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ОглавлениеTOD IN DER
ELAWAIA
♦ Habun Illban Ja’en | Meine frühesten Kindheitserinnerungen gehen auf das Jahr 708 zurück; ich war damals zwei Jahre alt. Verschwommen sehe ich Bilder der noch unversehrten Residenz über den Lagunen, die langen Hallen mit Säulen, die scheinbar bis in den Himmel reichten, den großen, silbernen Audienzsaal mit in allen Farben leuchtenden Sesseln, die weite Terrasse vor den Gemächern, in denen ich mit meiner Mutter wohnte, eingerahmt von schimmernden Vorhängen, die sich zu allen Tageszeiten sanft in der Meeresbrise wiegten.
Einige Mitglieder der Königlichen Familie besuchten uns täglich, und ich spielte leidenschaftlich gerne mit meinen Neffen und Nichten; andere – insbesondere den König selber – sah ich fast nie, außer bei offiziellen Empfängen. Mir schien die Welt in der Residenz meines Großvaters gleichförmig; trotz aller Schönheit verspüre ich bis heute ein Gefühl der Schwere, wenn ich ganz in diese Erinnerungen eintauche. Eine Weile dachte ich, dies habe etwas mit den Ereignissen zu tun, die 710 folgen würden – die erste Katastrophe meines Lebens. Inzwischen meine ich jedoch eine Schwermut zu ahnen, die in der Königlichen Familie selber lag, insbesondere bei meiner Mutter und meinem Großvater.
Als Gelehrter auf Cantori habe ich mich intensiv mit König Habun Illban Eto beschäftigt. Er war kein unbedarfter König, jedenfalls nicht unbedarfter als seine Vorgänger. Doch er war gefangen in einem Mythos eines ewigen Königreichs Endo und einer nur mit Absurditäten zu begründenden Über-Würde der Monarchie. Ich vermute, er hat dieses Muster bis zu seinem Tod nicht durchschaut. Der Name Bromen Cossan fiel oft; mein Großvater sprach stets mit Stolz von ihm; er, der kompromisslos unsere Vorherrschaft im Ring verteidigt. Tatsächlich hatte sich die Lage im Sternsystem Endo unerfreulich entwickelt. Zwar erreichten uns Handelsschiffe mit wichtigen Gütern aus dem Harodin-Nebel – das war ohne Frage der Verdienst der Flotte. Und einige Frachter erreichten Lentan nach wie vor über Cantori (wir wissen, dass wir das Se’en und Lia’en Linnt zu verdanken haben; doch dazu später). Lentan war trotz allem unterversorgt, und unsere Schulden Cantori gegenüber türmten sich ins Unermessliche. Ich erinnere mich, dass es eines Morgens keine Telmar-Früchte von Talkahalas mehr gab, das empfand ich als ärgerlich, was mir heute albern vorkommt.
Als ich drei Jahre alt war, begann mir meine Mutter das Lesen beizubringen. Diese Zeit mit ihr liebte ich über alles; sie erzählte Geschichten vom frühen Königreich, von der ersten Expansion in den Ring und von fernen Planeten. Besonders mochte ich Schilderungen von wagemutigen Pionieren, die mit unterlichtschnellen Schiffen in die Weiten des Alls starteten – ohne jede Aussicht auf Rückkehr. Mehr noch aber favorisierte ich Berichte über die Königliche Flotte und Bromen Cossan. Doch meine Mutter mochte nicht von ihm erzählen. Ich weiß noch, dass sie sehr wütend wurde, als mein älterer Cousin mir ein großes Modell von Gelb-07 schenkte. (Ich durfte es dennoch über mein Bett hängen.)
Meine Mutter war oft stundenlang in der Residenz unterwegs, so kam es mir als kleiner Junge jedenfalls vor. Ich weiß nicht, was sie tat und wo sie war – bis heute nicht. Führte sie Gespräche – wenn ja, mit wem? Las sie – wenn ja, was? Und wo? In der damals noch vorhandenen Königlichen Bibliothek oder womöglich in denselben Quartieren, die ich heute als Gelehrter bewohne, da ich diese Zeilen schreibe? Sicher ist nur, dass Etani eigenwillig war, und klüger, als die meisten ihrer Königlichen Geschwister. Manchmal saß sie auf einer Liege vor dem Fenster in unseren Gemächern und blickte ernst und still aufs Meer hinaus, auf die Segelschiffe weit unten im Kratersee. Ich betrachtete sie dabei von der Seite, ohne dass sie es bemerkte. Damals fand ich sie wunderschön. Ihr leicht krauses Haar, wie es anmutig über ihre hohe Stirn fiel; ihre gebräunte Haut, die ein wenig im Sonnenlicht schimmerte; ihre Leichtigkeit, mit der sie sich gegen die Kissen der Liege lehnte. Ich verstand nicht, warum sie, die bezaubernde Etani, nicht so viele Verehrer wie die anderen Prinzessinnen hatte – ohne zu begreifen, dass ich, das Kind mit unbekanntem Vater, der Grund dafür war.
Eines Tages fragte ich sie, wer mein Vater sei. Ich lag schon im Bett, und meine Mutter zog mir die leichte Decke über die Brust. Der Himmel war blutrot, und das Meer war unruhig an diesem Abend. Sie lächelte. »Du wirst es erfahren, Ja’en, mein Liebster. Doch du musst Geduld haben.« Ich gestehe, dass ich mir ab und zu wünschte, Bromen Cossan als Vater zu haben – doch das hielt ich vor allen anderen geheim.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Mit der Verfolgung des Vrakaan-Schiffs von Rollm’edo anfangs 709 wurde Bromen Cossan bis in die entlegensten Winkel der Elawaia bekannt. Die einen feierten ihn als siegreichen Krieger, die anderen verurteilten ihn als Kriegstreiber. Nicht nur die Informationssphären der Endoer waren voll davon, auch der Blaue Rat befasste sich wiederholt mit dem Laar des Königs. Meine Neugier trieb mich an, einige Gespräche meines Vaters mitzuhören. Offenbar gaben nicht nur Bromens Taten zu reden, sondern auch die Anweisungen der Spielenden in Bezug auf Bromen, die den Rat verwirrten: Noch bevor die Nachricht eintraf, dass Bromen auf seiner Verfolgungsjagd Talkahalas erreicht hatte, erhielt mein Vater den Auftrag, die Lichtstrahl zum grünen Planeten zu entsenden. Deren Schiffsführer sprang gemäß den Koordinaten der Spielenden lediglich 9500 Kilometer hinter Gelb-07 in den Normalraum. Die Lichtstrahl erstellte eine Verbindung zum treibstofflosen Kriegsschiff und bot Hilfe an, die Bromen Cossan annahm. Noch bevor die herbeieilenden Drial-Vehazzi in Schussweite kamen, hatte die Lichtstrahl mithilfe formbarer Leitungen Wasserstoff an Bord von Gelb-07 gepumpt. Wenige Minuten später trennte sich der Senjasantii-Wächter und sprang zurück zu unserer Heimatwelt. Bromen Cossan dagegen bremste seine Fahrt und wendete den Kreuzer, worauf die Drial-Vehazzi die Flucht ergriffen: Ein voll manövrierfähiger Endo-Kreuzer war ein überlegener Gegner.
Die Besorgnis im Blauen Rat war groß. Einige vertraten die Ansicht, dass unser Volk damit eindeutig Partei ergriffen habe: Man hätte den Dingen seinen Lauf lassen sollen. Der Rat einigte sich darauf, eine Delegation zu den Spielenden im Schrein der Harfe zu entsenden, um die eigene Verunsicherung jenen vorzulegen, die durch ihr Harfenspiel die Zukunft sehen. Ich habe viel über die Verkettung der damaligen Ereignisse nachgedacht: über Zufälle und deren Resonanz, über Unausweichlichkeit und über die Möglichkeit der freien Wahl.
Vollends zerrüttet wurde meine äußere und innere Welt, als Mitte 709 ein Erkundungsschiff meines Volkes, die Wolkenschimmer, von einem Kriegsschiff namens Klinge I von Drial geentert wurde. Das war der erste Vorfall dieser Art in der Geschichte meines Volkes. Schlimmer noch: Damit kam die Seuche über uns. Es handelte sich um Mikroorganismen, die sich im Wasser des Meeres und den Tropfen des Regens aufhalten und auf Senjasantii daher rasch vermehren konnten. Sie drangen in die Haut ein und führten zu starker Blasenbildung. Die Krankheit heilt bei Endoern nach einigen Wochen ab und hinterlässt lediglich kreisförmige Narben. Die physiologisch andere Haut der Senjasantii löste sich jedoch kurz nach der Infektion ab, was meist zu einem qualvollen Tod führte.
Entsetzen ergriff mich. Ich bewunderte zwar Bromen Cossan für seinen Mut und seine Entscheidungskraft in der äußeren Welt. Ich begrüßte, dass mein Volk ihm zu Hilfe eilte. Doch vielleicht hatte ebendiese Hilfeleistung den Angriff der Vrakaane und den Ausbruch der Krankheit auf Senjasantii provoziert. Jene Mitglieder des Blauen Rats hatten vielleicht recht mit ihrer Ermahnung zur Nichteinmischung. Die Windhauch brachte nicht nur die Überlebenden zurück, sondern auch Schmerz, Verstümmelung und Tod. Zuerst wurden Kinder und Alte krank. Die Gelehrten empfahlen nach kurzer Zeit, die Infizierten zu isolieren, doch 200 Stunden nach Ausbruch auf meiner Heimatwelt zeigten bereits 1254 Senjasantii Symptome. Wir lernten, dass einer von fünf Krankheitsträgern nicht überlebte. Die Zeit, um ein Heilmittel zu entwickeln, reichte nicht aus. Das Leid erfüllte die äußere wie die innere Welt vollständig. Hatte indirekt Bromen Cossan also den Tod über uns gebracht? Ich weiß, dass ich am Abend, da diese Frage meine innere Welt quälte, bitter weinte.
♦ Habun Illban Ja’en | Zenotron A’zoli erhielt von den Vehazzi öffentlich Zuspruch für ihren Widerstand gegen Endo und insbesondere gegen Bromen Cossan. Sie schürte den Hass auf den »Aggressor« bei jeder Gelegenheit. Auf Fankontan, so polterte sie in der Informationssphäre des Matriarchats, habe er Unschuldige ermordet, über Basteron den Ringhandel terrorisiert und mit der angeblichen Verfolgung eines Vrakaans nun gar einen direkten Angriff auf das Matriarchat lanciert. Doch Bromen zur Rechenschaft zu ziehen war vorerst unmöglich, da er offensichtlich den Schutz des Königs von Endo genoss. Dass nun auch die Senjasantii die Endoer unterstützten, war in Zenotrons Augen ebenso bedenklich wie die Tatsache, dass Cantori und die RHF zwar seit Monaten gegen Endo lamentierten, jedoch zu feige waren, Taten folgen zu lassen.
Mit Zenotrons Einfluss wuchsen nicht nur ihre Mittel, sondern auch ihr Ehrgeiz. Anfang des Jahres 709 fassten sie und ihre Verbündeten der 1000 Messer den Plan, eines dieser »Messer« direkt ins Herz meines Großvaters zu stoßen. In wilder Entschlossenheit warb sie für einen gezielten Angriff auf das Zentrum der Monarchie – ein atemberaubendes Vorhaben, das jedoch in der radikalen Priesterinnenschaft Zuspruch erhielt, da es den Prophezeiungen der Blutgedichte entsprach. Zetanas Worte, die sie einst vor der Kolonialisierung von Drial und Tser in die Stahlplatten ihrer Zelle geritzt und mit ihrem eigenen Blut eingefärbt hatte, richteten sich unversöhnlich und voller Hass gegen jeden, der sich den Vehazzi und ihrer Bestimmung in den Weg stellen wollte.
Die Königliche Residenz über den Lagunen auf Sarrakadan war gegen Eindringlinge bestens geschützt, nicht aber im Fall eines groß angelegten Angriffs. Ich habe in Erfahrung gebracht, dass Zenotron ihr wagemutiges Anliegen direkt der Matriarchin von Drial unterbreitet hatte. Die Stimmung in der Priesterinnenschaft war dermaßen angeheizt, dass diese der Fraktion der 1000 Messer in einer geheimen Absprache ihre Zusage gab – vorausgesetzt, Zenotron konnte einen Erfolg versprechenden Plan vorlegen. Zenotron bewies ohne Frage politische wie taktische Raffinesse. Sie erkannte, dass die Kriegsschiffe der Vehazzi für einen Angriff auf Sarrakadan überlegene Sprungtechnologie benötigen würden, um den Königlichen Verteidigungsgürtel überwinden und zur Residenz vordringen zu können. Zenotron benötigte einen Senjasantii-Sprunggenerator – ihr war klar, dass diese ihr Wissen niemals preisgeben würden. Doch nach deren Parteiergreifung für Bromen Cossan war der Weg bereitet, diese Technologie mit Gewalt zu erbeuten und die eigenen Schiffe damit auszurüsten.
Angeblich hat Zenotron ihr Enterkommando auf die Wolkenschimmer Mitte 709 persönlich geleitet (es würde zu ihr passen). Sie überfiel ein kleines Erkundungsschiff und demontierte die entsprechenden Komponenten; woher der fatale Erreger ursprünglich stammte, der dabei übertragen wurde, konnte nie geklärt werden. Zweifellos hat Zenotron davon erfahren, dass die ausgelöste Infektion von den Senjasantii große Opfer forderte; gemäß ihren Texten hielt sie es aber für die schicksalhafte Strafe der Natur, ein Nebeneffekt, mit dem sich die brillante und rücksichtslose Zetana-Priesterin kaum lange beschäftigt haben dürfte. In Bezug auf die erbeutete Sprungtechnologie war das Unterfangen ein Erfolg für die Fraktion der 1000 Messer. Den technisch versierten Vehazzi-Ingenieurinnen ist es in weniger als sechs Monaten gelungen, die beiden Kriegsschiffe Klinge I und Klinge II mit der erbeuteten Senjasantii-Technologie zu modifizieren. Die hohe Priesterinnenschaft im Zetana-Tempel war begeistert. Auf dieser Basis konnte das Matriarchat gar nicht mehr anders, als die Erlaubnis zu erteilen, 1000 Messer gegen Sarrakadan zu richten.
Zwei wesentliche Vorkommnisse müssen zuvor noch dargelegt werden. Zum einen Shikanis Kontaktaufnahme mit Bromen Cossan; zum anderen die beginnende Machtergreifung von Se’en Linnt in den Reihen der RHF, die ich als Begründung dafür anführe, dass der Krieg im Ring nicht eskalierte.
Schwarz-04 reiste nach dem erfolglosen Vermittlungsversuch zurück nach Sarrakadan. Se’en Linnt musste dem König berichten, dass die Senjasantii auf keinen Fall in ein Bündnis eintreten würden. Er erhielt darauf den Auftrag, mit seinem Kreuzer den Schutz der neu errichteten Versorgungsstation Königlicher Hafen Eto zu gewährleisten. Diese Aufgabe war fraglos wichtig, da Cantori von Endo-Schiffen nicht mehr angesteuert werden konnte. K. H. Eto wurde für Lentans Frachtschiffe zum Ausweichhafen auf dem Kurs nach Talkahalas. Se’en übernahm diese Aufgabe mit großer Sorgfalt; es spricht für die Qualität seiner Arbeit, dass im Ring kaum wahrgenommen wurde, dass die massiv wachsende Station bald ebenso viele Frachter abfertigte wie die Raumhäfen über Cantori.
Doch in Se’ens innerer Welt (wie die Senjasantii sagen) musste sich zweifellos etwas ereignet haben. Se’en hatte wiederholt Zweifel an einer kriegerischen Lösung der wachsenden Konflikte im Ring geäußert. An Bord von Gelb-07 hatte er Bromens progressives Vorgehen zwar gestützt, doch als Laar von Schwarz-04 entwickelte er im Verlauf des Jahres 708 eigene politische Pläne, und diese richteten sich auf Cantori und den Rat der RHF. Interessant scheint mir, dass sich Se’en und Bromen begegnet sein müssen, denn Gelb-07 wurde auf seiner Verfolgungsjagd des Rollm’edo-Schiffs nachweislich bei K. H. Eto betankt. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, doch viel deutet darauf hin, dass sich Se’ens Absicht, den Ring über eine Einflussnahme in der RHF zu stabilisieren, mit diesem Zusammentreffen im Kontrast zu Bromens militärischen Plänen akzentuiert hat.
Tatsache ist, dass Se’en, der die innere Struktur des aristokratischen Cantori bestens kannte, einen radikal alternativen Plan gefasst hatte. Wenige Wochen nach Bromens Weiterreise erreichte Lia’en Linnt, Se’ens jüngere Schwester, K. H. Eto. Nach dem frühen Tod des Vaters hatte sie die Leitung der Reederei übernommen. Die Frachtschiffe der Linnt-Reederei reisten nach wie vor nach Cantori, was aufgrund von Minderheitsbeteiligungen der Adelshäuser an einzelnen Großfrachtern erklärbar ist. Es gab restriktive Bestimmungen über erlaubtes Frachtgut, doch nach wie vor konnte die Reederei die Route Cantori–Lentan abdecken. Lia’en Linnt ist eine eigenwillige, unerschrockene Endoerin; es überrascht nicht, dass Se’en sie in sein Vorhaben einbezog. Lia’en hat mir vor einigen Jahren im Palast der RHF das damalige Treffen mit ihrem Bruder geschildert:
Ich erschrak: Se’en wirkte älter – deutlich älter als seine 29 Jahre. Sein rötlicher Bart war dunkler, und die Falten um seine braunen Augen hatten sich vertieft. Sein Blick hatte eine mir unbekannte Tiefe, eine Ernsthaftigkeit, die ich an ihm nicht kannte. Aufgrund des drohenden Kriegsausbruchs zwischen Endo und Cantori hatte ich Angst um sein Leben; ich fürchtete, er könnte in diesem dunklen Schiff, das noch dazu den Namen Schwarz-04 trug, irgendwo in einer verlassenen und kalten Ecke des Weltalls sterben. Umso mehr hatte mich seine Nachricht überrascht, die mich dringend zu einer Reise zum Königlichen Hafen Eto aufforderte. Er wies mich an, eine ganze Reihe von Unterlagen die Reederei betreffend mitzubringen, und er bat mich um uneingeschränkte Geheimhaltung.
Ich erreichte K. H. Eto auf einem unserer eigenen Frachter. Die Station wirkte wie eine gigantische Baustelle aus Stahl und Druckbehältern. Es herrschte Hochbetrieb: Bis zu zwölf Frachter dockten täglich an und Raffinerie-Schiffe schafften Wasserstoff vom nahen Gasplaneten heran, den man Eisvogel nannte. Dieser Name wurde von den zahlreichen Gasentladungen inspiriert, die tiefkalte Eiskristalle zu bizarren Skulpturen formten, die Schwärmen von Vögeln glichen, ehe sie zerfielen. Se’ens Schiff war in einer Kontrollschleife um die Station unterwegs; er selber traf mich im abgestanden riechenden Haupthabitat. Ich weiß noch, wie ich ihn umarmte, und er mich ungewöhnlich lange in seinen kräftigen Armen hielt. Er fragte kurz nach Mutter, dann nach Lentan, doch er wirkte abwesend. Mit einer kleinen Fähre flog er mich zum Kreuzer. Schwarz-04 hatte seine Fahrt für zwei Stunden unterbrochen, um Wasserstoff und uns beide an Bord zu nehmen. Ich erinnere mich an die düsteren und engen Räume in diesem Schiff, die ich als beinahe klinisch sauber empfunden habe – in deutlichem Kontrast zu unseren mehrheitlich jahrzehntealten schäbigen Frachtschiffen. Es roch nach technischen Anlagen, und überall leuchteten hochwertige Projektoren in der von fahlem violetten Licht erleuchteten Dunkelheit. Ich folgte Se’en schwebend durch einige Verbindungsgänge und Luken zu einem hohen Raum mit einer erleuchteten Konsole in der Mitte. Er bat mich um die mitgebrachten Unterlagen, koppelte meinen Hologrammwürfel und betrachtete einige Minuten schweigend die Daten, insbesondere die Unterlagen der RHF. »Lia’en«, sagte er schließlich, »ich habe eine Aufgabe für dich.«
Kurz vor dem geheimen Treffen zwischen Se’en und Lia’en wurden die ersten Kreuzer in rotem Stahl in Dienst gestellt, und aufgrund der industriellen Kapazität von Cantori verdoppelte sich die Anzahl Kriegsschiffe der Helbunbero-Klasse jährlich. Dennoch hatte Cantori dem Königreich Endo nicht den Krieg erklärt. Das lag keineswegs allein an der Zerstrittenheit des Rates der RHF. Vielmehr hatte Se’en Linnt einen Weg entdeckt, in der RHF direkt Einfluss zu nehmen, und zwar nicht als Botschafter – diesen Vorschlag hatte ihm schon Hamburban Gira unterbreitet, und Se’en hatte abgelehnt –, sondern durch Mitgliedschaft im Rat selber. Die Ringhandelsföderation war im Grunde ein Konglomerat aller Reedereien, Unterhändler und Stationsbesitzer, die große Mehrheit stammte von Cantori. Eine der wenigen Ausnahmen war die Linnt-Reederei. Se’ens und Lia’ens Vater verzichtete zu Lebzeiten stets auf einen RHF-Sitz, da er glaubte, seine Loyalität gegenüber dem König wahren zu müssen (und da er sich ohnehin vom »allgemeinen Zirkus der RHF« nicht viel versprach, wie mir Lia’en erzählte). Diesen Sitz nun forderte Se’en für die eigene Reederei und seine Schwester ein, das war eine Formsache. Alles andere als das war jedoch Se’ens Absicht, Lia’en Linnt auch im Kreis der oberen Häuser zu platzieren. Ebendies war die Mission, die sie von K. H. Eto nach Angangira auf Cantori führte. Se’en wollte direkt Einsitz im Zentrum der Macht. Während Bromen also Vrakaane im Ring herumscheuchte und mein Großvater von all dem nichts ahnte, verhinderte das Geschwisterpaar Linnt vorerst erfolgreich einen interstellaren Krieg.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Die pandemische Seuche, die Mitte 709 ausbrach, verletzte alle innere und äußere Ordnung meiner Heimat. Obschon der Erreger von den Gelehrten identifiziert worden war, verbreitete er sich unaufhaltsam durch die warmen Regentropfen. Mein Vater war zutiefst betrübt und wirkte auf eine Weise hilflos, wie ich es nie an ihm gesehen hatte. Der Blaue Rat gab täglich Anweisungen und verstärkte die Isolation und Pflege der Kranken. Die Krankheit selber blieb jedoch unbesiegbar, ihre Ausdehnung wurde nur verlangsamt, nicht verhindert. Immer wieder tauchten neue Krankheitsherde auf. Jene, die überlebten, lebten fortan mit Verstümmelungen am ganzen Körper und blieben Träger des Erregers.
Meine Ausbildung war wie die aller jungen Senjasantii vorübergehend unterbrochen worden. So verbrachte ich lange Stunden in meinen Räumen und blickte auf den trüben Horizont. Wieder und wieder dachte ich an Bromen Cossan, seine Handlungen in der Elawaia, die ihm zweimal gewährte Hilfestellung durch die Senjasantii, den Angriff durch das fremde Vrakaan-Schiff und die damit verbundene Infektion. Meine innere Welt tastete wiederholt dieser scheinbar kausalen Kette entlang und versuchte, eine logische Bruchstelle zu finden. Da endlich offenbarte sich mir eine neue Perspektive: Vielleicht war die kausale Kette gar noch nicht beendet. Vielleicht war die Krankheit nur eine schreckliche Erscheinung, aber keineswegs die sich ereignende Konjunktion. Doch was fehlte noch? Wo würde alles Bekannte enden und sich Neues manifestieren? Jene, die die Schwarze Harfe spielen, müssen es wissen, so dachte ich. Schon überlegte ich, den Spielenden eine Botschaft zu senden, was mir keineswegs erlaubt gewesen wäre. Warum handelten die Spielenden nicht von sich aus? Hatte ihr Spiel womöglich geendet? Waren sie selber krank? Schwindel befiel mich, und ich weiß noch, dass ich vor Erschöpfung wieder weinte.
Ich schlief ein. Und ich hatte einen Traum: Ich schritt durch eine düstere Landschaft, in der alles verschwommen in Erscheinung trat. Es war, als würde sich schwarzer Rauch um mich herum zusammenziehen wie feine Staubpartikel, die alles verdunkelten. Ich sank auf meine Knie, auf weichen, warmen Boden. Da entdeckte ich vor mir im Zwielicht einen silbernen Faden. Er leuchtete überraschend klar in der Finsternis. Der Faden begann vor meinen Knien und führte in leichten Windungen in die Schwärze hinein. Ich streckte meine Hand aus und berührte das Silber. Eine leichte Vibration war in meinen Fingerspitzen zu spüren.
Dann wachte ich auf. Es war mitten in der Nacht und bis auf den Wind, der im 57. Stockwerk rauschte, still. Einige Momente lang blieb ich reglos liegen und stellte fest, dass ich innerlich völlig ruhig war. Meine Traurigkeit war verschwunden. Ein einzelnes Wesen kann einen Unterschied machen, flüsterte ich. Worte, die fremd waren für eine Senjasantii. Und intuitiv fand ich sogleich eine Verbindung zu den seit Jahrhunderten überlieferten Lehren meines Volkes: Gewissheit über die äußere Welt kommt aus der inneren Welt, und diese liegt immer in der Dunkelheit für all jene, die nicht die Schwarze Harfe spielen.
Mit einem Ruck richtete ich mich auf. Die Ereigniskette um Bromen war nicht vollendet: So musste es sein. Im fahlen Licht der Nacht tastete ich mich zu meinem Flüssigschirm, aktivierte ihn mit einer Fingerberührung und begann nach einer Möglichkeit zu suchen, Bromen eine Botschaft zu senden. Nur einige Zeilen in der Sprache der Endoer, ein Datenpaket und eine zeitlich begrenzte Verschlüsselung würden genügen. Aber die Nachricht musste Bromen Cossan über den lichtjahreweiten Raum erreichen: Ein Senjasantii-Schiff musste sich im gleichen System wie Gelb-07 befinden und ihm die Botschaft elektromagnetisch übermitteln. Dies konnte nur gelingen, wenn die Botschaft die Kennung des Blauen Rates trug. Ich schreckte kurz zurück: Eine solche Verschleierung war nicht nur eine strafbare, sondern eine ehrrührige Tat. Doch war nicht ebendies die Schwelle, die mein Volk nie überschreiten und deswegen nie über die eigene Tradition und Gebundenheit hinauswachsen konnte? So tat ich diesen Schritt.
In der äußeren Welt kostete mich die Verwirklichung 98 Stunden, eine anspruchsvolle Übersetzung, eine Notlüge gegenüber meinem Vater und einen Datendiebstahl. Meine versiegelte Botschaft mit der vermeintlichen Autorisierung durch den Blauen Rat erreichte die Silberhorizont. Sie wurde dort 31 Tage lang verwahrt und dann nahe der Versorgungsstation Sanderwel gesendet. Sie lautete:
An Bromen Cossan, Laar in der Flotte von Endo, Schiffsführer des Kriegsschiffs Gelb-07. Die Kennung dieser Nachricht ist eine Fälschung. Ohne Erlaubnis meines Volkes bitte ich, Shikani, Tochter der Senjasantii, dich um Hilfe. Der Überfall einer fremden Macht auf eines unserer Schiffe hat zum Ausbruch einer unheilbaren Krankheit geführt. Meine Heimatwelt ist voll von Tod und Verzweiflung. Bislang ist unseren Gelehrten keine Immunisierung gelungen. Ich beobachte dich seit vielen Monaten aus der Ferne, wenn einer uns retten kann, dann du: Bitte, finde einen Weg. Im Anhang befinden sich ein Hologramm des Erregers sowie Angaben zur Physis der Senjasantii.
♦ Habun Illban Ja’en | »Du bist von Sinnen.« So oder ähnlich stelle ich mir Lia’en Linnts Reaktion vor, als ihr Bruder ihr seinen Plan eröffnet hatte, einen Sitz im Kreis der obersten Häuser zu erringen. Man muss sich vor Augen führen, dass Lia’en in Bezug auf schwerwiegende Entscheidungen keineswegs unbedarft war. Sie war zwar erst 26 Jahre alt, leitete jedoch eines der größten Unternehmen von Lentan. (Die Linnt-Reederei operierte damals mit 18 interstellaren Frachtern jenseits der 600-Meter-Grenze und verwaltete permanent den finanziellen Gegenwert einer kleineren Ringwelt.) In langen Stunden erläuterte Se’en ihr seine Absicht, die Schritte zu ihrer Verwirklichung und die Konsequenzen, wenn sie beide nicht handeln würden; schließlich stimmte Lia’en zu.
Am Tag 59 des Jahres 709 erreichte Lia’en Linnt Angangira, die Stadt der Farben, den Sitz der RHF auf Cantori. Selbstverständlich wurde sie von Hamburban Gira persönlich empfangen. Lia’en präsentierte ihre Bitte im Namen der Linnt-Reederei; sie wünsche dem Kreis der obersten Häuser einen Vorschlag zu unterbreiten. Worum es denn ginge, hatte Hamburban sicherlich gefragt, doch das behielt Lia’en geschickt für sich. Vermutlich war es eine Mischung aus Neugier und Höflichkeit, doch Se’ens Schwester wurde zehn Tage später tatsächlich zu einer geheimen Zusammenkunft des Kreises eingeladen. Alle zwölf Oberhäupter waren anwesend, unter ihnen Kerosan Duri, Sludin Bero und Sinti-En Furu. Ich gebe die Ereignisse so wieder, wie Lia’en Linnt sie mir geschildert hat.
Ich weiß noch, wie ich den großen Tisch aus Hornbaum und dessen Farbflächen betrachtete – und die durchwegs alten Hände der Oberhäupter. Mein Körper war eine einzige Anspannung, doch ich war geübt genug, mich zu beherrschen. Ich trug ein weißes, teures und doch dezentes Kleid und hatte mein Haar sorgfältig hochgesteckt – diese äußere Form verlieh mir Sicherheit. Mit einer leichten Verneigung setzte ich mich und legte den Hologrammwürfel vor mir auf den Tisch. Hamburban Gira begrüßte die Anwesende und die Sitzung wurde ohne große Formalitäten eröffnet. Sein etwas herablassender Tonfall machte deutlich, dass die Oberhäupter mir einen Gefallen taten, da es sich kaum um etwas Wichtiges handeln könne, und damit die Verdienste der Linnt-Reederei und meiner Eltern würdigten. Trotzig wie ich war, bedankte ich mich nicht, sondern nickte nur, als man mir das Wort erteilte. Meinen Text kenne ich heute noch fast wörtlich. Es war eine etwas sperrige Einleitung, aber sie war wichtig, um das vorzubereiten, was mein Bruder als die Angriffspositionierung bezeichnete.
»Die Ringhandelsföderation hat sich seit dem Beginn der zweiten Expansion große Verdienste erworben. Keine Institution im Ring hat so viel zum Wohlstand der fast sieben Milliarden Endoer beigetragen, und auch zu deren Stabilität und Sicherheit. Ich meine, dass die RHF weit mehr geworden ist als nur eine kommerzielle Vereinigung, und ich denke, dass wir darauf stolz sein dürfen.«
Die Ratsmitglieder stimmten wohlwollend zu, und ich erkannte mit heimlicher Freude, dass sie keine Ahnung hatten, worauf ich hinauswollte. In etwas ernsterem Ton fuhr ich fort: »Dieser Tradition der RHF kommt nun eine neue Bedeutung zu. Ihnen allen, geschätzte Oberhäupter, ist bestens bekannt, dass sich die Monarchie – die zweite prägende Institution im Ring – in einem zunehmend labilen Zustand befindet. Jahrzehntelang haben König und Flotte unsere Handelswege gesichert. In der Gegenwart zeichnen sich jedoch neue Entwicklungen ab.«
Nun sah ich einige Stirnfalten. Hamburban Gira fixierte mich mit konzentriertem Blick. Bestimmt bedachte eine Mehrheit der Anwesenden die Tatsache, dass mein Bruder Se’en Linnt inzwischen Laar in der Flotte war; er war zudem (noch unter der Führung von Bromen Cossan) an den Kampfhandlungen bei Kontan und Basteron beteiligt gewesen. Ich spürte die Spannung im Raum – und gestehe, dass ich an dieser Stelle genüsslich eine kurze Pause einlegte.
»Der RHF kommt eine nie da gewesene Bedeutung zu. Schließen wir ob der Bedrohung Handelsrouten oder lassen zu, dass andere dies tun, dann wird dies nicht nur die Versorgung aller Endoer gefährden, sondern jegliche Prozesse beschleunigen, die zu einem Krieg führen.« Ich schaute in die Runde und fand keinen Widerspruch. »Geschätzte Anwesende, ich gehe sogar noch weiter und wage folgende Voraussage: Gelingt es der RHF, die Handelswege offen zu halten, wird die RHF den Krieg verhindern.«
Daraufhin lehnte ich mich etwas zurück und sah, dass dieser Gedanke für einige neu oder zumindest noch nicht in dieser Konsequenz bedacht worden war. Nur Hamburban Giras und Sinti-En Furus Gesichter ließen erkennen, dass ihnen völlig klar war, dass das eigentliche Thema der Sitzung noch nicht angesprochen worden war.
Ich tat einen tiefen Atemzug. »Doch wer …«, ich sah fragend um mich, »wer ist die RHF?«
Einige Oberhäupter blickten mich nun irritiert an.
»Die RHF«, fuhr ich fort, »ist ein Konglomerat aus Reedereien, Frachtern, Versorgungsstationen, Handelsunternehmungen, versichernden und finanzierenden Unterhändlern.« Die Verwirrung über meine Ausführungen wuchs. »Die RHF ist der Rat der RHF, in dem ich nun als Vertreterin der Linnt-Reederei Einsitz nehmen darf.« Ich faltete meine Hände über der fein gemaserten Tischplatte und schloss – etwas theatralisch, wie ich heute finde – die Augen.
»Geschätztes Ratsmitglied Linnt«, meldete sich Sinti-En Furu ernst, »was Sie sagen, ist gewiss korrekt. Ich erkenne jedoch keineswegs, worauf Sie hinauswollen. Warum sitzen wir hier?«
Ich ignorierte die nicht unsympathische, ältere Endoerin mit den grauen Haarsträhnen. »Eine Frage stellt sich mir«, sagte ich fast wie zu mir selber. Und nun sah ich alle Anwesenden einzeln an, wie mein Vater es in Krisensituationen im Unternehmensrat der Reederei zu tun pflegte: »Ist die RHF … Cantori?« Pause. »Ist Cantori die RHF?«
Hamburban biss auf die Zähne, sodass ich unter seinem Bart die Kiefermuskeln zucken sah.
»O nein! Die RHF ist nicht Cantori. Deswegen sitze auch ich hier, ein Ratsmitglied, das nicht von Cantori, sondern von Lentan stammt. Freilich sind die Aristokratien von Cantori verdientermaßen bekannt für ihre Geschäftstüchtigkeit, und sie alle sind im Rat der RHF, so wie ich, vertreten. Eben darum«, sagte ich mit einiger Schärfe, »ist die RHF weit mehr als lediglich eine einzelne Kriegspartei.«
Die Anwesenden warfen sich fragende Blicke zu. »Noch einmal, Ratsmitglied Linnt«, forderte nun Sludin Bero streng, »worauf wollen Sie hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, dass die RHF mit ihrem Rat eine kriegsentscheidende, stabilisierende Rolle im Ring übernehmen könnte, wenn …«
»Wenn?«,knurrte Hamburban.
»Wenn im Rat der RHF die Entscheidungen tatsächlich getroffen werden würden. Doch das«, so fügte ich hinzu, »werden … sie … nicht.«
Totenstille im Raum. Angriffspositionierung.
»Vielmehr wird hier entschieden. An diesem Tisch.« Ich machte eine ausladende Handbewegung. »In diesem Raum … Hier aber ist: Cantori – und nur Cantori.«
»Was soll das heißen?«, zischte Sludin Bero.
Se’en hatte genau diese Reaktion vorausgesagt; er wusste, dass die obersten Häuser einen Vorwurf aus den eigenen Reihen nicht erwartet hatten. Cantori fürchtete die Ringwelten, die Kriegsflotte von Endo, Streiks, Vrakaane und schwankende Kurse für verschiedene Güter – nicht aber Kritik aus dem Rat der RHF, jenes Konglomerats von unbeweglichen Eigeninteressen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die obersten Häuser die Reedereien vollkommen unter ihrer Kontrolle.
Ich aktivierte meinen Hologrammwürfel mit der Fingerspitze und erhob mich. »Gewiss weiß ich um die Vorteile eines kleinen, in hohem Maße kompetenten Entscheidungsgremiums. Der Rat der RHF mit seinen über hundert Mitgliedern ist im Hinblick auf all die wegweisenden Entscheide, die zu treffen sind, ein Albtraum.« Ich ging um meinen Stuhl herum und stützte mich auf dessen schwere, mit Kupran-Fell überzogene Lehne. »Doch hier im Raum, geschätzte Anwesende, bei aller Kompetenz, müssen Entscheidungen für die ganze RHF, nicht nur für Cantori allein getroffen werden.«
»Was fällt Ihnen ein«, unterbrach mich Sludin Bero wütend.
Hamburban Gira legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Was ist Ihr Antrag, Lia’en Linnt?«, fragte er, jedes Wort betonend. »Ich denke, es wird nun Zeit, dass Sie offenlegen, was Sie uns mitteilen wollen.«
Mit einer Handbewegung blendete ich ein Hologramm der Gründungsurkunde der RHF ein. »Geschätzte Oberhäupter, es gibt gemäß den Verfahrensgrundlagen tatsächlich die Möglichkeit, dass der Rat der RHF ein Entscheidungsgremium mit weitreichenden Kompetenzen einberufen kann. Dieses Gremium ist nicht der hier tagende Kreis, der ja formal nie einberufen wurde, sondern von den obersten Häusern von Cantori gestellt wird – ein gänzlich eigenmächtiges Gremium.«
»Euer Antrag! Jetzt!« Hamburban schlug mit der Faust auf die mächtige Hornbaumplatte.
Ich zuckte zusammen, hielt aber seinem Blick stand. »Ist denn das«, so sagte ich mit gespielter Leichtigkeit, »noch nicht klar?« Ich legte meine Unterarme auf die Stuhllehne: »Ich will Wahlen.«
»Also bitte«, ereiferte sich nun Kerosan Duri, »Ihnen muss doch die Ungeheuerlichkeit dieses Antrags, dieser Beleidigung, so möchte ich sagen, klar sein. Und auch, dass wir all dem kaum einfach so zustimmen werden …«
»Geschätzte Anwesende.« Ich war noch nie so wach und präsent wie in diesem Augenblick. »Es ist im Grunde ganz einfach.« Ich wechselte die Ansicht auf meinem Hologramm. »Ich habe bereits eine Botschaft an alle Mitglieder der RHF vorbereitet, die meinen Antrag zur zeitnahen Wahl eines regulären Kreises der RHF, meine hier vorgetragene Begründung und die entsprechenden Verfahrensgrundlagen der Ringhandelsföderation enthält. Ich ermutige darin auch kleinere Häuser, sich zur Wahl zu stellen; ebenso die Reedereien der größeren Welten; und ja, auch ich stelle mich zur Wahl, als Vertreterin der Linnt-Reederei. Meine Botschaft ist in diesem Augenblick versandbereit.«
Es folgte eine kurze Sequenz, in der alle Anwesenden durcheinanderredeten und gestikulierten. Se’en, du heimlicher Vrakaan, du hattest recht: Es könnte klappen!
»Ruhe«, rief irgendwann der dürre Kerosan Duri. »Ruhe, geschätzte Oberhäupter.« Er und alle anderen fixierten mich finster.
»Also das ist Ihr Plan, nicht wahr, Lia’en Linnt«, äußerte sich Sinti-En Furu mit ruhiger Stimme. »Ihr Plan und der Plan Ihres Bruders.«
Ich nickte.
Die alte Aristokratin seufzte. »Ich habe Ihren Bruder Se’en Linnt in ausgezeichneter Erinnerung«, fuhr sie fort. Sie sagte das überraschenderweise mit der Spur eines Lächelns. »Doch da ist noch etwas, das einer guten Händlerin nicht entgehen darf«, sie betrachtete Hamburban Gira, der sich nachdenklich durch den bauschigen Bart strich und ihr zunickte. »Sie haben Ihre Botschaft an die Ratsmitglieder noch nicht gesendet. Stattdessen sind Sie hier, in diesem Raum«, sie deutete auf die Anwesenden.
Ich setzte mich mit wohlwollender Miene und deaktivierte demonstrativ mein Hologramm.
»Es gibt also eine Alternative«, ließ sich Hamburban Gira vernehmen.
»Fahren Sie fort«, sagte ich leise.
»Eine Alternative zu dieser unnützen Wahl, die den Rat der RHF verstören, überfordern und auf Wochen hinaus blockieren würde, nicht wahr?«
»An was denken Sie, geschätztes Oberhaupt des Hauses Gira?«
Jetzt grinste Hamburban leise. »Se’en Linnt …«, er schüttelte den Kopf. Dann schaute er in die Runde. »Lia’en Linnt wird ihren Antrag zur Wahl zurückziehen.« Dann nickte er mir zu: »Bitte, Ratsmitglied Lia’en Linnt, nehmen Sie Platz. Es ist nun Ihr Stuhl im Kreis.«
Sludin Bero und Kerosan Duri brummten wütend, doch ohne echten Widerstand. Hamburban wies nochmals auf meinen Stuhl. »Willkommen.«
Von diesem Tag an saß Lia’en Linnt im Kreis der obersten Häuser von Cantori – was für Se’en Linnts spätere Ernennung zum Konsul der RHF ohne Frage wegbereitend war. Wenn Handel Krieg verhindern konnte, so war eben Handel das Ziel – das war im Kern Se’ens Strategie. Die verschiedenen Häfen von Cantori blieben für Endo-Schiffe zwar geschlossen, doch Sanderwel, die Stationen von Kontan, Ronwal und auch die Versorgungspunkte auf der Talkahalas-Route blieben offen. Es war sogar möglich, Frachtschiffe mit Nahrungsmitteln nach Lentan zu entsenden, was vermutlich größere Hungersnöte verhinderte. Zwar baute Cantori weiter an seiner Flotte aus Kreuzern aus rotem Stahl. Doch Se’en Linnt überblickte von K. H. Eto aus sowohl die militärischen Aktivitäten der Königlichen Flotte als auch die Aktivitäten von Cantori. Damit war ein stabiles Kräfteverhältnis zu wahren – immerhin, solange Bromen weiterhin nur Vrakaane jagte.
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Ich sehe den warmen Regen, wie er auf Senjasantii niedergeht: In weiten Schlieren in der Atmosphäre, in chaotischen Musterungen auf dem graugrünen Meer, in Wellen über der flachen Graslandschaft. […] Es ist ein seltenes Ereignis, wenn der Himmel aufreißt, in kurzen Momenten transparent wird, und gleißendes Licht in langen Bändern durch die feuchte Luft ins tiefe Wasser fällt. Als sich Bromens Fähre herabsenkte, klarte der Himmel auf, als wollten die Wolken sich vor ihm verneigen. So träumten es die Spielenden.
Wir hatten von Bromen Cossan gehört, dem Endoer, der in der Elawaia die gefürchteten Vrakaane jagte. Seit Jahrhunderten beobachten wir die Endoer, ihre Entwicklung in der inneren wie in der äußeren Welt, ihre Könige, ihre Expansion in die Elawaia, die sie den Ring der Sterne nennen. Die Spielenden haben Bromen in ihren Träumen gesehen, und unsere Schiffsführer sind ihm fern von Senjasantii bereits begegnet. […] Ohne Ankündigung war Gelb-07 in den ersten Tagen des Jahres 710 im Orbit von Senjasantii erschienen. Die Regenleuchten wurde in höchste Alarmbereitschaft versetzt, doch die Waffensysteme des Endo-Kreuzers waren nicht aktiviert. Er habe ein immunisierendes Serum, so teilte Bromen Cossan auf allen Kanälen mit. Es sei bereits weitgehend auf die Physis der Senjasantii abgestimmt, soweit man diese kenne, und es könne vermutlich mit wenigen Modifikationen verwendet werden. Die letzten 50 Tage waren entsetzlich gewesen, alle Eindämmungsversuche waren gescheitert. Unseren Gelehrten gelang es nicht, einen verträglichen Wirkstoff zu entwickeln, der den Erreger blockierte oder tötete.
Nun war Bromen Cossan tatsächlich gekommen, er hatte offenbar nicht gezögert, Hilfe für mein Volk zu ermöglichen. Es entsprach ihm, uns das Serum persönlich zu überbringen: Einmal mehr entgegen aller Verbote. Hamander berichtete mir, dass Bromen meine Botschaft als Sendung der Silberhorizont erhalten habe. Seine Mission hatte ihn eigentlich ins Harodin-System zurückbeordert. Doch meine Sendung, so Hamander, habe ihn bestürzt. Er habe daraufhin stundenlang die wenigen verfügbaren Berichte in seinem Hologrammraum gesichtet. Dann lenkte er Gelb-07 direkt nach Lentan. Noch ehe er an der großen Rotunda andockte, übermittelte er meine angefügten Daten der Königlichen Akademie der Tausend Hornbäume. Dort wurde der Erreger als eine aggressive Mutation eines bekannten Organismus identifiziert. Ein Gegenmittel lag vor, sodass die Krankheit eigentlich als ausgerottet galt. Bromen besuchte persönlich die Akademie, um die Möglichkeiten eines für die Senjasantii tauglichen Serums zu erörtern. 74 Tage arbeiteten die Gelehrten der Akademie bereits an einer Lösung, als eine Depesche des Königs eintraf, die Bromen jede Hilfestellung für mein Volk verbot: Die Senjasantii, so der König, hätten ein Bündnis mit Endo abgelehnt. Doch Bromen ließ sich nicht beirren. So erschien er schließlich mit einer Ampulle in einem Stahlkoffer an Bord von Gelb-07, und der vollgetankte Kreuzer begann seine Reise ans andere Ende der Elawaia. Rot-02 stellte sich daraufhin Bromen in den Weg. Gedroht wurde, das Feuer auf Gelb-07 zu eröffnen, sollte Bromen den Befehl des Königs ignorieren.
Hamanders Zwiespalt war auch noch Jahre später spürbar, als sie mir erzählte, wie Bromen Rot-02 mitteilte, dass er in jedem Fall zum Sprung ansetzen werde, auch gegen den Befehl des Königs und trotz der Androhung von Waffengewalt. Er tat es, und Rot-02 ließ ihn ziehen.
15 Tage und 24 Sprünge später erreichte Gelb-07 Senjasantii, teilte die Koordinaten des Landeplatzes mit, schwebte in der kleinen Fähre durch die aufbrechenden Wolken und überreichte meinem Vater das Serum. […] Ich folgte meinem Vater, blieb jedoch einige Meter hinter ihm stehen, als er sich der schwebenden Fähre näherte. Mit nach oben ausgestreckten Armen nahm er den metallenen Behälter entgegen. Er verneigte sich, und sogleich eilte einer der Waffenträger herbei, um die Ampulle zu übernehmen und zu den Gelehrten zu bringen. Bromen Cossan erhob sich. Für zwei Sekunden schaute er mich an. Seine blau schimmernden Augen blickten durchdringend, als ob er mich eindeutig erkennen würde. […] Nie hatte eine Senjasantii unsere Heimatwelt dauerhaft verlassen. Es war unvorstellbar. Niemand hatte voraussehen können, dass ich Bromen Cossan folgen und seine Kriegsgefährtin werden würde. Niemand außer den Spielenden.
♦ Habun Illban Ja’en | Ich erinnere mich noch an die düstere Silhouette des gedrungenen, mir unbekannten Kampfschiffs der Drial-Vehazzi jenseits des leicht dunstigen Himmels über Sarrakadan. Auch Schwarz-04 kam zu spät, nachdem insgesamt sechs Vehazzi-Schiffe mit ihren Senjasantii-Antrieben völlig überraschend im Normalraum erschienen waren. Se’en Linnts Führungspentaar Lek Malega hatte zwei Tage zuvor im stetigen Datenfluss erkannt, dass sämtliche größere Kriegsschiffe der Vehazzi scheinbar verschwunden waren; Se’en und Lek hatten daraufhin verschiedene Szenarien durchgespielt, und Lek hatte (wie es nur ihm einfallen konnte) eine erhöhte Sprungfähigkeit aufgrund erbeuteter Senjasantii-Technologie eingerechnet. Das Resultat deutete auf ein dramatisches Szenario, einen Angriff auf Endo und – wollte man den Drohungen der Fraktion der 1000 Messer glauben – am wahrscheinlichsten auf Sarrakadan. Se’en Linnt befahl Schwarz-04 unverzüglich den Start von K. H. Eto aus. Er absolvierte seinen letzten Sprung, als die Kampfhandlungen bereits in vollem Gange waren. Die über Sarrakadan stationierten Endo-Kreuzer waren überrumpelt worden, und der Laar von Rot-02 konnte nur noch mit einem fatalen Kollisionskurs das Vehazzi-Schiff Klinge II vom Bombardement der Königlichen Residenz abhalten. Im Orbit wimmelte es von Trümmerteilen. Schwarz-04 zerstörte bereits vor dem Bremsmanöver ein kleineres Kriegsschiff der Fraktion. Danach korrigierte Se’en den Kurs zum türkisblauen Planeten hin und setzte dem letzten verbleibenden Angreifer Klinge I nach. Doch bevor seine Raketen das Vehazzi-Schiff zerfetzten und Schwarz-04 selber an Sarrakadan tangential vorbeiraste, war Zenotrons Enterkommando bereits abgesetzt worden.
Überall am Himmel verglühten rauchige Punkte wie kleine Meteoriten. In den stets stillen Räumen der Residenz herrschte ein ohrenbetäubender Lärm. Raketen schlugen auf der Terrasse und den oberen Bauten der Residenz über den Lagunen ein. Die Erschütterungen ließen den Vulkankrater erzittern, und überall zersprang Glas. Verwirrt nahm ich unheimliche Geräusche und den scharfen Geruch von Feuer wahr. Alarmsignale ertönten, und die atmosphärischen Schiffe der Königlichen Wache starteten den Angreifern entgegen. Meine Mutter packte mich, zog mir das weite Gewand ruppig über den Kopf und steckte mich in eine enge Jacke.
»Ja’en«, sagte sie eindringlich und hielt mein Gesicht mit beiden Händen, »wir gehen nicht zum Audienzsaal, sondern zum Hafen, hast du mich verstanden!«
Ich nickte. »Wo fahren wir hin, Mama?«
»Weg von hier«, sagte sie und schlüpfte aus ihren Kleidern in einen schmucklosen Ganzkörperanzug. Ihr krauses Haar band sie mit einer schnellen Handbewegung am Hinterkopf zusammen; ich sah Se’ens blaues Amulett auf ihrer Brust, ehe sie den Anzug verschloss.
»Los, Ja’en, los!« Sie ergriff meine Hand und zog mich mit festen Schritten in die Halle hinaus. Überall rannten Bedienstete umher, die Mauern der Residenz vibrierten dumpf. Ich erinnere mich nur noch an den festen Griff meiner Mutter, der ich, ein Vierjähriger, mit stolpernden Schritten folgte. Wir rannten weite Treppen hinunter in den äußeren Bezirk der Residenz, niemand schien uns zu beachten. Bei einem großen Portal sprach meine Mutter einen goldenen Soldaten der Königlichen Wache an, der sie erst im zweiten Moment erkannte und auf die Knie sinken wollte.
»Lassen Sie das«, sagte meine Mutter energisch. »Ich habe einen Auftrag für Sie. Bringen Sie uns zum Hafen hinunter!«
Der Soldat wollte etwas seinen Vorgesetzten übermitteln, doch meine Mutter hielt gebieterisch die Hand über sein Kommunikationssystem. »Jetzt sofort«, sagte sie. Der Soldat nickte. Meine Mutter nahm mich hastig auf den Arm und rannte mit anderen Fliehenden die langen Gänge entlang. Der Soldat öffnete mit seinem elektronischen Schlüssel Türen und half uns über im Weg liegende Trümmer hinweg. Als wir den Vulkankrater erreichten, war der Himmel verdunkelt von Rauch. Sämtliche Segelschiffe versuchten, schnellstmöglich aufs offene Meer hinauszufinden, ohne von brennenden Trümmern getroffen zu werden. Ich sah hoch und erblickte trudelnde Fähren, die erfolglos abheben wollten, und Wachschiffe, die getroffen in weitem Bogen ins Meer stürzten. Ich fürchtete mich und weinte. Doch meine Mutter trug mich die langen Stege entlang, bis sie ein kleines Schiff erreichte, das eben die Segel gesetztc hatte und losmachte. Ich hörte, meinen Kopf an ihre Brust gelehnt, wie ihr Herz rasend schnell pochte. Sie sprang an Bord; im allgemeinen Durcheinander beachtete uns niemand. Der Wächter blieb zurück und schaute uns verloren nach.
Die Erschütterungen verursachten kräftige Wellen im Kratersee, und es dauerte einige Minuten, bis wir die breite Öffnung in der Kaldera und dahinter die offene Lagune erreichten. Ich schaute zurück und sah, wie auf der großen Terrasse der Residenz drei fremdartige Kriegsschiffe landeten, aus denen dunkle Gestalten strömten.