Читать книгу Superhelden - Грант Моррисон - Страница 15
ОглавлениеAls ob es irgendjemand von langer Hand geplant hätte, begann die neue Ära von Superhelden mit den Worten: „MIT DER PLÖTZLICHEN WUCHT EINES BLITZSCHLAGS …“
Das prometheussche Zeitalter war verkündet worden. Die Zeit der Männer, welche das Feuer aus ihren Handflächen gebären konnten, war angebrochen. Und mit dieser Bestätigung der prometheischen Dimension der Superhelden kam auch die Zurkenntnisnahme von Bestrafung, Untergang, Vergeltung und Schuld – Themen, die sich durch die Erfahrungen einer sehr speziellen Generation von Kindern ziehen sollten. Von nun an waren Superkräfte zumindest mit enormer Verantwortung verbunden, im schlimmsten Fall wurden sie gar als horrender Fluch empfunden.
Stan Lee hatte bereits seit 20 Jahren Geschichten für Comics geschrieben und war nun fast so weit, alles endgültig hinzuwerfen. Das Geschäft lag nach den Wertham-Jahren am Boden, und die Branche hangelte sich von einem kurzlebigen Trend zum nächsten. Lee hatte Western, Liebes- und Monstergeschichten und für Crime-Comics geschrieben, bis ihm seine Frau Joan vorschlug, einen letzten Versuch zu wagen. Eine letzte Demonstration dessen, was er selbst gerne lesen würde, und nicht das, was ihm die Verleger nahelegten zu schreiben.
Superhelden waren wieder auf dem aufsteigenden Ast gelandet, was sie den Neuerungen des Silbernen Zeitalters bei DC und dem Erfolg ihrer Justice League of America zu verdanken hatten. Dies veranlasste den Verleger Martin Goodman, Stan Lee mit einer Herausforderung zu konfrontieren: Er fragte ihn, ob er in der Lage sei, für ihn ein Superhelden-Team – ähnlich der Gerechtigkeitsliga, nur moderner, frischer und relevanter – zu kreieren.
Und so machte sich Lee, der nichts zu verlieren hatte, ans Werk und schuf so ganz nebenbei ein Imperium. Er hatte das Glück, zwei der talentiertesten, kreativsten Köpfe der Branche in seinem Team begrüßen zu dürfen: Jack Kirby und Steve Ditko. Marvel sah die ineinander verwobene, verknüpfte Welt von Julius Schwartz und konstruierte nun seine eigene, praktisch von heute auf morgen. Eine ganze Welt, die von evolutionären Fortschritten geprägt war.
Fantastic Four #1 erschien Ende 1961, zwei Jahre vor den anderen, den realen Fab Four aus Liverpool. Um gleich zu Beginn mit der Tradition zu brechen, trugen die Fantastic Four Zivilkleidung. Als Jack Kirby schließlich unter Druck gesetzt wurde, ihnen Superhelden-Outfits zu geben, antwortete er mit funktionalen blauen Overalls, die eher an die Astronauten der Mercury-Missionen als an Zirkusartisten erinnerten, und etablierte die Fantastic Four als erste bodenständige Vertreter des Weltraumzeitalters innerhalb des Genres. Marvel berief sich auf Jerry Siegels ursprüngliche Idee. Was wäre, wenn Superhelden real wären? Was wäre, wenn sie nicht nur Märchen für Kinder wären? Was wäre, wenn Superhelden unter uns wandeln würden, wie die Marsianer – oder die Roten, die uns eine Dekade zuvor bedroht hatten? Das war die Prämisse.
Sie waren auch eine Familie, doch anders als die Familie Captain Marvels, in der jeder mit jedem eng befreundet war, oder die Superman-Familie, für die es galt, jeden Tag einen neuen epischen Weltuntergang zu verhindern, stritten und umarmten sich die Fantastic Four wie eine echte Familie.
Das erste Cover von Fantastic Four zitierte das Titelbild der ersten Ausgabe von Justice League of America, indem es das Team im Kampf mit einem Monster abbildete. Die Gerechtigkeitsliga sah sich von einem gigantischen außerirdischen Seestern bedroht, nur waren hier die Helden mit einem Unterwelttitanen aus Kirbys Feder konfrontiert.
„ICH KANN MICH NICHT SCHNELL GENUG UNSICHTBAR MACHEN!“, lautete der ergreifende Aufschrei dieser modernen, unabhängigen Frau.
„ES BRAUCHT MEHR ALS SEILE, UM MISTER FANTASTIC AUSSER GEFECHT ZU SETZEN!“, prahlte ein Mann mit seltsam verdünnten Gliedmaßen, der sich gerade aus seinen Fesseln herausstretchte – es wurde nicht erklärt, wie er überhaupt in diese peinliche Lage gekommen war. Die anderen beiden Charaktere waren ein feuriger, fliegender Mann, der ein wenig an Human Torch von 1940 erinnerte, sowie ein orangener Felshaufen namens The Thing.
Von den vier Hauptfiguren sahen nur zwei in unsere Richtung. Diese neuen Marvel-Helden waren unauffällig. Sie kleideten sich wie wir, obwohl sie immerhin über fantastische Superkräfte verfügten. Sie arbeiteten auf der Straße – das Ganze spielte sich an einer Straßenecke ab, nicht in atemberaubenden Himmelshöhen. Die Kreatur wirkte, als würde sie durch das Papier hindurchsteigen wollen, und stieß dabei den letzten Schrei der aussterbenden Monster-Comics der Fünfzigerjahre aus. Es war wie ein riesiges, alles verschlingendes Maul – und kein Superman weit und breit, der es in einen interplanetaren Zoo hätte sperren können. Kein Flash, der es wörtlich zu Tode hätte analysieren können. Dieses Quartett war auf den ersten Blick kaum von den schreienden Passanten zu unterscheiden.
Hier gab es etwas Interessantes zu beobachten: Die Titelseiten der Comics aus den Fifties hatten gewöhnliche Leute gezeigt, die vor den symbolischen Monstern ihres unergründlichen Unterbewusstseins davonliefen. Nun waren da vier Leute, die sich dem Monster entgegenwarfen. Superman war Dreh- und Angelpunkt, sozusagen im Zentrum der vier Elemente, auf dem Cover von Action Comics #1 gewesen. Diese neuen Helden waren die vier Elemente. Die Fantastic Four waren eine lebende Gleichung. Die Erkundung ihrer sich stets verändernden, dabei immer vertrauten Familiendynamik machte sie zu einer stets auf Hochtouren laufenden Story-Maschine.
In einem Halbkreis zirkelt die kometenhafte Figur von Human Torch um Invisible Girl herum. Die Komposition der Helden deutet eine wirbelnde Acht an, die das Monster umschließt. Die Form der Ziffer Acht symbolisierte ewige Familienbande, das Versprechen, dass die Saga womöglich nie enden würde, und Protagonisten, die die Zeiten überdauern könnten. Das Symbol repräsentierte auch den kosmischen Reisenden, den Astronauten auf dem Weg zur Unendlichkeit, und wies die Richtung zu den Themen, die Jack Kirby in seinen ausgereiften Arbeiten erkunden würde.
Die Sprechblasen waren eigentümlich platziert, aber auch sie waren so positioniert, dass das Auge in ständiger Bewegung blieb.
„THE THING! MR. FANTASTIC! HUMAN TORCH! INVISIBLE GIRL! ZUM ERSTEN MAL GEMEINSAM IN EINEM MÄCHTIGEN MAGAZIN!“
Bald ließ Lee ein stolzes Banner über dem Titel einfügen, das simpel zu Protokoll gab: „THE WORLD’S GREATEST COMIC MAGAZINE.“
Das war keine haltlose Prahlerei. In erstaunlichen 102 Ausgaben, bei denen Jack Kirby mit dabei war, runderneuerten The Fantastic Four das Konzept des Superhelden für das Silberne Zeitalter und überreichten dem Leser jeden Monat eine Eintrittskarte in eine Welt voller Planeten fressender Götter, unterseeischer Königreiche, Paralleldimensionen und – sich fortlaufend verändernder, aber stets zum Ausgangspunkt zurückkehrender – Familien-Dynamik.
Dieses erste Abenteuer der Fantastic Four begann mit einer Menschenansammlung, die auf die Worte The Fantastic Four deuteten, die in riesigen Buchstaben auf eine Wolke geschrieben standen. Dieses Alarmzeichen, das das Bat-Sign in Größe und Schriftlichkeit übertraf und somit den Titel der Serie als aktives Element in die Geschichte einband, rief eine Gruppe faszinierender Freaks zusammen – inklusive eines misanthropischen Monsters, dessen Bewegungen permanent Irritationen und Konfrontationen auslösten. Jeder Figur wurden ein paar Seiten gegeben, um sich vorzustellen und ihre Superkraft zu demonstrieren, bevor der erste Akt mit dem Versprechen einer „angsteinflößenden Aufgabe“, welche das Quartett erwarten würde, endete.
Die Story ging zurück bis zu dem Tag, an dem jede Figur ihre bemerkenswerte Superkraft erhalten hatte, womit die Spannung beim Leser gesteigert wurde. Ihr Anführer, der selbstgefällige, Pfeife rauchende Dr. Reed Richards, ignorierte die Warnungen eines Mannes namens Ben Grimm, der meinte, dass es keine kluge Idee sei, eine experimentelle Rakete zu stehlen und durch tödliche kosmische Strahlung zu manövrieren. Richards überließ die Drecksarbeit seiner glamourösen blonden Verlobten, Sue Storm: „BEN, WIR MÜSSEN UNS DARAUF EINLASSEN, AUSSER, WIR WOLLEN DEN COMMIES DEN VORTRITT ÜBERLASSEN. ICH DACHTE NIE, DASS DU SO EIN FEIGLNG WÄRST.“
Sues passiv-aggressive Anschuldigung reichte, um bei Ben den Kragen platzen zu lassen.
„FEIGLING! NIEMAND NENNT MICH EINEN FEIGLING!“
Und so war der Rest der Truppe in der Lage, den einzigen vernünftigen Kopf unter ihnen davon zu überzeugen, an diesem hirnverbrannten Plan mitzuwirken, der nur in einer Katastrophe enden konnte. Aus irgendeinem Grund erlaubten Reed und Ben sowohl Sue als auch ihrem Teenager-Bruder Johnny, an ihrer Selbstmordmission teilzunehmen, um zu verhindern, dass ihnen die Ivans zuvorkämen.
„WIR MUSSTEN ES TUN! WIR MUSSTEN DIE ERSTEN SEIN!“, schrie Richards triumphierend, als ihre Rakete durch die Ionosphäre beschleunigte. Es war das Gebrüll eines Space-Löwen der Kennedy-Ära, der nun das unendliche Vakuum des Weltalls in Beschlag nehmen wollte. Es war der Hochmut des strahlenden jungen Präsidenten und des Wissenschaftlers, und er kam sowohl vor dem Fall als auch vor der Schuld.
Der einzige Soundeffekt der Geschichte kam in der Panele direkt nach Richards Hahnengeschrei zur Anwendung und sollte die fürchterliche Präsenz kosmischer Strahlen ausdrücken. Sie drangen durch die Hülle, um die vier Astronauten in reiner Strahlung zu baden.
RAK TAC TAC TAC TAC TAC!
Als das getroffene Raumschiff eine Crash-Landung hingelegt hatte und die vier nacheinander aus dem Wrack taumelten, sahen wir, wie die Strahlen bei jedem einzelnen eine schreckliche Verwandlung auslösten. Sue wurde zum ersten Mal unsichtbar. Johnny loderte lichterloh und fand heraus, dass er fliegen konnte. Reeds gesamter Körper war nun elastisch, Ben jedoch hatte das schwerste Los erwischt. Als Lohn dafür, dass er versucht hatte, diese ganze verrückte Eskapade zu verhindern, wurde er zu einem monströsen, orange-gepanzerten Ding, das nicht in der Lage war, menschliche Form anzunehmen.
Reed gab sich – korrekterweise – die Schuld an Bens schockierender Deformation und dem Verlust seines normalen Lebens. Sue zog zwischenzeitlich das amouröse Interesse von Prinz Namor dem Sub-Mariner auf sich, der wie ein aufgegeilter Peter Pan aus den Tiefen emporgeschwommen war. Und Johnny hatte mit seiner „Hitzköpfigkeit“ zu kämpfen.
Der Marvel-Superheld war geboren. Ein Held, der sich nicht nur mit Monstern und wahnsinnigen Wissenschaftlern, sondern auch mit uns allzu vertrauten persönlichen Problemen herumschlagen musste.
Bald wurde die sturmgeladene Atmosphäre der frühen Fantastic-Four-Abenteuer durch einen leichten Fluss ersetzt, der von großem Drama, Science-Fiction, Situationskomödie und Pathos bis zu komplett neuen Herangehensweisen an das Superhelden-Genre alles bieten konnte. Die verstrahlte Familie sollte Lee, Kirby und jedem, der ihnen folgen sollte, mit einem unaufhörlichen Vorrat an Geschichten, die zu Mythen werden konnten, versorgen. Böse Onkel, Hochzeiten, Geburten, Trennungen – Fantastic Four gab jeder Familienepisode einen Superhelden-Anstrich. Nach der Hochzeit von Mr. und Mrs. Fantastic entwickelte sich eine neue, verspieltere Dynamik, in der Reed und Sue als Mom und Dad, Johnny als flegelhafter Sohn und Ben als das monströse Riesenbaby fungierten.
Die Marvel-Supermänner (und -frauen) waren außerdem Wissenschaftler. Die Fantastic Four waren Astronauten. Der Hulk war ja eigentlich Bruce Banner, ein Physiker. Henry Pym, Ant-Man, war ein Teilchenphysiker. Spinnenmann Peter Parker war ein Wissenschaftsstudent. Don Blake alias Thor war Arzt. Aber Lee und seine Mitarbeiter – vor allem ein neu entbrannter Jack Kirby, der sich am Anfang seiner absoluten Hochphase befand, sowie Steve Ditko – sollten auch die dunklen Seiten des akademischen Superhelden zu Tage fördern.
Lee und Ditko schufen zusammen gleich den nächsten Hit für Marvel: Spider-Man. Eine weitere Neuerung: ein Superheld im Teenager-Alter, der kein Sidekick, nein, sondern der Star seiner eigenen Serie war. Und sein Name beinhaltete weder „Kid“ oder „Kumpel“. Peter Parker war, wie Lee am Ende des ersten Abenteuers schrieb, „der Held, der du sein könntest“. Er brachte eine neue Dimension an Realismus in die Superhelden-Comics und löste damit eine weitere Revolution aus. Parker, ein Nerd mit Brille, wurde der Welt im August 1962 in Amazing Fantasy #15 vorgestellt: „DAS EINZIGE PROFESSIONELLE MAUERBLÜMCHEN AN DER MIDTOWN HIGHSCHOOL.“
Es ist unwahrscheinlich, dass sich die jungen Leser der Superhelden-Comics mit Barry Allen oder Hal Jordan, attraktiven jungen Männern mit Karrieren und Freundinnen, identifizieren konnten. Doch Peter Parker entstaubte den Archetypus von Clark Kent und gab den Lesern einen Helden, der ein Teenager war und sich auch so benahm. Er konnte seinen Außenseiter-Status nicht mildern, indem er auf einen Job als Reporter oder einen Uni-Abschluss verweisen konnte. Sein linkisches Benehmen, seine verstohlene Art, seine Unsicherheit und seine ihn zermarternden Schuldgefühle unterschieden Spider-Man fundamental von den wohlerzogenen, sauberen Teenagern des 30. Jahrhunderts, die in den Legionen der DC-Helden oder in der Marvel-Family dienten. Diese Umstände ließen ihn aber dafür umso vertrauter wirken.
Das erste Mal begegnete man Peter Parker – er sprang weder durch die Luft, noch machte er Schurken dingfest –, als er, isoliert und in respektvollem Abstand, neben einer Gruppe lästernder Jugendlicher stand. Die physische und emotionale Distanz schien unüberwindbar. Der personifizierte Bücherwurm, mit hängenden Schultern, abgetragenen Klamotten und großen, runden Brillen, starrte hinüber zu den beliebten Kids, die über die absurde Idee, Peter zum Tanz einzuladen, kicherten. In einer Hand hielt der seine Schulhefte. Es war eine Szene, wie sie auf jedem Schulhof zu sehen ist, und viele von Spider-Mans jungen Lesern projizierten sich sofort auf den ruhigen, zurückhaltenden Peter Parker. Doch da war etwas Spezielles, Seltsames und Wunderbares an Peter. Anders als an Peter Pan haftete an ihm ein Schatten. Tatsächlich schien er in der Cover-Illustration einen dreigeteilten Schatten zu werfen: Man sah einen stolzen, muskulösen Mann mit in die Hüften gestemmten Händen, im Zentrum eines Spinnennetzes, die Umrisse einer riesigen Spinne über seinem Kopf. Offensichtlich war mehr an dem scheuen Mauerblümchen als mit bloßem Auge zu erkennen war. Das Bild war bereits atmosphärisch, aber Lee hatte gerade erst begonnen.
Lees begleitende Bildtexte repräsentierten keine leidenschaftslose Autorenstimme, sondern versprühten einen kumpelhaften Geist, der einen fühlen ließ, dass er, der Autor, bei seinem Leser wäre, mit ihm zusammen den Comic lesen und vor denselben schlimmen Situationen erschaudern würde. Der Comic selbst wurde zum Kumpel. Lee injizierte seine eigene Persönlichkeit in kleine Fußnoten, die Verbindungen zwischen Storys herstellten und die Leser an auffällige Fakten erinnerten – und das alles in Stans augenzwinkerndem „Hey-wie-geht’s-Kumpel?“-Stil. Und dann kam „Stan’s Soapbox“, eine regelmäßig erscheinende Bulletin-Kolumne, in der Stan rauslassen konnte, was ihn gerade bewegte. Meistens promotete er neue Marvel-Comics in leicht überspitztem Stil, nicht ohne eine gewissen ironische Distanz zu halten, doch oft ließ er seinen Gefühlen bezüglich Bürgerrechten und Weltfrieden freien Lauf.
Manchmal sprach er sogar darüber, welche Lichtgestalten der Nouvelle Vague den Büros von Marvel einen Besuch abstatteten: Federico Fellini, Alain Resnais und Jean-Luc Godard. Meist waren es „abgefahrene Franzosen“, wie Lee es ausdrücken würde, die die Comics schon lange in den Kanon ihrer Kultur, und zwar in Form von teuer gebundenen Dessinées oder Fumettis, aufgenommen hatten. Clevere und innovative Comic-Künstler, wie sie in Lees Crew saßen, mussten sich den französischen Autorenfilmern nicht beweisen, wohingegen der amerikanische Mainstream kaum Notiz nahm vom Artwork, der Sprache oder den radikal neuen Erzählstrukturen ihrer Arbeiten. Nicht vielen war die neue Underground-Mythologie überhaupt ein Begriff. Innerhalb von zehn Jahren sollte das Marvel-Universum jenes von DC als erfolgreichstes, sowohl bei den Verkaufszahlen als auch bei der Zustimmung der Fans, überflügeln.
Ab 1965, mit einem erfolgreichen Stall voller neuer und unkonventioneller Superhelden, darunter der Hulk, Daredevil, Iron Man, Thor und Giant Man, ließ Lee auf jede neue Ausgabe das Banner „A MARVEL POP ART PRODUCTION“ drucken. Einerseits, um sich von seinen biederen Mitbewerbern bei DC (er nannte sie liebevoll „Brand Echh“) abzuheben, andererseits, um sich mit der Popkultur im Allgemeinen zu assoziieren. Stan stachelte eine erbitterte Rivalität zwischen Marvel und DC an, doch der Gigant schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Aber die neuen Helden aus dem Hause Marvel strahlten eine so hohe Originalität und so viel Persönlichkeit aus, dass sie DCs Produkte daneben alt aussehen ließen und sie dazu zwangen, sich zu verändern, um noch mithalten zu können.
Die allerersten Worte in den Spider-Man-Comics signalisierten die neue Nähe zwischen dem Leser und den Comic-Machern, die zu Marvels Markenzeichen wurde. „MAGST DU VERKLEIDETE HELDEN?“, fragte Lee, obwohl wir das ja wohl mussten, wenn wir das Heft gekauft hatten. Es war selten, dass die Leser so direkt nach dem Produkt in ihren Händen gefragt wurden. Dann ließ er uns an ein paar Geschäftsgeheimnissen teilhaben, um unser Vertrauen zu gewinnen: „IM VERTRAUEN, WIR IM COMIC-BUSINESS NENNEN SIE STRUMPFHOSEN-CHARAKTERE! UND WIE IHR WISST, GIBT ES SIE WIE SAND AM MEER! ABER WIR GLAUBEN, DASS IHR UNSEREN SPIDERMAN EIN BISSCHEN … ANDERS … FINDEN WERDET!“
Mit einem kurzen Bildtext wurde Lee zu einem Freund, einem Vertrauten. Er erinnerte uns gleich zu Beginn, dass wir eine erfundene Geschichte lesen würden, dann schuf er mit Ditko eine Story, die so unwiderstehlich war, dass sie einen in sich hineinsaugte, und das, obwohl sie ja nur fiktiv war. Was für eine große selbstdarstellerische Leistung. Die Story war perfekt aufgebaut, und das auf gerade mal elf Seiten. Als Brian Michael Bendis im Jahr 2000 beauftragt wurde, den Ursprung Spider-Mans für eine neue Generation von Lesern neu zu erzählen, brauchte es sechs 22-seitige Ausgaben, um dieselbe Geschichte im „dekomprimierten“ Drehbuchstil der Comics des 21. Jahrhunderts wiederzugeben.
Peter lebte wohlbehütet bei seinen ältlichen Beschützern, Tante May und Onkel Ben, wurde aber von jedem Mädchen, das er traf, zurückgewiesen.
„EINES TAGES WERD ICH ES IHNEN NOCH ZEIGEN! [Schluchz] EINES TAGES WIRD ES IHNEN LEID TUN – LEID TUN, DASS SIE MICH AUSGELACHT HABEN.“
Zum Glück für unseren Helden sollte „eines Tages“ schon wenige Minuten später eintreffen, als Peter von einer Spinne gebissen wurde, welche versehentlich eine ungewöhnlich hohe Strahlendosis während eines wissenschaftlichen Versuchs abbekommen hatte. In der realen Welt wäre Peter an der Strahlenkrankheit erkrankt und in verwirrter Agonie und ohne Haare und Zähne nach wochenlangem Siechtum gestorben. Jedoch befand er sich im Marvel-Universum, das seine eigenen Regeln hatte. Im Marvel-Universum war radioaktive Strahlung so etwas wie Feenstaub: bestäube damit einen Wissenschaftler, und – voilà! – ein Superheld ward geboren. Strahlung war verantwortlich für die Ursprünge der Fantastic Four, Spider-Mans, des Hulks, der X-Men, Daredevils und vieler weiterer früher Marvel-Charaktere, für die sich die gefürchteten Isoptope in wunderbare Brennstäbe der ungeahnten Möglichkeiten verwandelten. Lee stahl der Bombe ihre verheerende Strahlung und nutzte sie, um die Dunkelheit für Kinder wie mich – die im eisigen Schatten der Bombe aufwuchsen – mit außergewöhnlichen Helden zu beleuchten.
Es lag in der Tradition der Superhelden, sich in der Verbrechensbekämpfung zu engagieren, sobald sie mit einem peinlichen Kostüm und einem lächerlichen Namen aufwarten konnten. Die mysteriösen Helden des Goldenen Zeitalters hatten sich gegen das Verbrechen gewandt, weil man das eben so machte. Und DCs Wissenschaftler-Helden des Silbernen Zeitalters taten es, weil sie darüber in Comics des Goldenen Zeitalters gelesen hatten. Man musste weder ihre Welten zerstören noch ihre Eltern meucheln. Sie setzten ihre neuen Fähigkeiten gegen das Verbrechen ein, weil sie am Wohl der Allgemeinheit interessiert waren. Stan Lee berief sich auf das ursprüngliche Prinzip. Im Marvel-Universum brauchten Helden Motive und Begründungen. Nachdem er seine Kräfte erhalten hatte, war Peter Parkers erste Wahl, nicht etwa Kriminelle zu jagen, sondern Geld zu machen. Er benützte seine Spinnenkraft für einen Wrestling-Kampf. Dies brachte ihm die Aufmerksamkeit eines Fernsehpromoters ein, der ihm einen Haufen Kohle anbot, damit er in der Ed-Sullivan-Show auftreten würde. Peter nahm an und entwarf sein Kostüm – nicht um Kriminelle zu ängstigen oder sein Wappentier zu repräsentieren, sondern damit er im Fernsehen gut aussehen würde. Das war für 1962 ein komplett neuer Ansatz. Hier gab es einen Helden, der die Promikultur vorwegnahm. Innerhalb weniger Tage war Spider-Man die „SENSATION DER NATION“, doch Lee und Ditko waren noch nicht fertig mit uns. Sie mussten diesen leicht unsympathischen, größenwahnsinnigen Nerd noch in einen Superhelden verwandeln, was ihnen mit einer klassischen Sequenz gelingen sollte. Spider-Man hatte gerade die Medienmeute abgehängt und war bereit, sich leise davonzumachen, als er die Rufe eines Polizisten vernahm, der ihn um Hilfe rief, um einen fliehenden Gangster dingfest machen zu können.
Spider-Man ignorierte eigensinnig die Rufe des Cops, der Dieb entwischte in den Aufzug und konnte so entkommen. Dieser war erleichtert: „ZUM GLÜCK HAT MICH DIESER KOSTÜMIERTE FREAK NICHT AUFGEHALTEN!“
Als der Cop Spider-Man abmahnte, hatte der Noch-Nicht-Held bereits eine abschätzige Antwort für ihn parat: „SORRY, KUMPEL! DAS IST DEIN JOB! ICH LASS MICH NICHT LÄNGER HERUMSTOSSEN – VON NIEMANDEM! VON NUN AN KÜMMERE ICH MICH NURMEHR UM DIE NUMMER EINS – DAS HEISST – MICH!“
Es war leicht vorherzusehen, dass eine Tragödie unmittelbar bevorstand, als die stets fürsorglichen und so stolzen Onkel Ben und Tante May für Peter ein Mikroskop, das er sich sehnlichst gewünscht hatte, besorgen wollten. Peter kam von einem weiteren Fernseh-Auftritt und sah Polizeilichter rund um sein Haus. Ein Einbrecher hatte Onkel Ben erschossen, und als ein erzürnter Spider-Man den Killer bis zu seinen Unterschlupf verfolgte, erkannte er den Mann, den er drei Seiten zuvor hatte entkommen lassen. Peter war schuld am Tod seines Onkels. Batman konnte wenigstens jemand anderem die Schuld am Tod seiner Eltern zuweisen. Es war der Zeitpunkt gekommen, an dem Spider-Man, der Entertainer, von Spider-Man, dem Verbechensbekämpfer, abgelöst wurde – angetrieben durch die furchtbare Last seiner Schuld.
Als die kleine, von Ditko illustrierte Silhouette in die mondbeschienene Finsternis der City wanderte, schloss Lee dieses erste ernüchternde Abenteuer mit folgenden unsterblichen Worten: „AUS GROSSER KRAFT FOLGT GROSSE VERANTWORTUNG!“
Der abschließende Bildtext führte uns aus dieser intensiven, emotional aufgeladenen Situation mit einer seltsam phrasierten Erinnerung, das all dies nur Fiktion war: „UND SO WIRD EINE LEGENDE GEBOREN, UND EIN NEUER NAME LEUCHTET UNTER JENEN AUF, WELCHE DIE WELT DER FANTASIE ZUM AUFREGENDSTEN GEFILDE ÜBERHAUPT MACHEN!“ Pickelige, hormongeplagte Outsider bekamen in Peter einen neuen Helden. Clark Kent hatte seine eigene Wohnung und einen festen Job, Peter hingegen war der geborene Loser. Er entlarvte die Wahrheit hinter den überzuckerten Lügen eines Barry Allens oder Ray Palmers: Kein gutaussehendes Girl hatte je etwas für Wissenschaftler übrig. Peter baute Scheiße, bekam die Grippe, verlor sein Geld und auch mal die Hoffnung. Peter saß in seinem beschädigten Kostüm in seinem Zimmer im Haus von Tante May in Queens, während die Zeitungen seine Art der Verbrechensbekämpfung als Bedrohung für die Gesellschaft brandmarkten.
Frisch aus dem Ofen hatte Marvel in kurzer Zeit zwei Hits gelandet, die das Superhelden-Paradigma komplett neu definierten. Mit neuen, sorgenvollen Helden ausgestattet, begannen die Storys vermehrt aufeinander aufzubauen sowie aufeinander zu verweisen, um so ein immer größer werdendes Mosaik einer völlig neuen Welt zu schaffen. Bei DC konnte ein welterschütterndes Ereignis im Zentrum des Geschehens einer Ausgabe stehen, aber in der nächsten bereits wieder vergessen sein. Batman konnte sich in seinem eigenen Comic um ein gebrochenes Bein kümmern, während er in World’s Finest, Detective oder Justice League über Häuserdächer hüpfte – das Marvel-Universum jedoch setzte auf eine solide Kontinuität. Wenn Peter also eine sichtbare Schramme am Ende einer Episode hatte, so hatte er diese auch noch am Beginn der nächsten, was die ganze Marvel-Linie zu einer großen, miteinander verwobenen Saga werden ließ.
Fantastic Four hatte vertraute Familiendramen zu übermenschlichen Epen werden lassen. Nun verwandelte Spider-Man den gewöhnlichen Teenager-Alltag in eine absonderliche, symbolische Seifenoper. Spider-Man war staksig und gelenkig wie sein Namenspatron – und Ditko bildete ihn gerne in verdrehten und unnatürlichen Posen ab. Er hatte kein Gesicht. Im Goldenen Zeitalter hätte das gesichtslose Design seiner Maske gut zu einem unheimlichen und wortkargen Rächer gepasst, doch Lee hatte die geniale Vision, ihn zum mitteilsamsten Helden überhaupt zu machen. Spider-Man konnte einfach nicht aufhören zu quasseln! Er verspottete seine Feinde, riss Witze und kommentierte jede seiner Handlungen, jedes Gefühl. Es schien, als ob der schüchterne Peter lebendig wurde, sobald er sein Gesicht in die Maske steckte. Als Spider-Man schwang er sich mithilfe seiner klebrigen Netzflüssigkeit nahezu schwerelos die Straßen Manhattans rauf und runter.
Zusammen überholten Kirby und Ditko den Look der amerikanischen Comics und etablierten einen Grundtenor zweier gegenseitig voneinander abhängiger Ausdrucksformen. Auf der einen Seite waren da die Comics und Superhelden, die durch den schroffen Kriegsveteranen Kirby repräsentiert wurden, der so etwas wie der Picasso, oder noch passender, der William Blake des Superhelden-Genres war, der die Grundregeln für die Manipulation und Verzerrung der Perspektive festlegte. Auf der anderen Seite bereitete der einzelgängerische Brillenträger Ditko den Weg für verschiedene Stilelemente des alternativen Underground-Comics, bediente sich eines gemäßigten Tempos und hatte thematische Vorlieben, die direkt zu den politischen Ansätzen und dem Formalismus führen sollten, der sich später in Werken wie Watchmen widerspiegelte.
Ditkos regelmäßige Panelen waren wie die Fenster von Wohnanlagen, die einem mitunter den Blick auf bizarre Wunder freigaben. Wo Kirby danach strebte zu expandieren, wollte Ditko seine Welt einfangen und umfassen, schichten und regulieren, wozu er sich eines metronomischen, repetitiven Rhythmus bediente, der es ihm erlaubte, die Kontrolle zu bewahren. Bemüht, die Gewöhnlichkeit und die Wahrheit des echten Lebens zu vermitteln, zeichnete Ditko seine Figuren dünn, gebückt, zurückgezogen und einfach. Er zeichnete sie schwitzend, schluchzend und kauernd, was es nur umso bewegender machte, wenn sie ihre Ängste überwanden, um das Richtige zu tun.
Ditko verschrieb sich Ayn Rands Philosophie des Objektivismus, damals eine populäre Antwort auf die Ernüchterung der Psychoanalyse und des Zusammenbruchs der „Werte“ zu einem relativistischen Chaos. Die einfachen und aggressiven Unterscheidungen des Objektivismus gefielen Ditkos analytischem Verstand und versorgten ihn mit neuen Einfällen, um die herum er seine Welt effizient organisieren konnte. Mehr und mehr tendierten seine Comics in Richtung einer verwirrenden, überhitzten Polemik.
Es war unvermeidbar, dass seine kompromisslose Weltanschauung sich nicht mit Lees liberaler „Warum können wir nicht alle miteinander klarkommen?“-Philosophie vereinen lassen würde und sich ihre Wege trennen mussten. So fiel Spider-Man in die Zuständigkeit des neuen Zeichners John Romita, der Peter attraktiv werden ließ und ihm zwei „zum Sterben heiße“ Freundinnen zur Seite stellte. Wovon eine, Gwen Stacy, tatsächlich sterben musste. Sogar Tante May wurde von todgeweihter Gebrechlichkeit auf betagte Robustheit umgemodelt, womit auch der letzte Nachhall von Ditkos heruntergekommener, mondäner Authentizität zum Verstummen gebracht wurde.
Anders als die DC-Helden mit ihren totemistischen Schwachstellen gegenüber Holz oder Feuer (oder im Falle von Green Lantern, der Farbe Gelb), hatte jeder Marvel-Held eine psychologische Achilles-Ferse. Wenn sie kein tödliches persönliches Geheimnis mit sich herumschleppten, waren sie keine guten Marvel-Helden. Und sie kämpften andauernd. Superhelden hatten in den Dreißigern gegen die Ungerechtigkeit gekämpft, sie kämpften gegen Hitler in den Vierzigern und bekamen es anschließend, in den Fünfzigern, mit Monstern und Aliens zu tun. Die Marvel-Figuren der Sechziger bekämpften sich gegenseitig in epischen Auseinandersetzungen, fighteten gegen Bösewichte wie Doctor Doom, Magneto, Galactus, Doctor Octopus und den Green Goblin, welche alle mit Persönlichkeiten und zusätzlichen charakterlichen Dimensionen ausgerüstet waren. Was sie zu mehr machte als den üblichen Despoten, Schurken und Verrückten. Ein ermutigter Lee versuchte sich an den erhöhten Rhythmen der jambischen Pentameter und fand einen Weg, eine pseudo-shakespearische Stimme zu rekreieren, so dass Peter Parker von einer Schuld angetrieben wurde, neben der Hamlet wie ein Taugenichts aussah.
Direkt aus einem meiner Schmierhefte nun die Details eines feinen Tages eines Siebenjährigen inmitten des Summers of Love, meine ersten aufgezeichneten Eindrücke von einem Marvel-Comic: „Ich habe einen Drachen und einen Magneten. Ich habe auch dicke Comic-Hefte. Ich habe einen mit zwei Leuten. Eine heißt Wonderful Wasp und der andere heißt Giant Man. Sie kämpfen gegen jemanden mit dem Namen Human Top.“
Und trotzdem gab es etwas, das mir an den Marvel-Superhelden missfiel. Ihre Charaktere wirkten durchgehend wütend und verstört und mich nervten die Geschichten, in denen sich die Helden untereinader zankten. Spider-Mans stressiges Leben war eine Spur zu erwachsen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mein Vater zum Pazifisten. Er und meine Mutter hatten sich darauf verständigt, dass ich nach den „Prinzipien der Gewaltlosigkeit“ erzogen werden sollte, was bedeutete, dass Pistolen und Kriegsspielzeug oder Uniformen missbilligt wurden. Sie gingen mir nicht ab, und mir gefiel es sogar, mich als Pazifisten zu bezeichnen, weil ich fand, dass es mich anders und interessant machte. Als die Pfadfinder bei uns an der Tür standen, um neue Mitglieder zu rekrutieren, fixierte ich stolzen Blickes ihren Anführer und ließ ihn wissen: „Ich weigere mich, in irgendeine paramilitärische Organisation einzutreten, und das gilt auch für die Pfadfinder.“
Mir gefielen meine Helden, wenn sie auftauchten und ohne großen Aufwand die Dinge in Ordnung brachten, ohne dass sich auch nur das kleinste Hindernis zwischen ihnen und ihrem Erfolg breitmachte. Ich wollte, dass alle Kriege vorbei wären, damit wir das Geld endlich für Raumschiffe und Kolonien auf dem Mars ausgeben konnten.