auf den Markt nahm. Hier hielt Herr Schuldirektor Petermann an Frau Osgood, die auf dem beleuchteten Eckbalkon des Hotels ‚Stadt Altenburg‘ stand, folgende Ansprache:

‚Hochgeehrte gnädige Frau! Die Jugend Geithains huldigt Ihnen. All die brennenden Lichter sind Flammen der Dankbarkeit und Verehrung für das Haus Guenther. Herr Guenther hat uns in seiner Heimatliebe und Herzensgüte das herrliche Schulhaus geschenkt, das wir täglich mit immer neuer Freude betreten. Möge es dem Hause Guenther wohl ergehen! Es lebe hoch!‘

Die Lampions bildeten auf dem Marktplatz ein reizvolles Bild. Am Schluss brachten die Kinder ein dreifaches Hoch auf das Haus Guenther aus, worauf sich der Zug auflöste. Unsere Schuljugend aber wird noch lange von dem ereignisvollen Tag erzählen. Abends halb 10 Uhr fuhr Frau Osgood nach Chemnitz zurück, nachdem sie sich wiederholt über ihren Aufenthalt in Geithain sehr befriedigt ausgesprochen hatte. Sie ist gewillt, im nächsten Jahre mit ihrem Vater Geithain zu besuchen. Die Dame wird sich in einigen Tagen nach Berlin begeben und Anfang November zu ihrem Gatten nach Amerika zurückreisen.“

Der im Bericht angekündigte Besuch Paul Guenthers in Geithain erfolgte tatsächlich ein Jahr später, am 19. September 1929, abermals ein Donnerstag. (6) Nach einem Kuraufenthalt in Deutschland kam er nach Chemnitz und Geithain. Dem Besuch in der Schule schloss sich eine Kutschfahrt durch die Stadt in Begleitung des Bürgermeisters Dr. Rudolf Focke und des Schulleiters Petermann an. „Mit besonderer Rührung las der Auswanderer in den alten Kirchenregistern von seiner Geburt und Konfirmation. Ein eindrucksvolles Ende fand der unvergessliche Tag mit einem gewaltigen Fackelzug von 600 Schulkindern.“ (15) Eine Reihe älterer Geithainer (Werner Pechstein, Elsbeth Ladegast, Frau Rademann, Manfred Wermann u. a.) erinnerten sich in Gesprächen um 1995 an die Rede des Schulstifters vom Balkon des Hotels „Stadt Altenburg“. Dass sowohl die Tochter Margarethe 1928 als auch Paul Guenther ein Jahr später den Besuch in Geithain mit einem Besuch der Verwandten und Bekannten in der Chemnitzer Gegend verbanden, ist sehr verständlich. Hier war von 1878 bis 1890 sein Lebensmittelpunkt.


Bild 29: Gedenktafel am Geburtshaus Paul Guenthers in Geithain

Paul Guenther und seine Schule in Geithain

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