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ОглавлениеDIE ÄUSSERE
WELT
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Immer wieder wurde ich von den Endoern nach der Kultur der Senjasantii gefragt. Es liegt in der Natur intelligenter Wesen, Interesse für eine fremde Spezies zu zeigen, die ähnliche Leistungen in der inneren und äußeren Welt erbringt.
Die Senjasantii kannten bereits den Sprungantrieb, als die Endoer noch nicht einmal ihr eigenes Planetensystem erkundet hatten. Doch mein Volk wollte sich nie in der Elawaia ausbreiten und andere Planeten in Besitz nehmen. Die Senjasantii bereisten die äußere Welt, um stets auf ihren Heimatplaneten zurückzukehren. Es waren die Endoer, die den Ring mit unterlichtschnellen Fahrzeugen besiedelten. Sie wollten auf jedem neu erreichten Planeten ein zweites Lentan oder Cantori errichten. Dabei haben sie in der äußeren Welt zunehmend den Bezug zueinander verloren. Die Bewohner von Cantori, Snrial oder einer der Welten der Vehazzi gehören nicht mehr zur selben Gemeinschaft.
Die Senjasantii dagegen haben nicht nur ihre äußere, sondern auch ihre innere Einheit gewahrt: Wir sind eine Gesellschaft von Koexistierenden. Wir kennen keine Dialekte, wie die Endoer, nur eine Sprachform, die über die Jahrhunderte hinweg gleichförmig weitergegeben wurde. Unsere Prinzipien überliefern wir nach einem strengen Kodex, der sowohl die äußere wie die innere Welt erklärt. Unsere Kinder führen wir in einem vielschichten Verfahren in diese Welten ein und differenzieren ihre Ausbildung lediglich im Hinblick auf ihre zukünftigen Aufgaben im Dienste unseres Volkes. Wir beschäftigen uns mit Ressourcen und planen über die eigene, im Vergleich mit den Endoern kurze Lebensspanne weit hinaus. Das Konzept des Geldes ist uns fremd: Besitz betrachten wir als flüchtig, und letztlich gehört alles allen und niemandem. Wir begegnen Wissen als auch Können mit großem Respekt, ein Wort für Wissenschaft kennen wir allerdings nicht.
Früh bemerkte ich, dass die Endoer mehr als nur flüchtige Neugierde gegenüber den Senjasantii verspüren. Viele kleiden mein Volk in metaphysische Mythen und schreiben ihm übernatürliche Fähigkeiten zu. Ich habe gar Endoer getroffen, die uns als Halbgötter betrachten. Solche Verklärung hat mich wiederholt beschäftigt, die ich den längeren Teil meines Lebens unter den Endoern verbracht habe. Erst das Unverständnis, mit dem Endoer den Senjasantii begegnen, ließ mich erkennen, wie sehr sich unsere Kulturen unterscheiden.
Man kann die Senjasantii nicht durch die äußere Welt verstehen, die uns hervorgebracht hat. Der Planet, der den gleichen Namen wie das Volk trägt, ist für uns eine Erscheinung in der Raumzeit, deren Schönheit wir schätzen. Es sind allerdings innere Aspekte, die uns formen. Wenn ich so spreche, verstehen mich die Endoer meist nicht, darum will ich folgende Beschreibungen hinzufügen:
Mein Heimatplanet ist ganzjährig warm und stets wolkenverhangen. Weite Teile sind von fruchtbaren Meeren und flachen Landmassen bedeckt, zwischen denen Tiere aller Art hin und her wandern. Der Stern Shiksoo strahlt in einem weißen Licht, das die vorherrschenden Farben Blau und Grün, die silbernen Wolkenbänder und die ständig vorhandenen Farbillusionen des in der Luft schwebenden Wassers erleuchtet. Am meisten vermisse ich den kühlen, schweren Geruch und die durch die dichte Atmosphäre gedämpften Geräusche. Unsere kupferfarbene Haut hat sich an den Regen wie auch, wenn die Wolkendecke aufreißt, an die grelle Sonne gewöhnt. Wir haben angefangen, Siedlungen zu bauen, die zunehmend größer und schöner wurden. Heute stehen 22 Städte im Meer, beginnen tief unter Wasser und ragen bis in die Wolkendecke empor. Alle weisen symmetrische Formen nach mathematischen Harmonien aus. Wir bauen mit unterschiedlich harten Kunststoffen, die wir in Form gießen oder die sich je nach Funktion selber formen. Unsere Bauten sind wie unsere Sternenschiffe beweglich und gleichzeitig belastbarer als der rote Stahl von Cantori. Doch all diese Erscheinungen in der äußeren Welt, in der die Senjasantii sich ausdrücken, erklären nicht, wer wir sind. Die Entstehung meines Volkes beginnt in der inneren Welt: mit der Deutung erster Zeichen, mit dem ersten verbindenden Erkennen, mit den ersten Senjasantii, die die Schwarze Harfe spielten. Wir haben entdeckt, dass wir ebenso die äußere Welt hervorbringen, wie sie uns. Mehr noch: Dass die äußere Welt uns in einer gewissen Zufälligkeit erschafft, wir jedoch die äußere Welt umso planvoller gestalten, je stärker unsere innere Welt ist. Unsere wachsende Erkenntnis ließ uns Energiequellen erschließen, Schiffe zu den Sternen senden und eine hoch entwickelte Zivilisation errichten.
Ein deutlicher Ausdruck des Zusammenspiels beider Welten ist die Art, wie mein Volk die Geschicke der Senjasantii bestimmt: Das höchste politische Gremium ist der Blaue Rat, bestehend aus neun auserwählten Mitgliedern. Diese Mitglieder entscheiden alle wichtigen Fragen der äußeren Welt. Bestimmt werden sie aufgrund der Fähigkeiten ihrer inneren Welt. Das darf nicht mit dem verwechselt werden, was die Endoer »Erfahrung« nennen, die mit den Jahren und der Zahl der Erlebnisse in der Regel steigt. Die jüngsten Mitglieder des Blauen Rates wurden im selben Alter auserwählt, in dem ich Bromen Cossan zum ersten Mal in der Luke seiner Fähre erblickte: dreizehn Jahre also in der Zeitrechnung der Könige von Endo. Die Endoer fragen mich dann meist: Wer findet und bestimmt die Mitglieder des Blauen Rats? Ich antworte: Es sind die Spielenden, die noch über dem Rat stehen. Und wer sind die Spielenden? Es sind jene, die den Traum der Schwarzen Harfe vollständig durchlaufen haben, jene, die also die Schwarze Harfe spielen. Der Blaue Rat regiert uns, doch die Spielenden bestimmen unser Schicksal. Im Schrein der Harfe träumen sie und senden dem Blauen Rat ihre Botschaften: einen Auftrag, eine neu gewonnene Erkenntnis oder den Namen eines neuen Ratsmitgliedes.
Ich weiß, dies ist für Endoer schwer zu verstehen. Ich kann lediglich auf das zentrale Merkmal der inneren Welt verweisen: Die Schwarze Harfe. Existiert sie wirklich? Gewiss, doch nicht als Gegenstand in der äußeren, sondern als Zeichen der inneren Welt. Ich finde es seltsam, dass die Endoer Tatsachen der inneren Welt nicht für real halten. Jede Wirklichkeit ist stets sichere Existenz und bloße Möglichkeit zugleich. Die innere Welt zeigt sich in Bildern, Vorstellungen und Träumen.
Doch wie sind innere und äußere Welt verbunden? Wie kann man ein Ereignis in der Zukunft so klar sehen, dass es sich in der Wirklichkeit der äußeren Welt ereignet? Wie gelingt es, sich ein Sternenschiff vorzustellen, sodass es in der Wirklichkeit gebaut werden kann? Einigen Senjasantii gelingt dies immer wieder. Auch gewissen Endoern ist, so wissen wir heute, eine solche Konjunktion zwischen innen und außen bekannt. Der Traum bleibt jedoch meist zufällig, instabil oder ereignet sich nur einmal im Leben: in einer einzigen Begegnung, in einer einzigen Erkenntnis, in einem einzigen Treffer nahe dem Zufall. Es gibt allerdings einzelne Wesen, die die innere und äußere Welt in nahezu vollkommener Weise zusammenbringen. In ihrer stärksten Form erkennen sie nicht nur dauerhaft die Parallelität beider Welten, sondern sie schaffen kausale Brücken von innen nach außen und von außen nach innen: die Spielenden. Diese Bezeichnung rührt von einem symbolhaften, in verschlungenen Episoden verlaufenden Traum: dem Spiel der Schwarzen Harfe. Die Metapher der Harfe und ihr Spiel wird von den Spielenden selbst so genannt. Sie ist und bleibt ein Geheimnis bis zu dem Tag, da dieser Traum selber erfahren wird.
♦ Habun Illban Ja’en | Um Bromen ist im Ring nach der Blockade von Basteron eine Kontroverse entstanden, die bis heute andauert. Die Vehazzi haben nichts weniger als seinen Kopf gefordert. Cantori wiederum hat eine eindeutige Botschaft vom König verlangt, nämlich Bromen Cossan zu degradieren und aus der Flotte auszustoßen. Dass die Maluken von Kontan über diese martialischen Forderungen jubelten, versteht sich von selbst. Bromens Blockade spaltete die Bewohner des Rings regelrecht, die einen hielten sein Vorgehen für den Akt eines Vrakaans, die anderen für verdientes Recht auf Vergeltung; die einen ächzten über die Selbstherrlichkeit von Endo, die anderen bewunderten den Mut und das taktische Kalkül des Laars von Gelb-07. Aus den zahlreichen Zeitzeugnissen möchte ich die Stellungnahme des damaligen obersten Gegenwartsgelehrten der Akademie der Tausend Hornbäume auf Lentan zitieren, die mir einigermaßen weitsichtig scheint:
In allen Informationssphären lesen wir: Aus dem Nichts ist der Name Bromen Cossan in unser Bewusstsein katapultiert worden. Kommt er aus einer vornehmen Familie? Ist er ein altgedienter Laar wie die ehrwürdige Renta Jaro? Nein und nochmals nein, heißt es: Bromen Cossan sei jemand, dem lediglich die höchstmögliche Ehre zuteilwurde, an unserer Königlichen Akademie, der Hochburg des Wissens im Ring, zu lernen; und der das Glück hatte, den Angriff auf Ronwal, in den er als Untergebener verwickelt war, zu überleben. Bromen Cossan sei also einer, der nur durch Zufall ein Kampfschiff im Ring befehlige. So hören und so lesen wir – und empören uns mit solchen, die da lästern: Ein unwürdiger Niemand sei dieser Bromen Cossan.
Doch ich halte dagegen, denn solche Worte beleidigen meinen Intellekt. Zufall und Glück sollen am Werke sein, wo ich vielmehr Planung, Berechnung und Kompetenz zu entdecken vermag – das Talent eines vielversprechenden jungen Laars. Ich entgegne also: Wäre Bromen ein Nichts, ein Zufall im Weltgeschehen, ein Narr von einem Laar, so brauchen wir uns nicht zu erhitzen; gewiss wäre alles bald vorüber und vergessen. Doch vielleicht täten wir Endoer – von welcher Ringwelt wir auch kommen – gut daran, eine Ausrede vorzubereiten für den Fall, dass in Kürze uralte Narben im Ring aufplatzen, sich entzünden und in diesen Flammen noch immer Bromen Cossan, der angebliche Niemand, seine bösen Späße mit uns treiben sollte.
Der König von Endo hielt sich vorerst bedeckt. Es ist klar, dass mein Großvater Bromens Tat für ehrenvoll gehalten hat – so sehr, dass er die Ehre weit höher wertete als die offensichtlichen Risiken. Vielleicht war er, der Abkömmling der mächtigen Dynastie der Habun Illban, einfach auch der Diplomatie überdrüssig. Die Drohgebärden in der RHF wuchsen; gleichzeitig ließen Vrakaane im Sold der Vehazzi weiterhin Schiffe in ihrem Sektor verschwinden. Auch darüber wurde in den Informationssphären der Ringwelten kontrovers diskutiert.
Am Tag 113 des Jahres 705 tauchte erstmals das Gerücht einer Kriegserklärung auf, die Cantori angeblich Lentan gegenüber ausgesprochen hatte. Tatsächlich erschien das Wort Krieg in keiner offiziellen Depesche; Cantori forderte jedoch das Recht ein, selber Kriegsschiffe zu bauen, um sich »im Falle einer unbekannten Bedrohung« (so die Sprecher der RHF) zur Wehr setzen zu können. Getroffen haben mussten meinen Großvater die unverhohlen geäußerten Beleidigungen, die Monarchie von Endo sei unfähig, im Ring für Ordnung zu sorgen. Am Tag 182 des Jahres 705 gab mein Großvater allen Kriegsschiffen den Befehl, bisherige Allianzen zu ignorieren und in allen Missionen das Recht und die Sicherheit von Endo zu priorisieren, gleichgültig, welchen Parteien gegenüber.
Die Kreuzer der Sarrakadan-Klasse wurde neu gruppiert, und Bromen Cossan wurde mit Gelb-07 in die Region des Harodin-Nebels entsandt, eine weitläufige, im roten Spektrum schimmernde Gasanomalie in einer Entfernung von 11 bis 19 Lichtjahren von Endo. Nachdem der Handel via Cantori, Snrial und Ronwal nahezu zum Erliegen gekommen war, wurden die Warenströme aus dem Harodin-Nebel für Endo überlebenswichtig. Die Welten in dieser Region, allen voran Sentria und Bria, unterhielten allerdings auf undurchsichtige Weise untereinander und im Ring Beziehungen als Handelspartner oder Konkurrenten. Die zunehmenden Kriegsgerüchte führten zu einer unaufhaltsamen Destabilisierung der Region, die Gelb-07 mit »angemessenen Mitteln« – so mein Großvater – unterbinden sollte. Tatsächlich kam es Ende 705 wiederholt zu Scharmützeln um meist wehrlose Frachtschiffe. Ich will einen kurzen, illustrativen Bericht aus Cantori anfügen:
Beobachter im Harodin-Nebel haben erneut den Schauplatz eines skrupellosen Überfalls unbekannter Herkunft auf ein interstellares Frachtschiff besucht. Wie bei vorangegangenen Fällen stand auch dieses unter der Flagge des Königreichs Endo. Die Besatzung hatte nach angedrohtem Beschuss sofort kapituliert, und die Vrakaane waren in der Folge gewaltsam an Bord gekommen. Die Fracht aus Lebensmitteln, Rohstoffen und Halbfabrikaten war umgeladen worden, so weit die Ladekapazität der Angreifer dies zuließ. Danach wurden die elf Besatzungsmitglieder exekutiert. […] Auch wenn bisher kein Handelsschiff unter RHF-Flagge im Harodin-Nebel aufgebracht worden ist, sollten wir besorgt sein […]. Der König von Endo hat Kriegsschiffe entsandt, aber es ist sehr zu bezweifeln, ob diese die Situation in einem so weiten Raum wie dem Nebel unter Kontrolle bringen können. Auch der von Cantori geächtete Bromen Cossan soll angeblich einen der Endo-Kreuzer befehligen.
Bromen Cossan blieb also Laar in der Königlichen Flotte. Mehr noch, er fand im Gefolge der übrigen Laare der Flotte zunehmend Anerkennung. Diese begrüßten offensichtlich, durch ihn nun endlich wieder zur gefürchteten und somit respektierten Macht im Ring zu werden. Bromen machte dem Taktieren ein Ende und handelte überaus erfolgreich. Als Gelehrter bezweifle ich, ob mein Großvater wirklich erkannte, was er tat, indem er Bromen vorbehaltlos unterstützte. Im Grund ermunterte er alle Laare, ohne seinen Befehl zu handeln – wenn sie nur seinen mutmaßlichen Willen interpretierten.
Se’en Linnt war zum elften Laar in der Königlichen Flotte ernannt worden. Er übernahm am Tag 132 des Jahres 705 den Kreuzer der Sarrakadan-Klasse Schwarz-04, der von den Königlichen Werften fertiggestellt worden war. Im silbernen Audienzsaal übergab der König Se’en Linnt seinen ersten Auftrag, und zwar die Gestaltung eines Bündnisses zwischen dem Königreich Endo und dem fernen Volk der Senjasantii.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Im Alter von neun Jahren, gemessen in der Zeitrechnung der Endoer, nahm mich mein Vater auf meine erste Reise zu den Sternen mit. Für Senjasantii ist dies ein übliches Alter, um entweder Mutter oder Vater bei deren Aufgaben zu begleiten. Wir lernen unsere Tradition durch Beobachtung der äußeren Welt. Dieser Reise fieberte ich entgegen, da mein Vater eine bedeutsame Stellung für mein Volk bekleidete: Kurz vor meiner Geburt hatten ihn die Spielenden zum Mitglied des Blauen Rats erwählt. Mein Vater war zuvor zum Gelehrten ausgebildet worden, der sich mit Resonanzerscheinungen befasst: in der Atmosphäre von Himmelskörpern, in subatomaren Vorgängen wie auch in sozialen Gruppierungen. Er verfasste eine ästhetische Abhandlung, in der er die destabilisierenden Ereignisse in der Elawaia voraussagte, die zum Krieg unter den Endoern führen würden. Hashisanii, die Jüngste der Spielenden, erkannte darin die Konjunktion einer klaren Voraussage. Nach seiner Ernennung zum Mitglied des Blauen Rates gab mein Vater seine Arbeit auf und beaufsichtigte den Schutz der äußeren Welt von Senjasantii.
Ich erinnere mich, wie das kleine Fährschiff vom geschwungenen Ausleger des Ratsgebäudes ablegte. Die Halteverbindungen zogen sich sanft in den Rumpf zurück wie die Ranken einer Wasserliane. Der Regen prasselte in dieser Höhe heftig auf die gewölbten Fenster. Auf der gerundeten Fassade des hohen Gebäudes bildeten sich kleine Strudel und tanzende Verwirbelungen, ehe das Wasser in die Tiefe stürzte, hinunter ins hellgrüne Meer. Mein Vater saß neben mir auf den hellen Sesseln, und legte seine Hand auf meine Schultern.
»Wir werden die Regenleuchten bald erreichen. Die Zeit wird dir kurz und intensiv erscheinen«, sagte er, und seine zwei Stimmen verbanden gleichzeitig Ankündigung und Zuneigung. Er trug nicht wie sonst einen weiten Mantel, sondern ein schlichtes, wasserabweisendes Gewand in graubrauner Farbe.
»Ich fürchte mich nicht«, antwortete ich. Das stimmte, doch war es mir seit einigen Tagen vor Aufregung fast unmöglich, länger als einige Stunden zu schlafen. Nicht nur stieg ich zum ersten Mal über die weißen Wolken von Senjasantii auf, sondern das Fährschiff trug mich in eine Höhe, in der man das Licht der Sterne immerwährend sieht. Die Regenleuchten, so sagte mein Vater, würde ein Kriegsschiff der Endoer treffen, das vom König von Endo entsandt worden und bis jenseits des grünen Planeten Talkahalas gereist war. Ich fragte, warum dieses fremde Schiff hier war, doch mein Vater wusste darauf keine Antwort. Ich wiederum ahnte nicht, dass in diesem Moment meine Reise in die Elawaia begann, die bis heute nie an ein Ende gekommen ist.
Unruhig saß ich auf dem sich um meinen Körper formenden Sessel der Fähre. Sie stieg schnell in die auf dieser Höhe ständig vorbeiziehenden Nebelfetzen. Die Stadt mit ihren grünen Gebäuden verblasste unter mir. Die Wolken klarten auf und verwandelten sich in ein blasses Blau. Ich hielt den Atem an, als wir die Wolkendecke durchstießen. Gebannt schaute ich durch das konvexe Fenster, hinter dem sich wenige Augenblicke später das tiefe Schwarz des Alls zeigte. Unter mir breitete sich silbern und scheinbar unermesslich unser Planet aus, über dem wir weiter an Höhe gewannen. Shiksoo blendete mich grell über dem gleißenden Horizont. Dann sah ich die Regenleuchten, ein zylinderförmiges Objekt mit einer glänzenden, gleichmäßigen Oberfläche und weiten Ausläufern. Die letzten Vorkehrungen zum Start wurden getroffen. An einem der repolymerisierenden Arme legten wir an. Die Halterung meines Sitzes zog sich zurück, und ich spürte die Schwerelosigkeit vollständig. Es war ein tiefes Glück, das mich durchströmte, und ich erinnere mich, dass mein Vater mir mit stiller Freude zusah.
Wenig später schwebten wir durch hell erleuchtete Gänge zum Zentrum des Wächterschiffs. Damals glaubte ich, dass alle Raumschiffe innen so geräumig sind. Die Regenleuchten war erfüllt von dezenter Schönheit, was vom altweißen, selbst leuchtenden Kunststoff herrührte, der alle Oberflächen überzog. Der Schiffsführer und seine Stellvertreterin begrüßten meinen Vater, indem sie mit den Fingern respektvoll ihre Schläfen berührten. Auch mich hießen sie willkommen. Ihre dunkelblau schimmernden, mit Wabenmuster überzogenen Anzüge betonten ihre schlanken Körper. Damals, als mir die Stellvertreterin das Schiff zeigte und auch nach Stunden über meinen Fragen nicht die Geduld verlor, war ich noch ganz Kind.
Schreiben will ich jedoch von dem Moment, da ich zum ersten Mal in der äußeren Welt einen Endo-Kreuzer sah: Zuerst seine Signatur auf den weißen Flüssigschirmen, die am Sprungpunkt erschien und in einem weiten, harmonischen Bogen verlangsamte, dann die visuelle Vergrößerung, die ein dunkles Schiff mit kantigen Konstruktionselementen zeigte. Ich eilte zu einem der großen Fenster und sah den fast schwarz wirkenden Endo-Kreuzer mit eigenen Augen. Der Schiffsführer sagte mir, dass dieses Schiff die Kennung Schwarz-04 trug. Ich erinnere mich, dass ich dachte, alle diese Schiffe müssten Schwarz genannt werden.
♦ Habun Illban Ja’en | Über Ronwal waren die Senjasantii unerwartet erschienen und hatten den Kreuzer Gelb-07 der Königlichen Flotte in Sicherheit geschleppt. So etwas war vor dem Jahr 702 noch niemals vorgekommen. Zwar gab es immer wieder Sichtungen von Wächterschiffen; die Senjasantii tauchten auf und zogen vorbei wie Gespenster im Weltraum. Nicht wenige Endoer fanden die leuchtenden, lang gezogenen Formen dieser Schiffe unaussprechlich schön. Ihre Welt, der Planet Senjasantii, wurde – wenn auch nur aus weiter Ferne – schon vor 200 Jahren entdeckt; es waren die Pioniere der ersten Kolonisierungswelle, die nach Jahrhunderte dauernder Reise am anderen Ende des Rings angelangt waren. Überliefert sind jedoch nur wenige Gelegenheiten, in denen ein Endoer einen Senjasantii von Angesicht zu Angesicht getroffen hatte, und es gab lange Zeit kaum holografische Abbildungen von ihnen. Tatsächlich weisen ihre schlanken Körper einige Ähnlichkeiten mit den Endoern auf, etwa was Größe oder Verteilung der Gliedmaßen betrifft; dennoch wirken sie durch ihre kupferfarbene, haarlose Haut, die Form und den Glanz ihrer grünen Augen sowie ihre anmutigen Bewegungen fremd. Auch der mehrstimmige Klang ihrer Stimme, als ob zwei Wesen gleichzeitig sprechen, ist für Endoer unverständlich und irritierend.
Die Senjasantii waren niemals kriegerisch und reagierten auf gesendete Nachrichten der Endoer meist freundlich, aber distanziert. Zu Beginn der zweiten überlichtschnellen Expansion hatte der damalige König, mein Urgroßvater, sogar einen permanenten Botschafter erbeten, und die Senjasantii hatten dieser Bitte nach einigem Zögern entsprochen. Auf den Gesprächen mit diesen Botschaftern basierte nahezu alles Wissen, über das Se’en Linnt auf seiner ersten Mission verfügte. Das Weltbild der Senjasantii war ihm weitgehend unbekannt. Schiffe, die es bis dahin gewagt hatten, ins System der Sonne Shiksoo vorzudringen, waren ausnahmslos weggewiesen oder weggeschleppt worden. Die beweglichen Ausleger ihrer schnellen Wächter verfügten über die sonderbare Eigenschaft, an jedem Schiff andocken und es mit sich ziehen zu können. Die Senjasantii haben zu allen Zeiten ausdrücklich verboten, ihre Heimatwelt zu betreten. Endoer – Vrakaane oder Abenteurer –, die den Planeten dennoch betraten, blieben verschwunden. (Heute wissen wir, dass sie ihr weiteres Leben auf dem Planeten verbringen mussten.) Die Technologie der Senjasantii war in einer Weise überlegen, dass sie lange Zeit die Endoer mühelos auf Distanz hielten. Kleine, meist unbedeutende Artefakte von Senjasantii-Technologie waren zwar bereits im Zuge der ersten Expansion gesucht und erzielten hohe Preise. Doch insgesamt standen die vielen Mythen, die es über die Senjasantii gab, eigentlich im Widerspruch zu den wenigen echten Begegnungen mit ihnen. Im Grunde wussten wir nichts über ihre Kultur. Erst Shikani, Tochter der Senjasantii, hat uns diesen Zugang eröffnet. (Oder sollte ich gar schreiben: Bromen Cossan?)
König Habun Illban Eto dachte offenbar im Jahr 705, dass eine Allianz mit den Senjasantii im Bereich des Möglichen lag. Die Vorteile lagen auf der Hand; doch ich kann den Optimismus meines Großvaters bis heute nicht recht nachvollziehen. Dabei ist mir auch der Gedanke gekommen, dass es gar nicht Optimismus gewesen sein könnte, sondern eine schleichende Verzweiflung angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der industriellen Übermacht Cantori oder auch angesichts der Vorstellung, dass es zu einer Verschwörung aller Ringwelten gegen Endo kommen könnte. Tatsächlich begann Cantori in diesem Jahr mit der Produktion einer eigenen Kriegsflotte. Und ebenso ist es eine Tatsache, dass erstmals im Jahr 705 einzelne Ringwelten (im Harodin-Nebel) nicht mehr nur heimlich Vrakaane entsandten, sondern sich provokativ Vrakaan-Welten nannten. Eine Allianz mit den Senjasantii, so hoffte mein Großvater, würde entgegen all diesen Entwicklungen die Macht von Endo wiederherstellen.
Ich stelle mir vor, wie Se’en Linnt vor seiner Reise zu den Senjasantii dem König im silbernen Audienzsaal gegenübersaß und dessen Anweisungen entgegennahm, wie er sich in seiner dunklen Uniform mit den schwarzen Streifen und den drei holografischen Sternen auf seiner linken Schulter vor dem König ein letztes Mal verneigte. (Es existiert bedauerlicherweise kein Protokoll über dieses Gespräch.)
Vermutlich war einer der letzten Abschiede jener von meiner Mutter. Die beiden standen auf der großen Terrasse der Residenz über den Lagunen – im Hintergrund der weich gezeichnete Horizont des Meeres. Haben Se’en und Etani über den König gesprochen, über Bromen und seinen Einsatz im Harodin-Nebel, über Se’ens Mission ans andere Ende des Rings? Beide haben mir nie davon erzählt. Bekannt ist mir einzig, dass Se’en meiner Mutter in diesem Moment das blaue Amulett mit dem versteckten Sender gegeben hatte, mit der Bitte, es immer auf sich zu tragen.
Ein Segelschiff brachte Se’en Linnt nach Illban-Stadt; dort bestieg er ein interplanetares Transportschiff zur Kriegswerft über Lentan, wo die letzten Anpassungen an Schwarz-04, dem neuesten Endo-Kreuzer, vorgenommen wurden. Se’en übernahm seine neue Besatzung, darunter auch den mir so vertrauten, stets etwas spröde wirkenden, damals jugendlichen Lek Malega. Se’en Linnt setzte sich erstmals in die Druckliege des Laars in der Zentralkugel, ein stattlicher Endoer von 26 Jahren mit rotbraunem Bart, und informierte seine Pentaare über die ungewöhnliche Mission zu den Senjasantii. War Gelb-07 das Schiff der Träume meiner Kindheit in der Residenz über den Lagunen, so war Schwarz-04 jener Kreuzer, zu dem ich mich selbst zugehörig fühlte.
Die ersten Sprünge brachten Schwarz-04 nach K. H. Eto, den neuen Königlichen Hafen Eto, eine kurz zuvor errichtete Station 3,2 Lichtjahre von Cantori entfernt; Cantori war inzwischen für sämtliche Kriegsschiffe von Endo gesperrt. Der weitere Kurs führte über Sanderwel und Serokontan (die für Endo-Kreuzer offen blieben), dann Snrial, Trimbal Beta und Sip-21 mit seinen magnetischen Stürmen und schließlich bis nach Talkahalas. Von dort aus richtete der neu ernannte Laar seine Botschaft an die Senjasantii – mühselig übersetzt, obschon die Senjasantii die Sprache der Endoer seit mehr als 250 Jahren sprechen. Es war die Botschaft, die Shikanis Vater empfing:
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Ich erinnere mich, wie mein Vater lange und mit sichtlicher Verwirrung auf die Botschaft des fremden Ankömmlings geschaut hatte, die der ovale Flüssigschirm anzeigte. Sie war, wenn auch überaus unbefriedigend, in der Sprache meines Volkes formuliert. Der Schiffsführer stand schweigsam neben ihm. Ich wollte meinen Vater fragen, was das fremde Schiff von Endo mitteilte. Doch er wehrte ab: »Nicht jetzt, Shikani.« Seine Stimmen klangen angespannt.
Der Schiffsführer winkte seine Stellvertreterin herbei. »Komm, Shikani. Wir überlassen deinen Vater seinen Aufgaben.«
Ich löste meine Halterung und folgte ihr, indem ich mich leicht abstieß und quer durch das Zentrum des Schiffs in einen der Nebenräume schwebte.
»Was hat mein Vater für eine Botschaft erhalten?«
Die Stellvertreterin legte den Kopf ein wenig schief. »Es ist eine Grußbotschaft des Königs von Endo. Du weißt, dass die Endoer gegenwärtig einander zum Feind werden.«
»Der König ist an Bord?«, fragte ich mit großen Augen.
»Nein, Shikani. Einer seiner Laare.«
Wir erreichten einen Erholungsraum, und die Stellvertreterin wies mir eine bequeme Liege zu. »Laar werden die militärischen Schiffsführer von Endo genannt. Das Königreich unterhält elf interstellare Kriegsschiffe in der äußeren Welt, und in der inneren existieren bereits weitere. Auch Cantori hat begonnen, Kriegsschiffe zu bauen.«
»Laar«, flüsterte ich vor mich hin. »Kennst du jenen Laar in dem schwarzen Schiff?«
»Er heißt Se’en Linnt, wir haben zuvor noch nie von ihm gehört.« Sie füllte ein Getränk in eine Trinkblase. »Einige der Laare sind recht bekannt.« Sie blickte mich herausfordernd an. »Zum Beispiel Bromen Cossan, den sie den Vrakaan-Jäger nennen.«
»Bromen Cossan«, wiederholte ich leise.
»Dein Vater sorgt sich, da Bromen Cossan eine Reihe von Kriegshandlungen begangen hat. Und dabei immer siegreich war. Der Blaue Rat vermutet sogar, dass die Silberhorizont wegen ihm vor einiger Zeit zum roten Gasriesen Ronwal entsandt worden ist«, sie blickte mich eindringlich an, »von der Spielenden Hashisanii persönlich.«
»Warum dieser Bromen Cossan?«
Die Stellvertreterin nippte an ihrer Trinkblase und schwieg. Offensichtlich gab es darauf keine Antwort.
»Aber die Regenleuchten ist in der äußeren Welt das stärkere Schiff, nicht wahr? Wir könnten uns gegen diesen Se’en Linnt von Endo zur Wehr setzen?«
Die Stellvertreterin seufzte schwer und schloss ihre Augen. Sie suchte Worte in der inneren Welt: »Vor einigen Jahren noch, Shikani, waren wir uns alle sicher, dass es so ist. Doch es sind Kräfte in Bewegung gekommen, gerade das haben die Spielenden vorausgesehen. Wir wissen nicht, ob uns Laare wie Bromen Cossan und Se’en Linnt dereinst in Bedrängnis bringen werden. Vielleicht wissen es nicht einmal die Spielenden.« Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. »Aber viel deutet darauf hin, dass unsere innere Welt immer mächtiger sein wird als die der Endoer. Sorge dich nicht.«
Sorge war nicht, was ich verspürte. Meine innere Welt war in Aufruhr. Später erzählte mir mein Vater vom Wunsch der Endoer nach einem Bündnis, was von den Spielenden kategorisch ausgeschlossen wurde. Das Anliegen des Königs, eine Allianz mit Endo, war für die Senjasantii undenkbar. Mein Vater teilte dies dem Laar in knappen Worten mit. Doch Se’en Linnts Botschaft beinhaltete mehr, sie warf für den Blauen Rat, der so sehr um Stabilität in der Elawaia bemüht war, beunruhigende Fragen auf: Was sagte dieser Vorschlag des Königs über den Zustand der inneren und äußeren Welt der Endoer aus? Wie wollten die Senjasantii den Auswirkungen eines Aufruhrs im Ring begegnen? Und konnten die sich abzeichnenden Bruchlinien die Vorausschau der Spielenden und den Platz der Senjasantii in der inneren und äußeren Welt gefährden?
Ich erinnere mich an weitere Gespräche mit meinem Vater und der Stellvertreterin, lange nachdem wir uns vom Endo-Kreuzer getrennt hatten. In meiner inneren Welt formte sich auf seltsame Weise die Frage, ob denn unser Weg der Zurückhaltung wirklich der richtige war. Ein Endoer mag diese Frage für harmlos halten. So will ich hinzufügen: In mir keimte Zweifel, ob die äußere Welt stets aus der inneren heraus gestaltet sein muss. Sollte mein Volk seine Überlegenheit nicht ausspielen und in die äußere Welt eingreifen? Ich formulierte meine Überlegungen meinem Vater gegenüber.
»Überlass das den Spielenden, Shikani«, antwortete er streng. »Vertraue in das Wissen unseres Volkes.«
Kurz vor unserer Ankunft auf Senjasantii wollte ich erneut mit ihm darüber sprechen. Daraufhin wurde er wütend und sprach nicht mehr davon.
♦ Habun Illban Ja’en | Mit ihren Bedenken sollte Shikani recht behalten. Die Strategie der Zurückhaltung, von der sich die Senjasantii über Jahrhunderte hinweg haben leiten lassen, war nicht aufrechtzuerhalten. Die gesamte äußere Welt, um es mit diesen Worten zu sagen, wurde in den darauffolgenden Jahren vollkommen verändert. Die Zunahme der militärischen Konflikte mit den Vrakaanen und das Auftauchen der Fraktion der 1000 Messer auf Drial führten unweigerlich zum Krieg zwischen Endo und Cantori. Die Involvierung der Senjasantii in diesen Strudel von Ereignissen war unausweichlich. Was Se’en Linnt auf seiner Mission mit friedlichen Mitteln nicht erreichte, gelang einer kleinen Gruppe von Marodeuren knapp drei Jahre später mit Gewalt – sie kamen in den Besitz von Senjasantii-Technologie. Die Wolkenschimmer, die 709 von Vrakaanen gekapert und ausgeschlachtet wurde, war zwar kein großes Schiff wie die Regenleuchten; auch blieb die Senjasantii-Besatzung mehrheitlich unverletzt, und das gekaperte Schiff konnte später von der Windhauch geborgen werden. Der Angriff führte jedoch zum Ausbruch einer grauenvollen Seuche auf Senjasantii. Vermutlich war der Erreger, deren Trägerinnen die Vrakaane von Vehazzi waren, für Endoer mehr lästig als bedrohlich; für das in weitgehender Isolation lebende und immunologisch anders konstituierte Volk der Senjasantii erwiesen sich die Mikroorganismen allerdings als Katastrophe. Die Krankheit breitete sich in der feuchtwarmen Umgebung des Planeten rasant aus und zeigte eine Mortalitätsrate von mehr als 20 Prozent.
Man kann einwenden (viele haben das getan), dass der Angriff auf die Senjasantii nicht erfolgt wäre, hätte Bromen Cossan die Provokationen gegenüber den Ringwelten unterlassen. Doch ebendas führte in der unüberschaubaren Verkettung von Ereignissen zugleich dazu, dass die erste persönliche Botschaft einer Senjasantii an einen Endoer gesendet wurde, nämlich die verschlüsselte Nachricht der dreizehnjährigen Shikani an Bromen Cossan. Schließlich hätte das Schicksal wiederum eine gänzlich andere Wende genommen, hätte nicht Se’en Linnt politisch erreicht, dass Cantori vorerst auf eine militärische Parteinahme verzichtete – doch ich greife vor. Shikani hätte mich dafür getadelt, Lek Malega ebenso.
Im Jahr 706 beendete Se’en Linnt seine Reise zu den Senjasantii. Allerdings wurde seine erfolglose Mission überschattet von einem naheliegenderen Problem, einem Skandal im eigenen Haus Habun Illban. Auf Sarrakadan wurde das Kind von Prinzessin Etani geboren, ich selbst, Sohn eines unbekannten Vaters. Gewiss, ich stand weit entfernt in der Linie zum Thron; da waren zunächst meine Onkel und deren insgesamt sechs Kinder, die alle älter waren als ich. Sämtliche Mitglieder der Königlichen Familie stammten aus klaren Verhältnissen, nur meine Mutter hielt die Identität meines Vaters hartnäckig geheim. Die Wirren und Spekulationen um meine Geburt dokumentieren nicht nur die Königlichen Protokolle, sondern vor allem die zahllosen Beiträge in der Informationssphäre von Endo, die in bisher unbekannter Offenheit über die Königliche Familie berichteten. Man kritisierte zum einen die damals noch junge Prinzessin (Etani war bei meiner Geburt knapp 20 Jahre alt), zum anderen den hartherzigen König, der das »Findelkind« (so titelte die Subinformationssphäre von Kemmarilla) nicht anerkennen wollte. Das Volk war empört. Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde mir – jedoch erst ein Jahr später – die Würde der Königlichen Familie und der Name Königliche Hoheit Habun Illban Ja’en zugestanden. Ich erläutere das, um darzulegen, womit mein Großvater beschäftigt war und wie die Verhältnisse sich im Königreich geändert hatten. Zudem erklären die Umstände meiner Geburt, warum Etani im Ring bald zum bekanntesten Königskind wurde.
Mein Überblick über das Jahr 706 wäre unvollständig, wenn ich nicht von einer weiteren Persönlichkeit berichten würde, von Zenotron A’zoli vom Matriarchat der Drial-Vehazzi. Auf ihrer Heimatwelt trat die junge Endoerin schon früh und prägend in Erscheinung; sie war intelligent und attraktiv, mit hohen Wangen, hellblondem, vollem Haar und silbergrauen Augen, eine Novizin der Zetana-Priesterinnen; entsprechend waren die beiden Blutsymbole aus Keramik in ihre Wangen eingenäht. Ich habe sämtliche Schriften von Zenotron gelesen, die keineswegs als ungelenk zu werten sind. Die Vehazzi (obschon von Lentan abstammend) sind allerdings für die Endoer nicht leicht zu begreifen – nicht nur das Matriarchat ist uns fremd, sondern auch ihre Priesterinnenschaft, die der Prophetin Zetana und ihren martialischen Blutgedichten geweiht ist. Zenotron war zwar die Tochter einer Händlerin und genoss zunächst eine planerisch-technische Ausbildung, bevor sie berufen wurde; doch zu Zenotron passte weniger das Bild einer Priesterin, sondern vielmehr das einer Prophetin – ein Nimbus, der ihr selbst zugesagt haben musste und den sie in ihren Auftritten gerne vermittelte.
Die zwei Vehazzi-Welten um die Sterne Drial und Tser zeigten immer schon separatistische Züge. Beide waren weit weg von Endo, kontrollierten die Verbindungswege zum reichen Sternsystem Talkahalas und verweigerten sich gegenüber der Dominanz der Könige von Endo. Es gilt als sicher, dass die ersten Vrakaan-Schiffe von Drial stammten; sie wurden von der RHF geduldet, da die wirtschaftliche Bedeutung der Vehazzi ihnen eine Position der Unangreifbarkeit verschaffte. Es folgte der Vorfall bei Ronwal, bei dem sich eine Fraktion der Zetana-Novizinnen mit den Maluken von Kontan zusammentat, dann die unautorisierte Blockade von Basteron. Genug Material für Zenotron, um ihren Erzfeind, Bromen Cossan, zu bestimmen. Zenotron gründete Ende 706 die Fraktion der 1000 Messer im Untergrund. Die Kernidee dieses erst später paramilitärischen Verbunds war der Widerstand gegen Endo. Mit 1000 Messern wollte man sich gegen die Krone wehren. Zenotrons Agitation richtete sich im Jahr 707 vorerst gegen die scheinbar willkürlich handelnde Kriegsflotte von Endo. Somit war es ironischerweise Bromen Cossan und seine Blockade bei Basteron, die Zenotron berühmt machte. Die Anhängerinnenschaft der 1000 Messer wuchs sprunghaft und radikalisierte sich; es ist kein Zufall, dass nur ein Jahr später zwei neue Kriegsschiffe die Werften von Drial und Tser verließen, die die Namen Klinge I und Klinge II trugen.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Ich begann, Bromen Cossan zu studieren. Auf Senjasantii waren die Berichte der äußeren Welt mehrheitlich zugänglich, und über die Verbindungen meines Vaters konnte ich die Ereignisse im Ring verfolgen. Eifrig las ich über den Planeten Ronwal, wo Bromen Cossan erstmals eine bedeutsame Rolle zugedacht wurde, und analysierte seine Manöver bei der Doppelwelt der Kontaner und seine Blockade bei Basteron. Mich faszinierte die Klarheit, mit der er diese Manöver ausgeführt hatte. Nicht ein einziges Mal musste er seine Planung korrigieren. Diese Qualität würdigen wir Senjasantii auch bei unseren Gelehrten. Doch da war noch etwas anderes, das meine innere Welt berührte: Die Eigenständigkeit seiner Handlungen in der äußeren Welt. Als ich in Erfahrung brachte, dass seine Blockade nicht vom König autorisiert worden war, konnte ich zwei Nächte nicht schlafen. Er wurde nicht einmal bestraft, im Gegenteil: Der Respekt, den man ihm entgegenbrachte, vertiefte sich. Seit ich denken kann, wirkte das kollektive Denken meines Volkes unstimmig auf mich. Das Vertrauen, das die Senjasantii in ihre Tradition und das Wissen ihrer Vorfahren hegen, schien mir nie nur eine Stärke, sondern auch ein Hindernis zu sein. Meine Beschäftigung mit Bromen Cossan konkretisierte meine diffusen Zweifel. Er war Teil eines Kollektivs, und doch von seinem Volk und seiner Obrigkeit unabhängig. Ich fragte meine Lehrer, mit welchem Konzept dies zu verstehen sei, und erhielt nur unzureichende Antworten. Inzwischen weiß ich, dass die Endoer eine gänzlich andere Vorstellung von Richtig und Falsch haben als die Senjasantii: Ihre Identität liegt beim Einzelnen. Durch Bromen Cossan wurde mir bewusst, dass eine Person alleine die Geschicke eines Volks ändern kann. Dies traf mich wie ein Blitzschlag, und ich blickte lange fassungslos durch den schillernden Regen und auf das wogende Meer. In diesem Augenblick sah ich mich selber nicht mehr als eine Senjasantii unter vielen. Ich sah mich: ein einzelnes Wesen. Und in der Tiefe dieses Bildes erahnte ich die Möglichkeiten, die alleine in mir ihren Anfang nehmen konnten.
Bromen Cossan war zu jener Zeit am anderen Ende der Elawaia stationiert, in der gasförmigen Struktur namens Harodin. Die Nachrichten unserer Beobachter erreichten uns, von Wächterschiffen überbracht, in der Regel um 43 Tage verzögert. Es war für meine innere Welt zu Beginn schwierig, die Daten zu deuten und Muster darin zu erkennen. Doch geleitet von Hartnäckigkeit erkannte ich: Bromen Cossans Auftrag war, die Handelsrouten im Harodin-Nebel offen zu halten. Im Jahr 708 koordinierte er mit nur sechs anderen Kreuzern einen ausgedehnten Einsatz in einem Raumvolumen, in dem sich jeweils zeitgleich annähernd 1000 Frachtschiffe befanden. Unbekannte Akteure hatten wiederholt Händler aufgebracht und Besatzungen aus der äußeren Welt gerissen. Bromen Cossans Problem bestand darin, dass er niemals alle Routen über 9,6 Lichtjahre und 12 Sternsysteme sichern konnte. Er entwarf daher einen alternativen Plan: Die Taktik der 29 Tage. Bromen informierte alle Welten im Harodin-Nebel darüber, dass ausnahmslos sämtliche Schiffe, die die Handelsrouten störten, konsequent verfolgt und vernichtet würden, und zwar in jedem Fall innerhalb von maximal 29 Tagen. Dies konnte nur dann Erfolg haben, wenn Bromen seine Drohung in 100 Prozent der Fälle durchsetzte: Jedes Vrakaan-Schiff musste mit Gewissheit davon ausgehen, gestellt zu werden, um vor weiteren Angriffen zurückzuschrecken. Ich verstand, dass Bromen Cossan die Verteilung aller Kreuzer und Hilfsschiffe sowie das errechnete Zeitfenster von 29 Tagen überaus sorgfältig bestimmt hatte.
Ich habe dies in den Einzelheiten nachvollzogen: In den ersten drei Monaten verfolgten Bromens Kriegsschiffe zwölf Vrakaane: Alle wurden maximal nach 26 Tagen gestellt. In den darauffolgenden Monaten wurden sieben Schiffe aufgebracht, im längsten Fall 24 Tage nach dem jeweiligen Vorfall. Ende 708 mussten noch zwei Schiffe abgefangen werden. Das Harodin-Manöver war die bisher größte zusammenhängende Operation in der Elawaia. Ich habe erst viel später realisiert, was es heißt, Hunderte von beweglichen Objekten zu überwachen und zu koordinieren. Vollends deutlich wurde mir die Stimmigkeit von Bromens Taktik zu Beginn des Jahres 709, als Gelb-07 selbst ein marodierendes Schiff quer durch die Elawaia verfolgte und am 29. Tag nahe von Talkahalas aufbrachte.
♦ Habun Illban Ja’en | In der Tat ging die 29-Tage-Taktik eindeutig auf Bromen Cossan zurück. Sein Vorgehen mag kriegerisch scheinen (und so wurde es auch in der Informationssphäre genannt), aus wissenschaftlicher Perspektive sind jedoch vor allem zwei Aspekte interessant. Zum einen hatte Bromen gegenüber den anderen Laaren keine vorgesetzte Stellung; doch er war es, der 708 eine Konferenz der Laare einberufen und die 29-Tage-Taktik angeordnet hatte. Bromens Plan wurde nicht nur einstimmig beschlossen, sondern Gelb-07 übernahm offiziell die Führung. Zum Zweiten haben verschiedene Gegenwartswissenschaftler eine Parallele zwischen Harodin und den Ereignissen im Kontan-System erkannt. Hier wie dort hatte Bromen aggressive Drohungen mit genauen Ereignisbedingungen formuliert und in beiden Fällen konsequent durchgehalten. Seine Gegner hatten erkannt, dass mit Bromen nicht zu verhandeln war, und auch, dass er in allen erdenklichen Fällen den Willen und die Fähigkeiten besaß, den angedrohten Maßnahmen Taten folgen zu lassen. Letztlich waren seine Drohungen so wirksam, dass er jeweils nur einen geringen Teil tatsächlich vollziehen musste. Sein Vorgehen wirkt auch heute noch erbarmungslos, die Zahl der Opfer blieb jedoch in beiden Fällen überschaubar. Die einen behaupten, es lag am jeweils einfachen Wenn-dann-Schema, mit dem Bromen operierte. Andere dagegen – zu denen auch ich gehöre – sind der Ansicht, dass sich bei Bromen eine autoritäre Kraft zeigte, die ihm vollkommene Glaubwürdigkeit verlieh. Vermutlich war es das, was auch Shikani dazu brachte, ihn zu kontaktieren.
Die Verfolgung, die Shikani beschreibt, begann mit einem Angriff eines Rollm’edo-Schiffs auf einen interstellaren Endo-Frachter im Anflug auf Sentria. Rollm’edo ist ein kleiner Planet im Harodin-Nebel. Damals lebten auf der ganzjährig gefrorenen Welt lediglich 100 000 Endoer vom Erzabbau auf den Asteroiden des Systems – weswegen rasch Verschwörungstheorien in den Informationssphären kursierten, wonach die Rollm’edoer bestochen worden seien; zu Recht, wie sich zeigen sollte. Neben der in Aussicht gestellten Belohnung (durch die Drial-Vehazzi, wie wir heute wissen) muss sie gereizt haben, die 29-Tage-Taktik der Königlichen Flotte auf die Probe zu stellen. Im weitläufigen Harodin-Nebel wurde das Sprungecho der Vrakaane erst am äußersten Rand der Gasanomalie von einem Beobachter aufgefangen. Gemäß den Daten beschleunigte Gelb-07 kurz nach dem Eintreffen dieser Meldung unter Höchstlast. Bromen schien keine Sekunde gezögert zu haben, die Verfolgung aufzunehmen. Man muss bedenken, dass es durch den Ring nicht beliebig viele Routen gibt. Aufgrund der Spannungen zwischen Cantori und Lentan konnten viele Systeme entweder von den Vrakaanen oder von Gelb-07 nicht angesteuert werden. Gelb-07 folgte dem Vrakaan sozusagen im Zickzack-Kurs durch den Ring. Bromen musste sich somit Szenarien zurechtlegen, welches Endziel die Rollm’edoer anfliegen würden – einen Ort, um die Beute zu verkaufen und eine mögliche Belohnung zu kassieren. Dafür kamen nicht allzu viele Ziele infrage, die dreist und wohlhabend genug waren, dies zu tun. Cantori schloss Bromen offenbar aus, da es das Vermögen, aber nicht den Mut hatte; die Kontaner dagegen hatten wohl den naiven Mut, aber nicht die Mittel. Blieben einmal mehr die Vehazzi – mit zwei möglichen Zielen, Tser und Drial. Bromen tippte auf Tser und lag damit vorerst daneben. Die Geschichte ist schnell erzählt; nach seinem letzten Sprung ins System der Tser-Vehazzi verlangsamte Gelb-07 nicht, sondern suchte mit den Sensoren nach dem Vrakaan-Schiff, ohne es zu finden. Das war am Tag 26 nach dem Angriff auf den Frachter im Harodin-Nebel; der Endo-Kreuzer hatte seinen Wasserstoffvorrat beinahe verbraucht. Bromen leitete daher ohne Bremsmanöver eine gravitationale Umrundung der rot glühenden Sonne ein und raste an der Heimatwelt der Tser-Vehazzi vorbei, um dann ohne weitere Beschleunigung nach Drial zu springen. Die abgefeuerten Raketen der Tser-Vehazzi kamen nicht näher als 100 000 Kilometer an den Kreuzer heran. In der Informationssphäre der Vehazzi wurde empört über diese Attacke berichtet, mehrheitlich in der Tonalität des folgenden Beitrags:
Das Königreich Endo hat sich mit dem Erscheinen eines Kriegsschiffs über unserer Welt eine neuerliche und unverzeihliche Grenzüberschreitung geleistet. Ein Kreuzer passierte unseren Verteidigungsgürtel mit hoher Geschwindigkeit und offensichtlich abgeschreckt von den tapferen Kriegerinnen unserer Streitkräfte: Das Kriegsschiff ergriff nach wenigen Stunden die Flucht. Wir hoffen nun inständig, dass sich das Matriarchat von Tser und Drial zu einer Kriegserklärung gegenüber Endo veranlasst fühlt.
Das war angesichts der wahren Verhältnisse Unfug – doch Politik wird eben selten mit wahren Verhältnissen gemacht. Zwei Sprünge und 40 Stunden später – den Singularitätsantrieb musste Gelb-07 irgendwo im leeren Raum aliniert haben – erreichte Bromen Cossan das System der Drial-Vehazzi. Und tatsächlich war im Orbit um den Planeten das Vrakaan-Schiff von Rollm’edo auszumachen. An Bord musste Panik ausgebrochen sein, nachdem man den Verfolger entdeckt hatte, Bromen Cossan, den Vrakaan-Jäger. Dies mag erklären, warum die Rollm’edoer überstürzt den Orbit verließen und systemauswärts beschleunigten. Als das Vrakaan-Schiff rund vier Stunden später nahezu Sprunggeschwindigkeit erreicht hatte, war Bromen bis auf 15 000 Kilometer an seine Beute herangekommen. Eine Rakete von Gelb-07 zerfetzte einen der Tanks des Vrakaane, der gerade noch zum Sprung ansetzen und in einer Explosionswolke verschwinden konnte. (Die Rollm’edoer springen nicht mit Singularitäten, sondern mit thermonuklearen Explosionsschüben – daher haben sie stets blutunterlaufene Augen und eine niedrige Lebenserwartung.) Hamander Gira empfing das Sprungecho deutlich, und Bromen sprang hinterher. Hoch über der Ekliptik des magmatischen Riesenplaneten Sip-21 mit seinen immerwährend gigantischen Coriolisstürmen erfassten die Systeme von Gelb-07 den Vrakaan. Die Verfolgungsjagd führte in einer parabolischen Flugbahn zur Station des Planeten, wo die Verfolgten offenbar auf Unterstützung eines Vehazzi-Kriegsschiffs hofften. Die erste Rakete schaltete den Reaktor des Vrakaans aus, die zweite Rakete verwandelte ihn in einen Schlackeklumpen, der an der Station vorbeischoss und in den kilometerhohen Sturmwolken und magnetischen Scherkräften des dunklen Planeten verglühte. Gelb-07 alinierte seinen Singularitätsantrieb während mehreren Stunden bei nahezu Sprunggeschwindigkeit und sprang dann nach Talkahalas. Bromens Wasserstoffvorrat reichte nicht mehr für eine Verzögerung, weswegen Gelb-07 ein Notsignal absetzte, um dann am leuchtend grünen Planeten Talkahalas vorbeizuschießen – abermals mit Kurs in die Unendlichkeit.
All dies brachte Shikani auf ihrer Heimatwelt in Erfahrung. Und sie formte – ein Jahr vor dem Ausbruch der großen Seuche und dem Attentat auf meinen Großvater – in ihrer inneren Welt ein Bild von Bromen, wie er die äußere Welt bestimmte.