Читать книгу Die Schwarze Harfe - Gravity Assist - Страница 9
ОглавлениеDIE ZWEITE
EXPANSION
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Im Jahr 603 entdeckten die Endoer das Prinzip des Sprungantriebs. Zuvor waren sie bereits 524 Jahre lang unterlichtschnell in die Weiten der Elawaia vorgedrungen, nun bevölkerten sie die Sterne des Rings mit ihren Sprungschiffen. Sie nannten es: die zweite Expansion.
Mein Volk beobachtete diese Entwicklung mit Sorge. Die Spielenden träumten, dass die Monarchie von Endo versuchen würde, mit der neuen Technologie die äußere Welt zu dominieren. Tatsächlich entwickelte das Königreich immer bedrohlichere Waffensysteme, zuletzt die Kreuzer der Sarrakadan-Klasse, die aufgrund prinzipieller Resonanz irgendwann zum Einsatz kommen mussten. Zugleich erkannten die Spielenden, dass eine ebenso große Störung der inneren und der äußeren Welt von den aristokratischen Häusern von Cantori verursacht werden würde. Die prunkvoll auftretenden Aristokraten mit ihren farbigen Bändern, schillernden Roben und überheblichen Gesten gaben vor, lediglich regulären Geschäften nachzugehen und wachsende Märkte zu bedienen. Die Spielenden sahen jedoch voraus, welche Folgen der Zusammenschluss der Reedereien zur Ringhandelsföderation hatte: Wachsende Warenströme schufen unauflösbare Abhängigkeiten. Ein fragiles Handelssystem wurde geschaffen, das den aristokratischen Häusern und den herrschenden Monarchisten auf Endo zu dienen schien, dessen äußere Stabilität aber einer Illusion entsprang. Bromen hatte das lange vor allen anderen erkannt. Nach der Eindämmung der großen Seuche auf meinem Heimatplaneten im Jahr 712 folgte ich ihm, die erste Senjasantii überhaupt und das jüngste Besatzungsmitglied in der Königlichen Flotte. Meine Bewunderung für Bromen, der in den Weiten des Rings Vrakaane aufspürte, Konfrontationen nicht scheute und für seine Eigenwilligkeit statt Strafe Anerkennung erhielt, entfremdete mich von meinem Volk.
Mein Leben lang habe ich versucht, die Händler des Rings zu verstehen: die aristokratischen Häuser von Cantori, die großen Reedereien, den geheimen Temb’ran-Zirkel. Doch alles, was ich über sie in Erfahrung brachte, vergrößerte mein Misstrauen gegenüber den Prinzipien, an denen sie sich orientieren. Ich musste zum Beispiel lernen, dass den Händlern klare Verhältnisse nicht dienlich sind: Der Rat der Ringhandelsföderation etwa versteckt mit Bedacht die wahren Besitzverhältnisse der verschiedenen Reedereien. Noch weniger transparent ist, welche Rahmenabkommen für lukrative Handelsgüter gelten und welche Zeitverträge für bestimmte Strecken gehandelt werden. Der Temb’ran-Zirkel schließlich kontrolliert die über ihn verfügbaren Informationen nahezu vollständig und finanziert Geschäfte im Verborgenen und durch dezentral agierende Meisteragenten. Händler profitieren von der Unwissenheit ihrer Handelspartner und verschleiern, durch welche Transaktionen ihr Reichtum zustande kommt. Unklarheit schützt sie zudem vor möglichen Neidern, da die Benachteiligten stets nur vage ahnen, was ihnen entgeht. Händler wollen uns glauben machen, Tausch sei gerecht. Doch ein Händler sucht nicht Gerechtigkeit im Tausch, er sucht Vorteil. Unklarheit, die Störung der inneren und äußeren Welt, ist eine Voraussetzung, um zu Reichtum zu gelangen.
♦ Habun Illban Ja’en | Die Entdeckung der überlichtschnellen Sprungtechnologie knapp hundert Jahre vor der Eskalation über Ronwal veränderte die endoische Zivilisation fundamental. Die exponentiell wachsende Nachfrage erhöhte die Produktion von Gütern auf allen Ringwelten und führte zu einem dichten Netz von Versorgungsstationen im Ring. Durch den Raumzeitantrieb waren ferne Orte plötzlich nicht mehr Jahre, sondern nur noch Tage von den Märkten von Cantori oder dem Endo-System entfernt. Weitläufige Industrieanlagen überzogen zunehmend den ganzen Planeten Lentan; in kilometertiefen Schächten wurden Singularitätsgeneratoren gefertigt; die Komponentenproduktion in den Steinwüsten des Südkontinents verschlang Abertausende von Arbeitskräften; in trüben, gläsernen Kuppeln wurden standardisierte Nahrungsmittelkonzentrate produziert, um jene Endoer zu versorgen, die in der Düsternis technischer Anlagen, in orbitalen Werften und auf Frachtschiffen ihr Leben fristeten.
Die Architekten dieser neuen Welt waren nicht in monolithischen Großstädten oder klaustrophobischen Wohnhabitaten zu finden; sie saßen auf den Terrassen prachtvoller Häuser in der Halbwüste von Cantori und wirkten als Funktionäre in der Ringhandelsföderation oder am Hofe meines Großvaters. Die Gütermenge verdoppelte sich nahezu alle zehn Jahre; ein punktueller Ausfall des Güterverkehrs hatte schwerwiegende Folgen, da alle Welten vollständig voneinander abhängig geworden waren. Ringhändler wie Monarchisten wachten entschlossen darüber, jegliche Beeinträchtigung des Handels im Ansatz zu ersticken, sei es durch räuberische Vrakaane oder durch Kritiker aus den eigenen Reihen. Nachfolgende Zeilen, die ich vor über 30 Jahren am Institut für Gegenwartswissenschaften für die Informationssphäre von Angangira verfasst habe, wurden nicht nur von der RHF zensiert, sondern trugen mir – trotz der Protektion durch Konsul Linnt – eine scharfe Verwarnung ein.
Seit Beginn der zweiten Expansion nehmen die Märkte auf Cantori, Lentan und den größeren Ringwelten neue, exotische Produkte mit Begeisterung auf. Wie diese Güter über Lichtjahre hinweg herangeschafft werden – was dafür an Entbehrungen notwendig ist –, das interessiert die wohlhabenden Abnehmer nicht. Die Monarchisten auf Lentan und die aristokratischen Familienoberhäupter auf Cantori verstecken sich hinter Reedereien, Handelsorganisationen und Finanzhäusern mit spiegelglatten Oberflächen. Sie leben in einer isolierten Welt voller Überfluss. Natürlich verachten die Monarchisten die Emporkömmlinge der »ersten endoischen Kolonie« Cantori, und die Aristokraten belächeln wiederum die Höflinge von Endo. Beide vereint aber ihr Reichtum auf Kosten der breiten Masse. Schon vor der zweiten Expansion wurden Luxusprodukte im Ring gehandelt, etwa Talkahalas-Alidium, Aromastoffe, seltene Medikamente und berauschende Substanzen. Der Transport dauerte oft Jahrzehnte, und die Preise stiegen vom Produktions- bis zum Verkaufsort auf das Hunderttausendfache an – der Handel der ersten Expansion war entsprechend kein Massenphänomen. Dank der Sprungtechnologie aber kann ein Frachtschiff in weniger als 100 Tagen von Lentan nach Talkahalas und zurück reisen. Eine Strecke von fast 56 Lichtjahren ist mit rund 20 Raumzeitsprüngen zu bewältigen. Cantori erkannte unverzüglich das Potenzial dieser neuen Möglichkeit, investierte in Transportkapazität und Versorgungsstationen und wurde zur kommerziellen Supermacht. Im Verlauf des letzten Jahrhunderts wurden zunehmend Rohstoffe, Nahrungshalbfabrikate und ganze Fertigkomponenten im Ring verschoben. Die Masse der transportierten Güter führte dazu, dass die Ringwelten gegenwärtig ohne Handel nicht mehr lebensfähig sind – ganz besonders Lentan und Cantori. Die zweite Expansion veränderte das Leben sämtlicher Endoer, aber lediglich für eine kleine Zahl zum Vorteil. Es gibt zwar keine Hungersnöte mehr, aber die Mehrheit ernährt sich von künstlichen Substraten; es gibt auf jeder Ringwelt die Erzeugnisse jeder anderen Welt zu kaufen, aber nur für Auserwählte, die es sich leisten können; und es gibt für jeden Endoer Arbeit im Ring der Sterne, aber nur, wenn er bereit ist, dafür alles aufs Spiel zu setzen.
Der Handel im Ring war schon immer geprägt von Ausbeutern, Betrügern und Räubern. Die Vrakaane waren allerdings ein Phänomen der zweiten Expansion. Auf einem Vrakaan-Schiff anzuheuern war kaum viel riskanter als auf einem Frachtschiff der RHF – im besten Fall jedoch weitaus lukrativer. Als sich die Überfälle häuften, erklärte mein Großvater die Vrakaan-Jagd zur ersten Priorität der Königlichen Flotte. Angesichts der wachsenden Zahl von Frachtschiffen im Ring war es für die damals kleine Zahl von Endo-Kreuzern allerdings unmöglich, allen Geleitschutz anzubieten. Die Kriegsschiffe des Königs, so auch Gelb-07, kreuzten den Transportrouten entlang und pendelten zwischen den Versorgungsstationen. Jenseits von Sanderwel war dies ein abenteuerliches Unterfangen, da die Mehrheit der Stationen nicht von Ringwelten verwaltet wurde, sondern eigenständige Konglomerate mit dubiosen Sozialstrukturen bildete; deren Bewohner bauten aus der Atmosphäre des jeweiligen Planeten unter prekären Bedingungen Wasserstoff ab. Stationen von der Größe von Ronwal oder Basteron wurden lebenswichtige Knotenpunkte im Ring der Sterne. Selbst die armseligste Station in den Weiten des Alls hatte noch die Wirkung eines Wasserlochs in der Wüste.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Die Senjasantii streben Einheit in der äußeren und ebenso in der inneren Welt an. In der äußeren Welt suchen wir sie in der Natur, in dem, was Gelehrte darüber erfahren und Techniker darin erschaffen. In der inneren Welt suchen wir diese Einheit in der Art, wie wir die Welt als Ganzes erleben, wie wir Zusammenhänge erkennen, wie wir träumen. Wir können uns nicht vorstellen, dass irgendetwas wertvoll sein kann, das auf Ganzheit verzichtet: etwas das trennt, das einzelne Teile aufwertet, andere dagegen ohne Zwang abwertet, das Ungleichgewichte nicht nur in Kauf nimmt, sondern zum eigenen Vorteil sucht. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns von den Endoern. Unsere Differenz in der inneren Welt bewerte ich als größer als die der äußeren, etwa die Kupferfarbe unserer Haut, das Grün unserer lang gezogenen Augen, die Haarlosigkeit unserer schlanken Körper. Ein Beispiel für diese innere Differenz stellt unsere Sprache dar: Die Endoer hören zwar akustisch, dass wir gleichzeitig mit zwei asynchronen Stimmen sprechen. Doch sie können unsere Sprache weder verstehen noch erlernen, weil wir faktische Aussagen und ästhetische Eindrücke, die beide Welten zueinander referenzieren, gleichzeitig zum Ausdruck bringen. Unsere Zweistimmigkeit reflektiert unser ganzes Denken. Bis heute fällt es mir schwer, mehr als nur die faktische Dimension zu vermitteln, wenn ich in endoischen Dialekten spreche und meine Stimmen dazu synchronisiere.
Die größte Population der Endoer lebt im System Endo: auf Lentan, ihrem Ursprungsort. Die zweitgrößte findet sich im nächstgelegenen System auf Cantori. In Folge der ersten und zweiten Expansion sind die Endoer inzwischen über die ganze Elawaia verstreut: auf zehn planetaren Ringwelten und 79 weiteren Stationen. Ich erkenne darin den Wunsch, die äußere Welt zu erkunden. Auch die Senjasantii tun das, jedoch aus gänzlich anderen Gründen und auf unterschiedliche Weise: Wir erforschen die Elawaia, um mehr über die äußere und die innere Welt und damit über uns selber zu erfahren. Wir erobern nicht, wir beobachten aus der Distanz und lernen. Die Endoer wollen jedoch nicht nur sich selbst in der Welt erfahren, sie wollen sich ausdehnen und die eigene Lebenswelt gegenüber anderen abgrenzen. Mir scheint, dass sie lieber einen schmutzigen Felsen ihr Eigen nennen, als ein blühendes Paradies zu teilen. Konkurrenz bestimmt das Verhältnis der Endoer untereinander: Dies gilt für die Rivalität zwischen Monarchie und RHF wie auch zwischen den Aristokraten selber. Trotz dem dort entstehenden Reichtum ist Cantori eine geteilte, sich selbst und die ganze Elawaia konkurrenzierende Welt. Die Oberhäupter der Häuser beäugen einander argwöhnisch und achten darauf, dass keiner zu mächtig wird. Ihr vordergründiger Zusammenschluss zur RHF war eigennützig, ihre Freundlichkeit ist berechnend. Sie handeln mit allem, was vorübergehend oder dauerhaft Wert besitzt oder Vorteile verspricht.
Auch Bromen Cossan strebte wie die Aristokraten von Cantori nach Macht in der Elawaia. Er aber hat Mittel beansprucht, um seine Zwecke zu verfolgen, während den Aristokraten die Mittel selbst zum Zweck geworden sind. Bromen suchte Macht nicht zu seinem persönlichen Vorteil: Er selbst hat diesen Beweis am Ende angetreten, so deutlich, dass alle es erkennen konnten.
♦ Habun Illban Ja’en | Cantori ist nicht nur größer als Lentan und Sarrakadan, er verbindet ein mildes Klima mit großzügigen Landmassen in gemäßigten Breiten. Daher konnten die ersten Kolonisten, die den Planeten vor 430 Jahren besiedelten, eine Vielzahl von Nahrungsmitteln produzieren, Bodenschätze und Energievorkommen erschließen und aufgrund reichlicher Rohstoffvorräte eine beachtliche Industrie errichten. Die Aristokraten von Cantori sind Praktiker mit Sinn für Politik und Handel – Entdecker waren sie dagegen nie. Schon vor der zweiten Expansion huldigten sie dem König von Endo nur vordergründig und erweiterten zügig ihr eigenes Handelsnetz zu immer entfernter entstehenden Ringwelten. Die entsandten Raumfahrer stammten mehrheitlich von Lentan, die Schiffe wurden dagegen von Cantori finanziert, mit der Auflage, die Ergebnisse der jeweiligen Entdeckungsfahrt finanziell ausschlachten zu können. Die Realität jenseits glänzender Zahlen sah freilich anders aus. Die Liste der Unglücksfälle ist lang, etwa dealinierte Singularitäten, die ganze Schiffe verschlingen, Dekompression, explodierende Wasserstofftanks und defekte Sprungantriebe, die Frachter ins Nichts katapultieren, 100 Jahre vom nächsten Sternsystem entfernt. Und dann gab es immer wieder mysteriöse Vorfälle, die in den Informationssphären zirkulierten, zum Beispiel unerklärliche Seuchen, die ganze Besatzungen dahinrafften, oder Gerüchte von blutigen Meutereien und ausbrechendem Wahnsinn während Jahrzehnte dauernden Reisen.
Aristokratische Oberhäupter wie Hamburban Gira, Kerosan Duri oder Sludin Bero – und nicht etwa mein Großvater – waren die eigentlichen Herrscher des Rings. Als ich Angangira, die prächtige Stadt der Farben, zum ersten Mal in Begleitung meiner Mutter sah, beeindruckten mich die weitläufigen Fluchten aus warmem, hellbeigem Beton, die glatten Oberflächen der hohen Räume, die roten Stahlstreben und langen Markthallen, in denen stets ein angenehm kühler Wind zirkuliert. Der Palast der Ringhandelsföderation, der das Stadtzentrum dominiert, ist um ein Vielfaches größer als die Königliche Residenz über den Lagunen. Die rund zwölftausend Händler und Funktionäre, die dort ihren Geschäften nachgehen, tragen ausnahmslos elegante Gewänder, und es sind sämtliche endoischen Dialekte des Rings zu hören; die von künstlichem und natürlichem Licht durchflutete Anlage verströmt zu jeder Tageszeit eine wahrlich aristokratische Atmosphäre.
Die folgende Aufzeichnung des Oberhaupts des Hauses Gira dokumentiert eine Unterredung mit dem jugendlichen Se’en Linnt, drei Jahre bevor er an Bord von Gelb-07 gelangt war. Sie dokumentiert die Haltung der Häuser und lässt erahnen, warum Se’en nicht die ihm vorgezeichnete Karriere als Reeder verfolgt hat.
Aufzeichnungsfragment
[Privatarchiv von Hamburban Gira, Jahr 694]
Hamburban Gira | Gefällt dir Cantori, Se’en?
Se’en Linnt | Es ist eine wunderschöne Welt. Die Dämmerung der Halbwüste ist mit nichts vergleichbar.
Hamburban Gira | Nicht einmal mit der Schönheit von Sarrakadan, dem Planeten der Könige von Endo?
Se’en Linnt | Mein Vater hat mir von der einsamen Residenz über den Lagunen erzählt, vom selbstgerechten Hofstaat der Monarchisten rund um König Eto. Ich wüsste nicht, was ich da sollte. Angangira lebt, die übervollen Straßen, der herrliche Palast der RHF, all das ist voller Farben, voller Bewegung. Am Nachthimmel von Cantori glitzern tausend Schiffe im Orbit heller als die Sterne des Rings. Hier ist der beste Ort im Universum, ehrenwertes Oberhaupt des Hauses Gira.
Hamburban Gira | Du passt auch hierher. Ein gut aussehender junger Endoer aus bestem Hause. Wie ich höre, erfüllst du deine Aufgabe als Frachtkoordinator der Reederei deiner Eltern ganz hervorragend – beachtlich für dein jugendliches Alter.
Se’en Linnt | Danke. [3 Sekunden Pause]
Hamburban Gira | Dein Gesicht wirkt plötzlich ernst, Se’en, was ist es?
Se’en Linnt | Die Überfälle der Vrakaane häufen sich.
Hamburban Gira | Darüber darfst du nicht weiter besorgt sein, mein Junge. Die Reise in den Ring war immer beschwerlich. Es wimmelt von Gefahren, nicht bloß vonseiten der Vrakaane.
Se’en Linnt | Das mag für die erste Expansion gelten, ehrenwerter Hamburban. Aber seit wir den Sprungantrieb kennen, sollten Reisen im Ring doch einigermaßen kalkulierbar sein. Ich bin erstaunt über Ihre Haltung. Sterben denn nicht auch Frachterbesatzungen der Gira-Reederei?
Hamburban Gira | Sie kennen das Risiko. Dafür werden sie entlohnt. Komm, Se’en, wir wollen nicht mehr davon sprechen. Schau, der Stern von Cantori hat sich gesenkt, die Yelka-Bäume beginnen zu blühen.
Persönliche Ergänzung von H. G. zum Fragment:
Se’en Linnt, ältester Sohn der Linnt, eine Schwester und einen Bruder. Lebhafte Augen, halblange, rotbraune Haare, selbstbewusstes Auftreten. Sein militärischer Abschluss von Kemmarilla irritiert – warum keine kommerzielle Ausbildung? Fraglos talentiert. Spricht die endoischen Dialekte der Ringwelten fließend. Bewegt sich mit 15 Jahren bereits zwanglos im Palast der RHF. Beschäftigt sich allerdings noch mit idealistischen Ideen – wie für dieses Alter üblich.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Im Unterschied zu Bromen Cossan hatte Se’en Linnt den Palast der RHF schon vor dem Zwischenfall bei Ronwal mehrfach betreten. Er verkehrte in aristokratischen Kreisen, und dieser Umgang lehrte ihn eine Gewandtheit, die Bromen zeitlebens fehlte. Hamburban, das Oberhaupt des Hauses Gira, war mit der Linnt-Familie freundschaftlich verbunden. Vor der Eskalation über Ronwal traf Se’en ihn wiederholt in Begleitung von Renta Jaro. Das schien mir ausreichend, Se’en Linnt für die Anliegen der RHF empfänglich zu machen. Eine solche Gelegenheit konnten sich die hohen Häuser nicht entgehen lassen: Ein Abkömmling der größten Reederei von Lentan bekleidete die erste Funktion neben dem Laar eines endoischen Kriegsschiffs. Viele Jahre lang handelte ich in der Annahme, dass Se’en Linnt im Dienst der Aristokraten stand. Noch bevor er Führungspentaar wurde, so dachte ich, war der Anfangspunkt seiner Karriere gesetzt, die ihn schließlich zum Konsul der Ringhandelsföderation werden ließ. Doch am Ende meines Lebens betrachte ich es als Möglichkeit, dass Se’en Linnts innere Welt zu den eigennützigen Aristokraten stets Distanz gehalten hat: Er ist einer der wenigen, der an der Hoffnung auf Frieden in der äußeren Welt stets festgehalten hat.
♦ Habun Illban Ja’en | Als mich meine Mutter nach Cantori brachte, staunte ich – ein Achtjähriger – über die endlosen Plantagen und bis an den Horizont reichenden Fruchtfelder. In den von Trockenpflanzen reich bewachsenen Halbwüsten der Äquatorregionen befinden sich die großen Städte, so auch Angangira, sowie Frachthäfen und Fertigungsanlagen. Auch wenn 80 Prozent aller technischen Komponenten (einschließlich die komplexen Singularitätsantriebe) von Lentan stammten, wurden im Jahrhundert der zweiten Expansion neun von zehn interstellaren Frachter im Orbit von Cantori zusammengebaut.
Als junger Gelehrter und Gast auf unbestimmte Zeit im Haus von Hamburban Gira habe ich mich intensiv mit der Beziehung zwischen der Aristokratie von Cantori und der Monarchie von Endo beschäftigt. Meine Studien umfassten die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen der Handelsmacht Cantori und dem gesellschaftlich erstarrten Industrie- und Bergbaukomplex Lentan; ich beschäftigte mich eingehend mit politischen Gegensätzen, insbesondere dem vom König ins Mystische verklärten »Ursprungsort aller Endoer« gegenüber den gänzlich realpolitischen, ringumspannenden Verflechtungen in den Reihen der RHF; schließlich erforschte ich das militärische Ungleichgewicht der beiden Systeme. Die Aristokraten von Cantori unterhielten bis nach der ersten Ringkonferenz im Jahr 718 keine eigene Kriegsflotte, wussten aber, dass gegenüber den Vrakaanen – und ganz allgemein den Ringwelten – militärische Rückendeckung nicht schaden konnte. Mein Großvater glaubte allen Ernstes, mit seinen Kriegsschiffen den Ring beherrschen zu können, aber ich konnte zeigen, dass diese weitaus mehr die Interessen von Cantori verteidigten. Kreuzer wie Gelb-07 schützten Handelswege, die sich der Kontrolle der Monarchie weitgehend entzogen. Se’en Linnt hat mich (persönlich und in seiner Rolle als Konsul) in Angangira mehrere Male kritisiert, die hohen Häuser zu brüskieren und – mehr noch – meine Herkunft herabzumindern. Nicht jede Wissenschaft, so sagte er, sei produktiv. Wahrheit, so entgegnete ich jedes Mal, messe sich nicht an ihrer Produktivität.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Bromen erzählte mir, dass er Hamander Gira zunächst mit Vorbehalten begegnet sei. Die drei Jahre jüngere Cantori-Endoerin war Mitglied des Hauses Gira und damit eine Aristokratin von erstem Rang. Bromen musste sich gefragt haben, ob ihre Loyalität im Konfliktfall bei der RHF oder der Königlichen Flotte liegen würde. Hamander war eine selbstbewusste, ansehnliche Endoerin: groß gewachsen, kraftvoll in ihren Bewegungen, ein Gesicht mit ebenmäßigen, etwas kantigen Zügen und lebhaften Augen, die nach ihrer Verletzung über Ronwal eine rote Färbung behielten. Ihr Wesen war impulsiv, was sie gänzlich vom kontrollierten Bromen unterschied. Hamander war zweieinhalb Jahre vor dem Zwischenfall über Ronwal in Angangira rekrutiert worden. Im Auftrag von Renta Jaro brachte Bromen in Erfahrung, dass das Haus Gira intensiv mit den Drial-Vehazzi handelte, die zu Recht verdächtigt wurden, Vrakaane zu unterstützen. Doch wie Bromen fühlte sich Hamander nicht kommerziellen Interessen verpflichtet, sie verachtete geradezu die Verlogenheit der Geschäfte ihres Hauses. »Zwei Feinde stehen einander auf Leben und Tod gegenüber«, erklärte sie mir einmal, »zwei Händler tun es genauso, doch sie täuschen einander beste Freundschaft vor.« Sich um eine taktische Position auf einem Endo-Kreuzer zu bewerben entsprach nicht nur ihrem persönlichen Wunsch, sondern auch ihren Fähigkeiten. Das hatte Bromen erkannt: Hamander Gira wurde zu einem der fähigsten Pentaare und schließlich Laare der Königlichen Flotte. Bromen besaß die Begabung, seine eigenen Vorurteile zu überwinden und in seiner inneren Welt Möglichkeiten offenzuhalten, um auf diese Weise außergewöhnlich begabte Besatzungsmitglieder um sich zu scharen.
Aufzeichnungsfragment
[Transkription der Königlichen Flotte, Jahr 700]
Renta Jaro | Beschreiben Sie Ihr Verhältnis zum Haus Gira?
Hamander Gira | Ich bin ein Familienmitglied dritter Ordnung, da nur mein Vater, ein Neffe von Hamburban, zum engen Kreis der Giras gehört.
Renta Jaro | Ihre Erfahrungen auf den Schiffen der Gira-Reederei sind beachtlich: sieben Fahrten nach Talkahalas, vier in den Harodin-Nebel, die letzte als kommerzielle Planerin. Warum nun die Königliche Flotte?
Hamander Gira | Ich gehöre nicht auf ein Frachtschiff.
Bromen Cossan | Um das zu erkennen, haben Sie elf Fahrten durch den halben Ring benötigt?
Hamander Gira | Das habe ich wohl, Taktikpentaar.
Bromen Cossan | Als Mitglied der Aristokratie von Cantori sind Sie sehr reich.
Hamander Gira | Haben Sie ein Problem damit, Taktikpentaar?
Bromen Cossan | Wenn Sie meine Frage bereits kennen, können Sie gerne direkt darauf antworten.
Hamander Gira | [3,5 Sekunden Pause] Wie lautet Ihre Frage, Taktikpentaar?
Bromen Cossan | Jemanden an Bord zu haben, der die RHF so profunde kennt, erachte ich als Vorteil – allerdings nur, wenn diese Person ausschließlich im Dienst der Königlichen Flotte steht.
Hamander Gira | Sie bezweifeln meine Loyalität?
Bromen Cossan | Ich stelle Ihre Absichten nicht infrage, Hamander Gira. Aber es wäre unbedacht von uns, Sie an Bord zu nehmen und nicht davon auszugehen, dass Cantori seine Beziehungen spielen lassen und alles versuchen wird, Sie für die Ziele der RHF zu gewinnen.
Hamander Gira | [Laut] Sollen sie doch. Ich lasse mir von niemandem etwas vorschreiben. Ich war immer ziemlich eigenständig.
Bromen Cossan | Diese Antwort spricht nicht unbedingt für Ihre Eigenständigkeit.
Hamander Gira | [2 Sekunden Pause] Ich bin zweimal von Vrakaanen angegriffen, einmal sogar geentert worden. Meine Loyalität liegt bei den Frachterbesatzungen, die auf jeder Fahrt mehr Mut zeigen als meine Verwandten in ihrem ganzen Leben. Mit meiner Meinung habe ich nie zurückgehalten. Das Oberhaupt der Giras hat mir vor einem halben Jahr sogar untersagt, den Palast der RHF zu betreten.
Bromen Cossan | Das wissen wir, Hamander Gira. Das hat uns bewogen, Ihre Bewerbung zu berücksichtigen.
Hamander Gira | Aber Sie trauen mir nicht.
Renta Jaro | Wir bieten Ihnen die Möglichkeit, unser Vertrauen zu erwerben.
Hamander Gira | [5 Sekunden Pause] In Ordnung.
Renta Jaro | Sie gehört dir, Bromen. [Zu Hamander Gira] Willkommen an Bord.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Mein Volk hat die Fragilität des Raumzeitgefüges früh erkannt und in der inneren Welt durchdrungen. Unsere Berechnungen ließen uns bereits ein erstes Schiff durch einen Riss im Raum führen, als die Endoer gerade erst unterlichtschnell Sarrakadan erreichten. Das war vor 648 Jahren. Die Spielenden haben die Möglichkeit des Sprungs erträumt, und unsere Gelehrten haben die notwendigen Konstanten errechnet. Der Vollzug dieses Wissens in der äußeren Welt war die Folge einer präzisen Konjunktion: Dies gelingt nur jenen, die die Schwarze Harfe zu spielen wissen.
Elementarantrieb und Raumzeitantrieb sind zwei verschiedene Technologien. Der unterlichtschnelle Antrieb funktioniert nach dem Rückstoßprinzip mit hocheffizienten Wasserstoff-Elementarbeschleunigern. Die Beschleunigungsgrenze bestimmt die Besatzung, die ab 60 Metern pro Sekunde im Quadrat wachsende physische und psychische Probleme hat. Die Senjasantii waren davon überzeugt, dass eine unterlichtschnelle Expansion in die Elawaia zwar nicht unmöglich, aber unsinnig wäre: Die Distanzen sind um Zehnerpotenzen zu groß. Anders die Endoer: Sie haben den Ring unermüdlich über Jahrhunderte hinweg bereist und besiedelt, was mein Volk in tiefes Erstaunen versetzte. Viele sind aufgebrochen, um ihr Ziel nur in der Gestalt ihrer Kinder zu erreichen: Zuerst nach Sarrakadan, dann nach Cantori, schließlich immer weiter in den Ring hinaus. Den überlichtschnellen Wächtern der Senjasantii begegneten die Endoer schließlich mit Generationenschiffen, die seit Hunderten von Jahren unterwegs gewesen waren.
Vielen Endoern ist nicht mehr bekannt, wie der Raumzeitantrieb, der die zweite Expansion auslöste, von ihnen im Jahr 603 entdeckt worden war: als Nebenwirkung eines katastrophalen technischen Versagens. Kaum etwas charakterisiert die Endoer für mein Volk besser als dieses Ereignis. Die Wissenschaftler des damaligen Königs von Endo experimentierten mit hoch beschleunigenden Elementarantrieben. Bei einem dieser Schiffe kam es offenbar zu einer subatomaren Explosion: Diese erhöhte die relative Geschwindigkeit des Gefährts durch Zufall innerhalb der Shikaniisi-Konstante und öffnete ein Sprungfenster in der gewellten Raumzeit. Die Explosion hat das Schiff strukturell destabilisiert, katapultierte es jedoch acht Lichtminuten weit. Kein Besatzungsmitglied hat in der äußeren Welt überlebt. Doch die Möglichkeit des instanten Springens durch die Raumzeit war faktisch erwiesen, nachdem die Reste des Schiffs in den äußeren Regionen des Sternsystems Endo aufgefunden worden waren. Der Unfall machte innert weniger Jahrzehnte aus dem beschwerlichen Fernhandel eine kommerzielle Operation von interstellarem Ausmaß. Rasch kamen auch bei den Endoern Singularitätsantriebe zum Einsatz, die nicht nur größere Sprungweiten ermöglichten, sondern Besatzungen und Schiffsstrukturen wesentlich vom Stress der Beschleunigung entlasteten.
Aufzeichnungsfragment
[Transkription der Königlichen Flotte, Jahr 718]
Lek Malega | Die Gestalt des Raumes, Prinz Ja’en, und der darin eingebundenen Zeit zeigt eine graduelle Zerbrechlichkeit, die zu Rissen zwischen zwei mitunter weit entfernten Punkten führen kann, das hast du verstanden, oder?
Habun Illban Ja’en | Ja, Führungspentaar.
Lek Malega | Um einen solchen Riss zu provozieren, der groß genug ist, um ein Raumschiff passieren zu lassen, braucht es zwei Faktoren: Zum einen eine vordefinierte Geschwindigkeit in der Größenordnung eines Fünftausendstels der Lichtgeschwindigkeit, zum anderen einen exakten Beschleunigungsstoß in einem kurzen Zeitraum – du erinnerst dich, Ja’en, nicht wahr?
Habun Illban Ja’en | Die bekannte Konstante?
Lek Malega | Die Shikaniisi-Konstante, mathematische Glanzleistung eines Senjasantii-Gelehrten. Dies lässt ein Schiff zwischen zwei Fixpunkten durch einen provozierten Riss springen. Du musst dir vor Augen halten, dass ein Sprung durch den kaum zu ermessenden Raum zwischen den Sternen ein ungeheuerliches Unterfangen ist. Gewisse Endoer meinen, dass so eine Absonderlichkeit wie das Aufreißen der Raumzeit im Universum niemals vorgesehen war. Die Kolonisten von Aimo etwa lehnen den Raumzeitsprung radikal ab.
Habun Illban Ja’en | Sie reisen nie schneller als das Licht?
Lek Malega | Es sei gewissermaßen ein Gewaltakt gegenüber der Stabilität und Schönheit unseres Universums – das, Ja’en, ist natürlich kein raumzeittopologisches Argument und damit jenseits meines Fachgebiets.
♦ Habun Illban Ja’en | In langen Stunden hat der geduldige Lek Malega mir das Prinzip des Sprungantriebs zu erklären versucht. Ich gestehe, dass ich heute noch Mühe habe, mir das Konzept eines Raumzeitsprungs vorzustellen. Mein Interesse galt damals wie heute weitaus mehr den großen Ringwelten, ihren Städten und den dort lebenden endoischen Splittergruppen. Besonders haben mich die exotischen Kulturen der Endoer jenseits der warmen Lagunen von Sarrakadan und der milden Halbwüste von Cantori in den Bann geschlagen. Der Ring – das sind für mich die hängenden Städte von Snrial unter den mächtigen, gebogenen Lavastrukturen, ihre farbigen Schatten im gelben Licht. Viele Male sah ich die Millionenstadt Schenwad auf Sentria, ihre funkelnden Lichter in der über 50 Stunden dauernden Nacht, den ewig vereisten See inmitten der wie Nadeln in den Himmel starrenden Gebäude. Ich bin meinem Schicksal dankbar, die leuchtende Kuppel des tropischen Fruchtgartens der Matriarchin in Nezeldana noch vor der Zerstörung gesehen zu haben, und bis heute fesselt mich die Vorstellung der mächtigen Stahlplatten mit den jahrhundertealten Blutgedichten, die in den tiefen Gewölben des Zetana-Tempels aufbewahrt werden. Und ich sehe die endlose rote Wüste, die kugelförmigen Steinformationen von Fankontan, die Spuren der Ker im glühend heißen Sand, die Spuren des Kupran. Bilder wie diese beglücken und verfolgen mich. Das Reisen zwischen all diesen Welten fand ich jedoch – selbst mit Sprungantrieb – entsetzlich beschwerlich. Nach jeder endlos scheinenden Beschleunigs- und Verzögerungsphase, nach jedem Sprung war ich erleichtert und dankbar, an meinem Bestimmungsort angelangt zu sein.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Die Abläufe auf einem Endo-Kreuzer vor dem Sprung durch die Raumzeit sind präzise festgelegt. Leise systemische Geräusche im unteren Frequenzbereich werden vom Zischen der Druckleitungen überlagert, wenn die Liegen sich in Fahrtrichtung drehen, um den Beschleunigungsdruck bestmöglich auf die Körper zu verteilen. Die Beleuchtung wechselt auf ein dunkles Violett, und die Kommandokugel wird versiegelt. Die beiden Antriebspentaare überprüfen die Funktionalität des Elementarantriebs und den Zustand der Alinierung des Sigularitätsgenerators. Der Führungspentaar ist mit der Sprungkoordination sowie den Beschleunigungs- und Bremsvektoren betraut. Der Taktikpentaar überprüft die Entscheidungsbäume fiktiver Szenarien und gleicht den letzten Datenverkehr ab. Der Laar schließlich autorisiert alle Befehlssequenzen.
Ein Sprung durch die Raumzeit ist kein metaphysischer, sondern ein technischer Vorgang. Die äußere Welt mag erfüllt sein von Schönheit und Geheimnis, doch wer so von einem Singularitätsgenerator schwärmt, beweist lediglich seinen Unverstand. Wie jede Technik ist auch diese von Parametern und Prozeduren bestimmt: Ein Endo-Kreuzer muss eine Rissgeschwindigkeit von 602 Kilometern pro Sekunde erreichen. Bei moderaten Beschleunigungswerten von 34 Metern pro Sekunde im Quadrat dauert das 17 530 Sekunden. Vom Startpunkt bewegt sich das Schiff über einen Vektor von 5,2 Millionen Kilometer zum Risspunkt. Für die meisten Besatzungsmitglieder ist dabei weniger die Beschleunigungskraft als die Dauer der Belastung eine Tortur.
Ähnlich wie Bromen hat mir das nie viel ausgemacht. Die Phase der Beschleunigung hat in mir oft eine meditative Ruhe ausgelöst. Kurz vor Erreichen der Sprunggeschwindigkeit aktiviert der zweite Antriebspentaar den Singularitätsantrieb, und der Generator an der Spitze des Schiffs erzeugt vor dem Bug eine mikroskopisch kleine Singularität. Sie zieht das Schiff innerhalb der Shikaniisi-Konstante ruckartig mit sich und provoziert einen Riss in der Raumzeit. Die Beschleunigungswerte sowie die Geometrie der Singularität müssen hoch präzise sein, ansonsten desintegriert das Schiff. Der Sprung selbst ist nur von punktuellen Gravitations- und Strahlungsphänomenen begleitet. Von außen sieht es so aus, als würde das Schiff an einem Punkt ins Nichts verschwinden. Im selben Augenblick tritt es jedoch in einem Partikelgewitter am anvisierten Ort in Erscheinung. Das Schiff nimmt dabei die kinetische Energie zum Austrittspunkt mit. Die Beschleunigungssitze in der Kommandokugel werden daher auf die gegenüberliegende Seite gedreht, um das Bremsmanöver abzufedern, das die nun rückwärts gerichteten Gondeln des Elementarantriebs einleiten.
Zwei Aspekte muss jeder Raumzeitreisende verinnerlichen: Erstens kann kein Schiff ohne ausreichende Sprunggeschwindigkeit Raumzeit überbücken. Ein Endo-Kreuzer ist in der Lage, wiederholt Beschleunigungs- und Bremsmanöver für einen Sprung auszuführen, bis sein Wasserstoffvorrat aufgebraucht ist. Großen Frachtschiffen dagegen sind meist nur zwei oder drei Sprungmanöver möglich. Sie benötigen dafür bis zur tausendfachen Menge an aufbereitetem Wasserstoff. Fällt eine Versorgungsstation aus, ist ein solches Schiff in der Unendlichkeit verloren. Ein zweiter, fragiler Aspekt des interstellaren Reisens ist die Notwendigkeit der regelmäßigen Alinierung der Singularitätsgeneratoren. Mit der Zahl der Sprünge sowie der Sprungdistanz zerfällt die Alinierung exponentiell, was zunächst die Sprunggenauigkeit herabsetzt, dann sogar die Integrität des Schiffs gefährdet. Das Maß der Dealinierung erhöht dabei die benötigte Zeit für die Realinierung substanziell. Ein Endo-Kreuzer kann zwar aus eigener Kraft alinieren, was einige Stunden in Anspruch nimmt. Frachtschiffe dagegen sind auf dafür ausgerüstete Docks sowie technisches Personal angewiesen.
Wiederum anders verhält es sich mit den Schiffen meines Volkes. Im Vergleich mit einem Endo-Kreuzer der Sarrakadan-Klasse bietet ein Senjasantii-Wächter wie die Silberhorizont wesentliche technische Vorzüge: Sein Antrieb muss um den Faktor 2,1 weniger häufig realiniert werden. Aufgrund der technischen Präzision des Singularitätsgenerators liegt die relative Sprunggeschwindigkeit bei lediglich 76 Prozent, außerdem ist die Kompensation weitaus höherer Beschleunigungswerte möglich. Schließlich wird der benötigte Wasserstoff direkt mit repolymerisierenden Segeln aus der hohen Atmosphäre von Gasplaneten gewonnen, sodass Senjasantii-Schiffe nie stationär betankt werden müssen.
♦ Habun Illban Ja’en | Viele Gelehrte bezeichnen die Konfrontation über Ronwal im Jahr 702 als den Beginn des Vrakaan-Kriegs. Zwar konnten die Vrakaane nur sieben Frachtschiffe von Ronwal nach Kontan schaffen; 11 von insgesamt 13 bewaffneten Schiffen hatten sie dafür eingebüßt. Doch mit Ronwal wagten die Drial-Vehazzi und die Kontaner erstmals einen offenen Angriff; sie beschädigten eine Versorgungsstation schwer, vernichteten das Kriegsschiff Silber-03 der Königlichen Flotte und entwendeten Frachtgut in nie da gewesenem Ausmaß. Und ebenfalls zum ersten Mal übernahmen die Senjasantii, die bis dahin stets nur distanzierte Beobachter waren, eine aktive Rolle. Die Kräfteverhältnisse im Ring, die Unantastbarkeit der Monarchie, die Reserviertheit der Senjasantii – all das änderte sich mit Ronwal.
Gelb-07 wurde von den Senjasantii zur beschädigten Station geschleppt. Die Silberhorizont verschwand noch vor dem Eintreffen der eilig entsandten Schiffe von Endo und Cantori. Renta Jaro, die ihren Verletzungen an Bord ihres Schiffs erlegen war, wurde zusammen mit den übrigen toten Besatzungsmitgliedern nach Lentan überführt – im gleichen Transportschiff, in dem auch Bromen Cossan und Se’en Linnt ins Endo-System reisten. Hamander Gira, die vorübergehend erblindet war, und die beiden Antriebspentaare blieben auf Ronwal zurück. Die geparkten Frachter wurden einer nach dem anderen betankt, und Cantori schickte ein Team von Spezialisten, um den Verkehr zu deblockieren, die Schäden auszubessern und versicherungsrelevante Verluste zu untersuchen. Bemerkenswert ist, dass trotz der Größe des Zwischenfalls der Handel von Verbrauchs- und Produktionsgütern nur unmerklich und lediglich für kurze Zeit abflachte. Die Königliche Flotte entsandte drei Endo-Kreuzer nach Ronwal – immerhin ein Drittel der verfügbaren interstellaren Kriegsschiffe. Einer weiteren Verfolgung der Vrakaane mussten jedoch zuerst der König sowie der Rat der RHF zustimmen.
Ende des Jahres 702 reisten der Führungs- und der Taktikpentaar von Gelb-07 auf Befehl des Königs mit einem Transporter der Flotte via Sanderwel und Cantori nach Lentan und von dort aus nach Sarrakadan. Die Berichterstatter der Informationssphäre stürzten sich auf die Nachricht der Ernennung des neuen Laars Bromen Cossan, der Unbesiegbare von Ronwal, wie sie ihn nannten.
Für mich ist der Besuch in der Königlichen Residenz über den Lagunen aber deshalb von großer Bedeutung, weil sich dort meine Mutter und mein mutmaßlicher Vater zum ersten Mal begegnet sind.