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ОглавлениеBEGEGNUNG IN
DER STADT DER FARBEN
♦ Habun Illban Ja’en | »Mit dem da fliegen wir?« Ich zeigte auf den fleckig wirkenden Rumpf mit den lang gezogenen Frachtdocks.
Meine Mutter lächelte. »Raumschiffe fliegen nicht, Ja’en, sie fahren.«
Meine Begeisterung erheiterte sie. Sie legte ihre weiche Hand an meine Wange, wie es Mütter bei Achtjährigen tun. Ich hatte tausend Fragen, doch ich wusste, dass meine Mutter mir keine Antworten geben würde – schon gar nicht hier, inmitten der rund fünfzig anderen Passagiere in meist ärmlicher Aufmachung. So sah ich hinaus, erspähte überall Lichter und Steuerdüsen kleiner Schiffe, von denen es um die orbitale Rotunda über Lentan wimmelte. Weitere Frachter lagen in der Ferne, doch ich war sicher, dass dieser da, unser Frachter, der größte von allen sein musste.
Als wir von Sarrakadan aus gestartet waren, fürchtete ich mich. Meine Mutter ängstigte mich, als sie mir eines Tages eröffnete, dass wir »eine sehr lange Reise«, wie sie es nannte, antreten würden. »Wohin?«, hatte ich gefragt.
Seit der Flucht aus der Königlichen Residenz vor vier Jahren lebten wir auf Asrakeda, einige hundert Kilometer von Illban-Stadt entfernt. Wir waren auf Segelschiffen dorthin gelangt, und meine Mutter hatte sorgsam darauf geachtet, dass uns in der kleinen Lagune niemand erkannte. Asrakeda ist kaum mehr als ein Dorf; die Fischer und Kiratta-Bauern (die wenigen Bewohner von Sarrakadan, die nicht zum Hofstaat des Königs gehören) wussten zwar, dass wir geflohen sein mussten; unsere wahre Identität blieb ihnen jedoch verborgen. Einmal allerdings – ich war noch klein – erhielten wir Besuch von einem Cantori-Endoer in mir damals unbekannter, dunkelroter Uniform; mir schien, dass er als Einziger wusste, wer meine Mutter war. Sie wirkte erschrocken, als er ihr so unvermittelt gegenübertrat; die beiden sprachen kurz miteinander, dann schickte sie ihn fort, und er kam nie wieder. Weitere geheimnisvolle Fremde seien gekommen, so hörte ich von den Dorfbewohnern, ohne je einem von ihnen begegnet zu sein.
Vormittags ging ich in die Dorfschule, nachmittags badete ich in der Lagune, spielte unter den Sendrin-Bäumen oder half wie die anderen Kinder bei der Ernte der Kiratta-Algen. Am Abend brachte mir meine Mutter oft in zwei Stunden mehr bei, als ich in einer ganzen Woche in der Schule lernte. Sie berichtete mir von den Welten im Ring, die (bis auf Senjasantii) alles Endo-Kolonien waren; sie lehrte mich die verschiedenen Dialekte, wie sie auf Cantori, Talkahalas oder den hängenden Städten von Snrial gesprochen wurden; und sie beschrieb mir die fremdartige Sprache und Mythologie der Senjasantii, die mich überaus faszinierten. Ich erinnere mich, dass mir die Vorstellung einer inneren und einer äußeren Welt sogleich einleuchtete – ich fand sogar, dass die innere Welt mindestens so groß wie die äußere sein müsse. Meine Mutter lehrte mich auch die Grundzüge des planetaren und interstellaren Reisens – was ich jedoch (wie auch heute noch) einigermaßen schwierig fand.
Und dann kündigte meine Mutter diese Reise an, nach Cantori, ins Zentrum der Ringhandelsföderation. Ich stellte mir diesen Ort fantastisch und gleichzeitig unheimlich vor. Mein Leben hatte sich bis dahin in der Residenz meines Großvaters und in den Lagunen von Sarrakadan abgespielt – große Städte hatte ich nur auf Hologrammen gesehen.
Wir segelten in 19 Tagen nach Illban-Stadt, ein Ort, der mir bereits unüberschaubar erschien. Ich hielt mich an der Hand meiner Mutter fest, insbesondere als wir eine kleine, laute, schlecht riechende Fähre bestiegen und ich meine erste Reise in den Orbit meiner Heimatwelt antrat. Meine ersten Erfahrungen in der Schwerelosigkeit waren von Schwindel geprägt. Ich konnte nichts essen, klammerte mich dauernd irgendwo fest und hatte das Gefühl, alles Blut würde sich in meinem Kopf stauen. Im Verlauf der zweiwöchigen Reise nach Lentan gewöhnte ich mich jedoch an ein Leben ohne Gravitation. Der Platz an Bord war eng, und ich lernte, mich ohne festes Oben und Unten zu orientieren. Man erläuterte mir zudem, dass man sich in einem gravitationsfreien Raum durch »tippen« fortbewegte, in dem man sich sanft mit Händen oder Füßen irgendwo abstieß und dann an den gewünschten Ort schwebte.
Lentan sah ganz anders aus als Sarrakadan; aus der Umlaufbahn waren die weitläufigen grauschwarzen Industrieanlagen zu sehen, die die beiden Kontinente nahezu vollständig überzogen.
»Kennt man dich hier?« Ich betrachtete lange das Lichtermeer von Lentan, dann meine Mutter. Sie war auf Asrakeda oft mit den Fischern hinausgefahren, war viel geschwommen und hatte in der Lagune Krustentiere und kleine Kopffüßler gejagt. Ihre Arme und Beine waren braun gebrannt und kräftig, ihr krauses Haar hatte von der Sonne einen hellen Schimmer erhalten. An Bord der Fähre trug sie einen langen, beigen Mantel, der nur ihr Gesicht frei ließ; oft verbarg sie sogar Mund und Nase mit einem hellblauen Tuch, sodass im Halbdunkel nur ihre goldenen Augen zu sehen waren. Sie sah mich ernst an und schwieg einen Moment.
»Das …«, antwortete sie leise, »könnte sein.« Sie blickte sich vorsichtig um. »Doch das wäre nicht gut für unsere Reise.« Sie lächelte, doch das war nur gespielt. Einige Male fragte ich sie, warum wir denn nach Cantori reisen würden; stets antwortete sie, dass ich das früh genug erfahren würde. Etani hatte immer schon eine besondere Art, Fragen auszuweichen.
Der Frachter von Serokontan, den wir im Orbit von Lentan ansteuerten, war über 500 Meter lang. Den meisten Raum verschlangen die Ladebuchten; der atmosphärische Teil bot Platz für 100 Passagiere und war eng und schmutzig. Meine ersten Schritte in dieser größeren Welt empfand ich dennoch als einziges Abenteuer. Die Schwerelosigkeit bewertete ich inzwischen als herrliche neue Bewegungsmöglichkeit, die ich ohne Einschränkung ausprobierte. Es war noch besser als schwimmen und tauchen. Ich machte mir einen Spaß daraus, die Essräume oder die endlosen Korridore entlangzutippen, und mich dabei um die eigene Achse zu drehen; bald brauchte ich dafür nur noch meine Füße. Auch meine Mutter bewegte sich ohne Gravitation mit der ihr eigenen Leichtigkeit. Das Essen war entsetzlich, und ich war viel zu aufgeregt, um Hunger zu haben. Ich traf den ersten Maluken, wie die Bewohner von Kontan genannt werden, den Steuermann – vom Klan der Rogg von Serokontan, wie ich seinem Dialekt nach erkannte, ein korpulenter Endoer mit einem vernarbten Gesicht und einer unförmigen Nase. Dazu Reisende von Cantori, Snrial, eine beeindruckend dicke Tser-Vehazzi mit ihren vier Töchtern, zwei dunkle Gestalten von Talkahalas und zahlreiche Passagiere von Lentan mit eingefallenen Gesichtern.
Nach dem Ablegen von Lentan beschleunigte der Frachter auf Sprunggeschwindigkeit, was ich gar nicht schlimm fand, obschon die 12 Stunden für meine Verhältnisse ewig lange dauerten. Irgendwann schlief ich in der Beschleunigungsliege ein und verpasste den eigentlichen Sprung nach Cantori, was mich ärgerte. Als ich aufwachte, war der Frachter schon mitten in der Bremsphase, und auf den kleinen Bildschirmen in den Passagierabteilen war der schimmernde Planet zu sehen, wie meine Mutter ihn mir beschrieben hatte, fruchtbares Grün und am Äquator ein in hellen Farben leuchtender Halbwüstengürtel. Nachdem wir an einem der zahlreichen Raumhäfen angedockt hatten, zwängten wir uns durch die Anreiseformalitäten – schwerelos in der langen Reihe der Ankommenden. Wir mussten endlos warten, bis wir endlich durch den langen Tunnel auf die Station gelassen wurden. Meine Mutter, das Gesicht hinter dem Tuch verborgen, wollte eben ihren Identifikationsstift zeigen, als ein Endoer in dunkelroter Uniform von der Seite auf uns zukam.
»Das ist unnötig«, sagte er freundlich und fügte dann leise »Königliche Hoheit« hinzu. Der Endoer wies uns den Weg an den Abschrankungen vorbei. »Willkommen auf Cantori. Ihr werdet von Konsul Se’en Linnt bereits erwartet.«
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Ich schaute durch das Fenster der Fähre von Gelb-07. Hier, über Cantori, war also Schwarz-04 von Se’en Linnt auf unbestimmte Zeit geparkt worden, vermutlich an einem verlassenen Dock einer Verteilstation. Vier Jahre waren seit dem Attentat auf den König von Endo vergangen. Cantori unterhielt inzwischen eine eigene Kriegsflotte, gefertigt aus rotem Stahl. Sofort erspähte ich zwischen den zahlreichen Frachtern zwei dieser Kriegsschiffe. Ich überprüfte die empfangenen Daten, doch die Kreuzer waren ebenso gut abgeschirmt wie Gelb-07.
»Ich war noch nie auf Cantori«, sagte ich überflüssigerweise.
Bromen wandte sich mir zu und betrachtete mich lange. Noch immer konnten mich seine hellen blauen Augen verwirren. Dann kontrollierte er Anflugwinkel und Geschwindigkeit für den Eintritt in die Atmosphäre.
»Shikani«, sagte er leise, »du weißt, dass du in den letzten zwei Jahren meine Erwartungen bei Weitem übertroffen hast.«
Ich sah ihn an, ohne zu verstehen, warum er das sagte. »Ich bin dankbar, dass du mich mitgenommen hast.« Ich schloss meine Augen. »Weg von Senjasantii«, flüsterte ich.
Bromen schüttelte ein wenig den Kopf. »Mir war unmittelbar klar, dass du über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügst: deine Klugheit, dein Sinn für das Wesentliche und die Klarheit deiner inneren Welt. Ich habe dich zu meinem Führungspentaar ernannt, weil ich wichtige Pläne mit dir habe.«
Er sah mich nachdenklich an. »Ich weiß, es war dein Wunsch, Senjasantii zu verlassen. Doch ich empfinde es als Privileg, dass du Teil meiner Besatzung geworden bist.«
Augenblicklich wurde meine innere Welt schwer. Es war mein Wunsch gewesen, ja. Mein eigenes Volk war mir fremd geworden, doch ich verstand noch immer nicht vollständig, was geschehen war. War Bromen inzwischen mein einziger Vertrauter in der Elawaia? Waren Endoer wie Hamander Gira und Selger Fennruch jene, die mir noch geblieben sind, seit ich Senjasantii verlassen hatte? Seit 31 Monaten war ich an Bord von Gelb-07. Was ich in dieser Zeit erlebt hatte, war realer als mein Leben bei meinem Volk zuvor. Und doch auch unwirklich: Das verwirrte mich. Ich erinnerte mich an die ernsten Augen meines Vaters beim Abschied. Mit aller Kraft musste ich mich gegen dieses innere Bild wehren.
Ich konzentrierte mich auf die holografischen Anzeigen. »Du denkst, der Konsul wird uns Schwarz-04 übergeben?« Es war eine Frage, um das Thema zu wechseln.
»Er wird«, sagte Bromen. »Aber das ist nicht der einzige Grund unseres Besuches.«
In den letzten zwei Jahren hatte ich mich daran gewöhnt, dass hinter jedem taktischen Vorgehen meines Laars noch eine weitere strategische Ebene lag. Wir hatten nach dem Attentat auf den König die letzten Schiffe der Fraktion der 1000 Messer über den ganzen Ring hinweg gejagt: Nie war Bromens innere Welt der äußeren unterlegen. Das Matriarchat hatte sich schließlich unter Bromens militärischem Druck von der Assassine Zenotron A’zoli distanziert. Nach nur einem Jahr hatte Bromen mich zum Führungspentaar von Gelb-07 ernannt.
»Und was ist dieser Grund, Bromen?«
»Wir müssen mit Se’en Linnt über den Ring reden«, antwortete er, die Augen auf die Anflugvektoren gerichtet. Seit dem Tod seines Königs war Bromens Welt auseinandergebrochen. Die Monarchie existierte faktisch nicht mehr. Der König, die Königsfamilie, die Königliche Residenz: All das war tot und zerfallen. Ich wusste, dass Bromen sich vorwarf, dies nicht vorausgesehen zu haben. Zenotron, die Führerin der Vrakaane von Vehazzi, war ihm zweimal entkommen und seither verschwunden: Ein dumpfer, pochender Schmerz musste das in seiner inneren Welt sein. Und Se’en Linnt, sein ehemaliger Führungspentaar, hatte überraschend eine politische Laufbahn eingeschlagen und war von den Häusern von Cantori zum Konsul der RHF gewählt worden.
Ich betrachtete Bromen aus den Augenwinkeln. »Und bringst du dem Konsul Fragen oder Antworten?«
Bromen lächelte. »Mehr Fragen als Antworten.«
Wir erhielten von der Orbitalwache Landeerlaubnis, jedoch nicht direkt in Angangira, das Sperrbezirk für militärische Einheiten war. Neben uns konnte ich zwischen den Wolken luftgestützte Abfangjäger der RHF von bloßem Auge erkennen. Die Atmosphäre hatte unsere Hülle beim Eintritt zum Glühen gebracht, bevor wir unsere planetare Reisegeschwindigkeit erreichten. 32 Minuten später setzten wir auf einer Basis in der weiten Steppe der Äquatorregion auf. Sieben Soldaten und ein Funktionär der RHF erwarteten uns. Wir wurden auf Waffen untersucht, dann brachte uns ein kleines Luftschiff zum Palast der Ringhandelsföderation.
Ich gestehe, dass mich weniger die farbige Steppe beeindruckte, sondern vielmehr der dunkelblaue Himmel über der Halbwüste. So etwas hatte ich in der äußeren Welt noch nie gesehen. Bromen schwieg während des Fluges. Das war nicht ungewöhnlich.
»Wann warst du das letzte Mal hier?«
»Auf meiner ersten Mission mit Gelb-07. Kurz davor hatte mich der König zum Laar ernannt.« Er blickte auf seine Hände. »Se’en war damals dabei.«
»Für dich muss viel Zeit in der äußeren Welt verstrichen sein.«
»Nicht nur in der äußeren Welt, Shikani.«
Nach 143 Minuten erreichten wir Angangira, die Stadt der Farben, wie die Cantori-Endoer sagen. Tatsächlich fand ich die hohen kantigen Bauten in sandfarbenem Beton und rotem Stahl überaus schön. Alles wirkte geometrisch und zugleich sorgsam eingebettet in die Wüste. Die klaren Formen und die überlegt wirkende Anordnung der Gebäude erinnerte mich an die schlichte Erhabenheit der Städte meiner Heimatwelt, auch wenn alles vollkommen anders aussah. Eine rote Sonne erleuchtete Angangira in warmen Farben, verstärkt durch bunte Wüstengewächse mit schillernden Blüten und große, vielfarbige Sonnensegel. Bereits von Weitem war der hohe Palast der RHF zu erkennen. Das Fährschiff legte auf einer Landeplattform über dem Komplex mit den Konferenzsälen und dem großen Ratssaal an. Soldaten in schwarzroten, prunkvollen Uniformen salutierten und nahmen uns in Empfang. Wir folgten ihnen durch kühle Flure mit dekorativer Möblierung. Alles im Palast wirkte inszeniert.
Durch drei bewachte Pforten erreichten wir die Tür zu den Arbeitsräumen des Konsuls. Ein Bediensteter öffnete uns, und wir traten in einen hellen, geschwungenen Raum mit einer weitläufigen Terrasse. Am Ende einiger Treppenstufen sah ich einen Endoer in Bromens Alter. Er trug einen vollen, rotbraunen Bart, gewelltes, halblanges Haar und war schlicht und gleichzeitig vornehm, in einem dreiteiligen Anzug mit linierten Aufschlägen an Ärmeln und im Schulterbereich gekleidet: der Konsul der RHF.
»Bromen«, sagte er leise. Er wandte sich an einen Bediensteten: »Informieren Sie den ehrenwerten Hamburban Gira, er möge sich um unsere anderen Gäste kümmern, die in Kürze eintreffen werden.« Dann hieß er die Soldaten, uns alleine zu lassen.
Bromen schwieg. Seine innere Welt war gänzlich fokussiert.
Se’en Linnt dagegen blickte freundlich zu mir. Der Konsul kam die Treppe herab auf mich zu: »Willkommen. Sie müssen Bromens Führungspentaar sein.«
Ich war verunsichert, wie ich reagieren sollte.
Bromen drehte sich zu mir: »Nur zu, Shikani. Der Konsul war immer ein Meister in Protokollfragen.«
Ich nickte. »Shikani«, sagte ich und verneigte mich. »Tochter der Senjasantii. Führungspentaar von Gelb-07 unter Laar Bromen Cossan. Meine innere Welt ist erfreut, Sie persönlich zu treffen, Konsul.«
Se’en Linnt betrachtete mich lange. Das geht mir mit den Endoern oft so, da viele noch nie eine Senjasantii zu Gesicht bekommen haben. Zugleich spürte ich jedoch, dass ich nicht das erste Mitglied meines Volkes war, dem der Konsul begegnete. Sein Interesse wirkte unaufdringlich und anerkennend.
»Ich habe den seltsamen Eindruck«, sagte er, »dass wir uns schon gesehen haben. Obwohl ich weiß, dass dies ausgeschlossen ist.«
Ich staunte: »Tatsächlich waren wir uns schon nahe: Sie und Ihr Schiff Schwarz-04 dem meinen. Vor acht Jahren über Senjasantii.«
Se’en lächelte geheimnisvoll. Dann wurde sein Blick durchdringend: »Richtig, das Schiff. Bromen, ich hoffe, du bist nicht nur deshalb gekommen. Schwarz-04 ist über Cantori gedockt und in bestem Zustand, wie man es von einem Laar der Königlichen Flotte erwarten darf.«
»Vielleicht ein Laar«, antwortete Bromen kühl, »aber nicht mehr der Königlichen Flotte.« Offensichtlich bezog sich das weniger auf den Zerfall der Monarchie, sondern darauf, dass Se’en Linnt nach dem Attentat auf den König deutlich andere Wege eingeschlagen hatte.
Der Konsul lächelte. »So ist es wohl.« Mit einer ausladenden Handbewegung fügte er hinzu: »Bitte, setzt euch. Was darf ich anbieten?«
♦ Habun Illban Ja’en | Der Uniformierte geleitete uns zu einer luxuriös ausgestatteten Fähre. Innen war es nicht muffig oder dunkel, sondern in einem Halbkreis waren bequeme Sitzliegen angeordnet.
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass wir bald wieder Schwerkraft verspüren würden. Zwei Bedienstete erwarteten uns; es gab sogar Pflanzen mit seltsamen roten Knospen und überall verschieden geformte Flaschen mit unterschiedlichen Getränken.
Meine Mutter verstaute ihren Mantel in einem kleinen Gepäckfach. Sie trug darunter ein weißes, schlichtes und sehr schönes Kleid. Sie öffnete ihre krausen Haare, schnallte sich auf einer fein bezogenen Liege fest und nippte am Trinkhalm eines kugelförmigen, blauen Glases, das man ihr reichte. Ich wollte das Gleiche trinken, als man mich fragte.
»Wohin fahren wir?« Ich schaute den Uniformierten an, doch meine Mutter antwortete. »Wir fliegen direkt nach Angangira, Ja’en.«
»Die Stadt der Farben«, antwortete ich. »Und wen treffen wir?«
Meine Mutter wandte sich den Bediensteten zu. »Bitte lassen Sie uns alleine.« Die beiden verschwanden in der hinteren Kabine.
»Setz dich zu mir, Ja’en.« Ich fand, dass sich das nicht gut anhörte. Wenn Mutter das sagte, verlief unser Gespräch meist unerfreulich. »Wir treffen den Konsul der Ringhandelsföderation. Seinen Namen kennst du, Se’en Linnt.«
»Se’en Linnt?« Ich wiederholte den Namen überrascht. »Den Laar?«
»Laar ist er schon seit einigen Jahren nicht mehr.« Sie fasste in meine Haare, was ich nicht mochte. »Nach dem Tod deines Großvaters hat er eine andere Aufgabe übernommen. Für Cantori.«
»Und wo ist sein Schiff, Schwarz-04?«
Meine Mutter wirkte irritiert über diese für sie nebensächliche Frage. »Das weiß ich nicht, Ja’en. Wichtiger ist, dass Se’en einer der mächtigsten Endoer von Cantori ist. Er ist jemand, dem wir vertrauen können.«
»Und warum besuchen wir ihn?«
Meine Mutter schloss ihre Augen. »Ja’en«, sagte sie langsam, »ich besuche ihn. Du dagegen –«, sie blickte mich durchdringend an, »du wirst für länger hierbleiben.«
An diesen Satz, seinen Klang, die Stimme meiner Mutter erinnere ich mich heute noch – nach all den Jahren. Ich weiß nicht mehr genau, was danach geschah; ich glaube, ich stellte viele Fragen, protestierte, weinte. Meine Mutter nannte mir keine Gründe, außer dass es für meine Sicherheit war – was mir nicht einleuchtete, denn dann hätte sie ja ebenfalls bleiben müssen. Viele Male versuchte ich mich an diesen Moment zurückzuerinnern, an das Unverständnis, die Trauer und die Wut, dass meine Mutter – einmal mehr – allen Fragen auswich. War es ein weiterer Schicksalsschlag, dass meine Mutter mich an einem fremden Ort zurückließ? Heute bin ich mir darüber im Klaren, dass mir meine Mutter in diesem Augenblick fremd geworden war – eine Distanz zwischen uns hatte ihren Anfang genommen, die ich niemals mehr überwinden würde.
Wir landeten viel zu schnell in Angangira – plötzlich war es ganz still im Schiff, die Türe öffnete sich, und ein warmer, angenehmer Wüstenwind wehte herein. Meine Mutter saß immer noch mit mir auf der Sitzliege, sie wartete geduldig. Ich weinte, sie sagte nichts. Irgendwann fragte ich sie, wann wir denn gehen würden.
»Wenn du bereit bis, Ja’en. Dann gehen wir.«
• Shikani, Tochter der Senjasantii | »Wie geht es dir, Bromen?«
Mein Laar überhörte die Frage des Konsuls. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals auf eine solche Frage geantwortet hätte. Auch der Konsul erwartete keine Antwort. Nach einer Weile fuhr er fort: »Was nun, Bromen! Was machen wir mit den Welten im Ring!«
Beides waren keine Fragen, sondern eher Aussagen, dass dies nun hier zu bestimmen sei. Die Stille in diesem Augenblick und die Bedeutung dieser Worte berührten meine innere Welt. Ich sah, wie der Himmel draußen noch blauer wurde, da sich der Stern von Cantori allmählich dem Horizont zuneigte. Ein herber, mir unbekannter Duft wehte von der Terrasse in den Raum.
Bromen sagte lange nichts, stellte dann das Getränk in seiner Hand auf einen kleinen Tisch. »Du und ich«, begann er, »wollen beide eine Zukunft für den Ring. Für Endoer und Senjasantii.«
»Die übergeordneten Ziele sind fast nie das Problem«, sagte der Konsul leise. Sofern sie nicht nur eigennützig sind, fügte ich in Gedanken hinzu.
Bromen stimmte zu: »Unbestritten ist, dass die Zukunft Handel braucht. Alle Ringwelten sind voneinander abhängig geworden.«
»Und Handel braucht Stabilität«, ergänzte Se’en.
»Klarheit«, korrigierte Bromen.
Se’en Linnt lehnte sich nach vorne. »Reicht es dir nicht, die Fraktion der 1000 Messer in alle Winkel des Rings gejagt zu haben?«
»Zenotron lebt«, unterbrach ihn Bromen scharf, »sie allein hat ausgereicht, um das Königreich zu vernichten.«
Se’en biss sich auf die Lippen, Bromen hatte recht: Er war mit Schwarz-04 ebenso zu spät gekommen wie Gelb-07. Gewiss wurden Zenotrons Angriffsschiffe vernichtet, doch strategisch waren Bromen und Se’en auf der ganzen Linie die Verlierer. An nur einem Tag hatte die Assassine den Tod über das Sternenkönigreich gebracht.
»Was willst du denn noch, Bromen«, sagte Se’en Linnt nun angriffig. »Willst du wieder ein Exempel statuieren: Wie damals über Fankontan? Oder Basteron? Oder mit den jämmerlichen Vrakaan von Rollm’edo?«
»Klarheit«, wiederholte Bromen ruhig.
»Was soll das heißen: Klarheit!« Der Konsul wurde lauter. »Sprechen wir doch konkret, Bromen. Ich habe die RHF so weit gebracht, alle wichtigen Handelsrouten wieder zu etablieren. Ich habe den Krieg gegen Endo verhindert. Die externe Versorgungsquote von Lentan liegt bei dreiundsechzig Prozent des Niveaus vor dem Vrakaan-Krieg, die von Cantori noch höher, die der Harodin-Welten kommt wenigstens in den Bereich über fünfzig Prozent. Ich gewähre Ausgleichszahlungen auf den besonders gefährlichen Routen und stelle mit einer Generation neuer Schiffe Geleitschutz für Frachterkonvois sicher.« Er rückte auf den vorderen Rand seines Sessels. »Was wir sicher nicht brauchen können, ist eine deiner taktischen Meisterzüge. Alles ist zerbrechlich …« Se’en brach wütend ab.
»Ich verstehe deine Perspektive, Se’en.« Bromen sprach ruhig, fast versöhnlich. »Aber deine Perspektive ist trübe von Hoffnung, für die es keine guten Gründe gibt.« Dann eindringlicher: »Es wird keine Klarheit geben, solange im Ring so viele Kräfte gegen uns agieren.« Se’en antwortete nicht. »Einen Moment lang glaubst du, die von dir angestrebte Stabilität gelingt. Doch plötzlich stürzt alles in Chaos und Verderben.« Bromen schaute kurz zu mir, als wollte er sich versichern, dass ich verstand, was hier geschah. Zu Se’en gewandt fuhr er fort: »Hör dich nur an: Ausgleichszahlungen. Gefährliche Routen. Geleitschutz. Wie viel wert ist all das! Für wie lange?«
Se’en lehnte sich in seinen Sessel zurück und schüttelte leicht den Kopf: »Bromen, der Taktiker.« Er sagte es nicht spöttisch, es klang sogar anerkennend. Dann wandte er sich unvermittelt mir zu. Mit einnehmendem Lächeln sagte er: »Ich war mir gar nicht klar darüber, dass Senjasantii so schön sein können. Jene wenigen, die ich bisher getroffen habe, waren immer unterkühlt und in sich gekehrt. Sie aber, Shikani, haben ein tiefes Feuer in Ihren grünen Augen.«
Ich antwortete nicht. Er sprach, vermutlich unwissentlich, von meinem Vater. Das schmerzte in meiner inneren Welt, doch er hatte recht: Auch ich habe meinem Vater sein kühles Wesen vorgeworfen.
Dann schloss Se’en Linnt die Augen, wohl um seine innere Welt zu sammeln. »Bromen, ich weiß, was uns unterscheidet. Du willst eine neue Grundlage schaffen, willst alles Bestehende ausräumen, willst Bedrohungen ausmerzen … Ich verstehe durchaus diese Klarheit, die du willst. Ich verstehe auch ihre vermeintliche Attraktivität. Ich fürchte aber, dass dann, wenn dir das gelungen ist, nichts mehr übrig ist.« Er blickte Bromen gerade in die Augen: »Ich fürchte, dass du mit den Risiken der Zukunft auch die Chancen auf Zukunft tilgst.«
Er stand auf und ging zum Fenster. »Oh, ich traue dir das zu, Bromen. Die Mehrheit im Rat glaubt zwar, dass du mit deinen paar Endo-Kreuzern und ohne logistische Kette und Finanzierung kaum lange durchhalten wirst. Aber ich weiß es besser: Du und Gelb-07 allein könnt ein Feuer im Ring entfachen.«
Er schaute mich kurz an: »Ich war in Ronwal dabei, hat er Ihnen das erzählt, Shikani?«
Ich nickte.
Der Konsul seufzte. »Man wird mir Vorwürfe machen, dass ich dir mein ehemaliges Schiff Schwarz-04 überlasse. Ich aber sage: Das spielt keine Rolle. Was Bromen will, wird er auch so erreichen. Ist es nicht so, Shikani, Tochter der Senjasantii?«
Wieder sagte ich nichts. Was sollte ich auch sagen.
Der Konsul richtete sich an Bromen: »Sei weise, Bromen, ich bitte dich. Wir reden hier nicht über eine taktische Situation, wir reden über den Ring, den ganzen Ring! Zerstört wurde schon genug, nun muss aufgebaut werden.«
Bromen griff nach seinem Getränk, das inzwischen kalt sein musste. »Du wirst mir also Schwarz-04 überlassen. Das schätze ich, Se’en Linnt.« Er nahm einen tiefen Atemzug. »Ich werde den Kreuzer Shikani übergeben. Als erster Befehlshaber der Königlichen Flotte ernenne ich sie formell zum Laar.«
Ich zuckte innerlich und äußerlich zusammen.
Bromen blieb ernst, als er sich mir zuwandte: »Du bist bereit, Shikani, Tochter der Senjasantii, um dein eigenes Schiff zu führen.«
Se’en Linnt lächelte, als er erkannte, dass ich nichts von Bromens Plänen wusste. Ich war fassungslos: Ich, der einzige Laar des Volkes der Senjasantii. Und in der Zeitrechnung der Endoer auch der jüngste: Hamander war 16 Jahre älter als ich. Mit welchen Gründen war all das zu rechtfertigen?
»Bromen ist immer gut für solche Überraschungen«, meinte der Konsul belustigt. »Doch ich zweifle nun nicht mehr, Shikani, Tochter der Senjasantii, dass Sie über herausragende Qualitäten verfügen.« Er seufzte. »Niemand weiß besser als ich, dass Bromen anspruchsvoll ist.«
Der Laar aktivierte ein Bedienfeld an seiner Uniform und berührte dann behutsam jenes an meinem Unterarm: Drei schwarze Sterne erschienen über meiner Schulter.
Der Konsul nickte mir anerkennend zu. Dann sagte er deutlich förmlicher zu Bromen: »Das Schiff gehört dem Königreich. Und du, Bromen, bist wohl am ehesten die Autorität, durch die der König sich vertreten wissen möchte.« Er berührte ein verborgenes Hologramm an seinem Ärmel. Mein Kommunikationsgerät summte nur drei Sekunden später. »Prioritätsnachricht von Gelb-07«, informierte ich Bromen. »Wir haben die Telemetriedaten von Schwarz-04 erhalten. Der Kreuzer ist im F-Terminal 253a gedockt.«
Bromen stand auf.
Se’en Linnt hob die Hand. »Da ist noch etwas …«
Bromen wirkte irritiert. »Was?«
»Etani«, sagte Se’en leise.
Bromen schaute ihn fragend an.
»Etani …«, wiederholte Se’en, »… lebt.«
Ich sah, wie Bromens Augenbrauen sich zusammenzogen und er angestrengt ins Leere starrte, so wie er es immer tat, wenn unerwartete Informationen seine Pläne durchkreuzten.
Se’en lächelte verhalten, als er es sah.
»Prinzessin Habun Illban Etani, die Tochter des ermordeten Königs, lebt?«, hörte ich mich selber fragen.
»Auch Ihre Stimme ist eindrücklich schön, Shikani, Tochter der Senjasantii«, antwortete Se’en zu mir gewandt. »Prinzessin Etani ist hier im Palast.«
♦ Habun Illban Ja’en | Die Landeplattform des Palasts bot einen überwältigenden Weitblick. Die Dämmerung zog bereits auf und tauchte alles in weiches Licht. Ich staunte über die endlos überglasten Plantagen und bis an den jeweiligen Horizont reichenden, bewässerten Fruchtfelder – auch wenn ich in diesen Momenten alles wie durch Watte hindurch wahrnahm. Dies also sollte mein neues Zuhause sein.
Man geleitete uns in einen einladenden Raum, wo ein dicker Würdenträger mit grauweißem Bart und prunkvollem Gewand auf uns wartete, umringt von Dienern und Würdenträgern. Er erhob sich umständlich, und seine weiten Kleider und Umhänge raschelten.
»Ich bin Hamburban Gira, Oberhaupt des Hauses Gira von Cantori«, sagte er mit sonorer Stimme. »Willkommen, Prinzessin Habun Illban Etani.«
Meine Mutter verneigte sich ein wenig. »Sie sind mir wohl bekannt, ehrenwerter Hamburban. Danke.«
»Wollt Ihr Euch umziehen, Prinzessin? Wir haben alles in Euren Gemächern vorbereitet.«
Meine Mutter lächelte. »Ich habe seit einiger Zeit alles, was einst standesgemäß war, hinter mir gelassen. Danke, das ist nicht nötig.«
Hamburban breitete beschwichtigend die Arme aus. »Verzeiht, Prinzessin. Eine andere Erscheinung als die jetzige ist ganz und gar nicht erforderlich.«
Dann wandte sich der Aristokrat mir zu. »Ich heiße auch dich willkommen, Prinz Ja’en. Gefällt dir Cantori?«
Ich zögerte und schaute auf meine Mutter. Ihr Blick ermutigte mich – immerhin würde ich Hamburban Gira in Zukunft öfter sehen.
»Die Farben …«, sagte ich, »mir gefallen die Farben der Wüste.«
»Aaah«, sagte Hamburban gedehnt. »Ich weiß, Sarrakadan ist wunderschön mit seinen warmen Meeren. Doch die Halbwüste am Äquator von Cantori birgt viele Geheimnisse, seltsame Tiere und seltene Trockenpflanzen«, seine Augen weiteten sich, und er neigte sich etwas umständlich auf meine Augenhöhe, »Blumen wie die Bataliena, die nur in der Nacht für kurze Minuten blühen, die leise summenden Yelka-Bäume, Wesen, die in der Dunkelheit fluoreszieren. Angangira ist nicht nur die Stadt der Farben, sondern auch der Düfte und Klänge.«
»Ich danke Ihnen«, sagte meine Mutter mit einem Lächeln, und ich glaube, sie war tatsächlich dankbar für diese freundliche Begrüßung.
Der schwergewichtige Aristokrat richtete sich auf. »Ich vertrete die Häuser von Cantori, doch Euer Gastgeber ist die RHF. Deren Konsul Se’en Linnt erwartet Euch.« Er deutete auf eine Doppeltür. »Er hat mich gebeten, Euch zu ihm zu bringen.«
»Ich bitte darum«, entgegnete meine Mutter freundlich.
»Eines noch«, sagte Hamburban Gira. »Er ist nicht alleine.«
Meine Mutter legte fragend den Kopf etwas schief.
»Bromen Cossan ist ebenfalls hier.«
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Die Türe öffnete sich, und ein Aristokrat von Cantori in ausladender Robe trat ein: Ich erkannte ihn als das Oberhaupt des Hauses Gira. Hinter ihm betrat eine schlanke Endoerin mit einem Halbwüchsigen den Raum. Ich kannte Bilder aus der Kindheit der Prinzessin, und mir fiel sogleich der Goldton ihrer Augen auf. Ich staunte, welche Wirkung sie auf mich hatte: Sie erschien mir ernst, und ihre Bewegungen waren überlegt, doch alles an ihr empfand ich zugleich als leicht und anmutig. Ihre Haut war für eine Endoerin eher dunkel, vermutlich von der Sonne. Ihre Gesichtszüge wirkten ebenmäßig, ihr Haar war ungewöhnlich voll und fiel ihr nicht nur auf die Schultern, sondern formten einen dunklen Schmuck um ihr Gesicht. Sie war überrascht, Bromen zu sehen.
Bromen blieb völlig regungslos.
Sie sah zuerst nur ihn an, dann lächelte die Prinzessin: »Bromen Cossan«, sagte sie leise und unergründlich. Ich habe gelernt, dass bei den Endoern nur das Lachen der Augen zählt, nicht das des Mundes. Dann wandte sie sich ergeben dem Konsul zu und verneigte sich: »Se’en Linnt.«
Se’en trat auf sie zu und berührte vorsichtig ihren Arm. »Etani«, er sagte es fast zärtlich. »Willkommen.« Und dann zum Halbwüchsigen gewandt: »Und auch du, Prinz Ja’en, willkommen.«
Den Ausdruck des kleinen Begleiters konnte ich nicht recht deuten. Er hatte die Augen seiner Mutter und wirkte ängstlich und zugleich neugierig. Er starrte zuerst Bromen, dann mich, dann wieder Bromen an. Seine Ähnlichkeit mit der Prinzessin war offensichtlich. Ich schätzte, dass er etwa halb so alt war wie ich, für einen Endoern noch lange nicht erwachsen.
Mein Kommunikationssystem summte erneut. Bromen wandte sich mir zu, offenbar dankbar für die Unterbrechung. »Signal von Gelb-07, Laar«, meldete ich, »Schwarz-04 ist gesichert, die Codierungen stimmen.«
Bromen nickte. »Wir brechen in Kürze auf.« Dann wandte er sich zu Etani und ging einige Schritte auf sie zu. Er war deutlich größer als die Endoerin.
»Wo seid Ihr nur gewesen, Prinzessin Etani.« Seine vorsichtige Frage klang mehr wie eine Feststellung.
»Auf Sarrakadan«, antwortete Etani leise. »Immer auf Sarrakadan.«
Bromen schloss die Augen. »Ich bedaure das«, sagte er leise.
Ihr Mund lächelte. »Wir alle bedauern es, Bromen Cossan.«
♦ Habun Illban Ja’en | Als Bromen Cossan so nahe bei mir und meiner Mutter stand, wurde mir fast schwindlig. Da war er, der legendäre Laar von Gelb-07. Und wie in meiner Fantasie trug er die dunkle Uniform mit den gelben Streifen an Armen und Beinen, das Gelb seines Schiffs. Auf seiner linken Schulter leuchtete ein Hologramm mit drei drehenden, gelben Sternen, das seinen Rang zeigte. Bromen. Bromen. Bromen.
Und dann wandte er seinen Blick mir zu und sah auf mich hinunter. Ich wollte etwas sagen, wollte ihm erzählen, dass ich ein Modell seines Schiffs hatte, das leider im großen Feuer des Attentats verloren gegangen war; dass ich alle Geschichten von ihm kannte. Doch ich brachte kein Wort heraus.
Ich gestehe, dass ich nicht allein von Bromen eingenommen war, sondern ebenso von der fremden Gestalt, die ihn begleitete. Auch sie trug die anthrazitfarbene Uniform mit den gelben Streifen. Über ihrer Schulter drehten jedoch drei schwarze Sterne, das Zeichen eines Laars. Ihrem Aussehen nach konnte sie nur eine Senjasantii sein. Ich betrachtete fasziniert die kupferfarbene, etwas raue Haut, die hellgrünen, schillernden Augen, ihre schlanken Hände und die seltsame Kopfbedeckung; ich wusste von den Erzählungen meiner Mutter, dass die Körper der Senjasantii haarlos sind. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich mit ebendieser Shikani nur wenige Jahre später die ungeheuerliche Flucht über Aimo antreten würde. Meine Mutter sah zu mir und dann zu der fremden Gestalt. Diese berührte mit langen Fingern sanft ihre Schläfen. »Shikani ist mein Name, Tochter der Senjasantii, Kriegerin der Königlichen Flotte, Laar von Schwarz-04.« Ihre Stimme klang seltsam zweistimmig, als würden zwei Wesen gleichzeitig sprechen. Ich war ganz und gar überwältigt.
Meine Mutter schaute lange auf die Fremde. Sogar Bromen wechselte Blicke zwischen den beiden. Dann legte auch meine Mutter ihre Fingerspitzen an ihre Schläfen. »Meine innere Welt ist berührt von dieser Begegnung in der äußeren Welt, Shikani, Tochter der Senjasantii.«
Shikani blinzelte mit ihren halb transparenten Augenlidern. »Eure Worte, Prinzessin Etani, ehren mich.«
Dann nickte meine Mutter Bromen zu. »Wir werden uns wiedersehen, nicht wahr?« Bromen schwieg. Sie faltete ihre Hände und schloss ihre Augen. »Der Ring führt immer wieder alle Wege zusammen. Reise gut, Erster Laar des Königs.«
Es schien, als wollte Bromen noch etwas sagen; doch er verneigte sich nur leicht vor meiner Mutter und wandte sich ein letztes Mal an Se’en Linnt. »Danke für deine Gastfreundschaft.« Dann fügte er förmlich hinzu, dass er Se’en Linnt formal als Laar der Flotte abberufe.
»Tu das, Bromen«, erwiderte der Konsul mit matter Stimme.
Bromens letzte Geste der Anerkennung galt Hamburban Gira, der diese wortlos erwiderte. Dann ging Bromen Cossan mit schnellen Schritten zur großen Haupttüre, und er verließ den Raum, ohne noch einmal zurückzuschauen. Shikani folgte ihm mit einer letzten Verbeugung zu allen Anwesenden.
Wir vier, Hamburban Gira, Se’en Linnt, meine Mutter und ich, blieben fast ein wenig verloren zurück. Die ganze Begegnung hatte wohl nur Minuten gedauert; für mich fühlt sie sich jedoch bis heute wie eine kleine Ewigkeit an.
»Es ist noch lange nicht vorbei, nicht wahr?« Die Stimme meiner Mutter unterbrach die Stille.
»Er war immer so«, sagte Hamburban Gira mit einem tiefen Brummen. »Warum sollte es nun anders werden.« Dann hellte sich seine Miene auf. »Doch nun seid Ihr hier, Königliche Hoheit, nicht wahr Konsul? Und der letzte Prinz von Endo.«
»Etani«, sagte meine Mutter leise. »Nur Etani. Alles andere ist nicht nur vergangen, sondern auch unverdient.«
Hamburban nickte ernst.
Meine Mutter nahm einen tiefen Atemzug, als müsste sie alte Erinnerungen verscheuchen. Dann kniete sie sich neben mich, fasste meine Schultern und deutete auf unseren Gastgeber. »Ja’en, das ist Se’en Linnt. Auch er war, wie du weißt, Laar der Königlichen Flotte. Er wurde von deinem Großvater ausgezeichnet, und seinem Eingreifen haben wir beide vermutlich unser Leben zu verdanken. Kurz nachdem wir die Residenz über den Lagunen verlassen mussten, wurde er vom Rat der Ringhandelsföderation zum Konsul berufen. Erinnerst du dich, ich habe dir das erzählt.«
Natürlich erinnerte ich mich. Se’en Linnt wirkte während dieser Vorstellung meiner Mutter eher unangenehm berührt; zwischen seinen Augen sah ich eine tiefe Falte entstehen.
»Ich grüße Sie, Konsul«, sagte ich artig. »Meine Mutter hat mir viel von Ihnen erzählt.«
Se’en lachte herzlich – vermutlich über meine Förmlichkeit. Dann verneigte er sich vor meiner Mutter. »Warum auch immer du gekommen bist, Etani, ich bin tief erfreut.«
Meine Mutter fixierte ihn ernst. »Woher hast du gewusst, dass wir leben? Wie hast du – dein Bote – mich damals auf Sarrakadan gefunden? Und warum weißt du von meiner Ankunft?«
Se’en legte seine Hand auf den Mund. »Das blaue Amulett …«, flüsterte er, »das du immer noch trägst.«
Die Augen meiner Mutter weiteten sich. Unmerklich legte sie ihre Hand auf die Stelle, wo das blaue Amulett unter dem Kleid auf ihrer Brust lag. Sie hatte es getragen, solange ich denken kann.
»Die Vorstellung«, fügte Se’en hinzu, »dich zu verlieren, Etani, war unerträglich.« Seine Miene hellte sich auf. »Irgendwie habe ich gewusst, dass ihr beide all das überleben werdet.« Sein Blick schweifte in die Wüste hinaus. »Selbst wenn die Zukunft stets voller Ungewissheit ist.«
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Schwarz-04 war noch dunkler, als ich das Schiff von meiner ersten Begegnung vor acht Jahren in Erinnerung hatte. Nun erkannte ich die einzelnen Module des segmentierten Rumpfs mit dem erfahrenen Blick eines Laars: Singularitätsantrieb, Zentralmodul, Waffenmodul, die Tanks und die Gondeln des Elementarantriebs. Alles schien intakt, jedoch nicht mit Energie versorgt.
»Ich docke beim Zentralmodul an, Laar«, sagte Hamander Gira neben mir und lenkte die kleine Fähre längsseits zum 120 Meter langen Kriegsschiff.
»Ja, das macht Sinn«, antwortete ich nachdenklich, ohne sie anzusehen.
»Laar!«, wiederholte die 16 Jahre ältere Hamander betont streng.
Ich blickte fragend in ihre roten Augen. Hamander starrte mich fordernd an. Ich verstand und entgegnete im Befehlston: »Ausführen, Taktikpentaar. Danke.«
Jetzt lachte Hamander und boxte mich kraftlos in die Schulter.
»Aua«, maulte ich. Ich versuchte ein Lächeln, eine Geste, die die Senjasantii nicht kennen. Dieses mimische Muster ist uns fremd, da wir Freude mit unserer zweiten Stimme ausdrücken. Schon nach vier Jahren unter den Endoern fand ich das bedauerlich, auch wenn Bromen ebenso wenig lächelte wie ich.
»Pentaar«, sagte ich streng, »achten Sie auf Ihre Instrumente.«
»Ja, Laar«, antworte Hamander grinsend.
In diesem Moment sprudelten Daten des Zentralsystems über das Hologramm. Gelb-07 hatte bereits Verbindung aufgenommen und festgestellt, dass der Leitrechner nach wie vor aktiv und einsatzbereit war. Ich berührte die Steuerung der Außenversiegelung, und die Luftschleuse am dunklen Rumpf wurde von einem Leuchtring markiert.
»Dann mal los«, murmelte Hamander und löste ihre Haltegurte.
Ich war unendlich dankbar, dass Bromen mir Hamander mitgegeben hatte. Nicht nur sollte sie mir helfen, das Schiff zu reaktiveren und auf Bereitschaft zu bringen. Hamander würde fortan als Pentaar zu meiner Besatzung gehören. Vorerst führte ich nur eine kleine Besatzung. Es war mein Auftrag, Schwarz-04 auf Sollstärke zu bringen.
Wir schwebten durch den Verbindungsschacht, und ich betrat erstmals mein Schiff. Die Luft im Inneren war trocken und abgestanden. Hier hatte lange niemand mehr geatmet: seit Se’en Linnt es vor drei Jahren versiegelt hatte. Die Notbeleuchtung warf ein fahles Licht. Nach 31 Monaten an Bord eines Endo-Kreuzers kannte ich jedoch blind jeden Winkel.
Hamander schwang sich zur Konsole, um von dort die Sekundärversorgung zu starten. Ich tippte zur Kommandokugel, deren glatte Außenwand trübe war, da die Selbstreinigung ebenfalls seit Jahren deaktiviert war. Die Kugel war geschlossen. Bei der hinteren Zugangsluke öffnete ich die Abdeckung und griff nach der manuellen Entriegelung. Es zischte leicht. Ich setzte die Kurbel ein und drehte mit einiger Kraftanstrengung die Luke zur Hälfte auf. Wie träge alles ist, wenn es nicht von den hydraulischen Systemen blitzschnell und federleicht bewegt wird. Die Kugel war innen dunkel. Ich zog mich hinein, stieß leicht ab und landete auf dem Drucksessel des Laars. Mit einer leichten Drehung saß ich vor dem dunklen Hologrammprojektor. Links unten war eine Kontaktfläche schwach erleuchtet, und ich berührte sie mit zwei Fingern. Der Schirm erwachte unverzüglich zum Leben. Weißes und rotes Licht erfüllte die Kugel gespenstisch, als das Hologramm sich entfaltete.
Kennung?, las ich. Meinen Namen kannte das System nicht, aber die Königliche Flotte hatte vorausschauend Codierungen zukünftiger Laare in versiegelten Datenräumen in allen Schiffen hinterlegt. Bromen als Laar der Flotte hatte Zugriff auf diese Codierungen. Er hatte mit meiner Ernennung eine neue Kennung freigeschaltet und mir übergeben. Ich heftete den Transkriptionssensor an meine Schläfe und gab über die neuronale Schnittstelle die mehrdimensionalen Werte in den vor mir erscheinenden Datenwürfel ein.
Alle Befehlsmodule wurden auf Ihre Codierung hinterlegt. Willkommen an Bord, Laar. Mit welcher Bezeichnung kann Schwarz-04 Sie adressieren?
Ein leichter Schauer lief über meine Schultern.
»Shikani, Tochter der Senjasantii«, antwortete ich dem System. »Mit an Bord ist Hamander Gira, designierter Taktikpentaar von Schwarz-04. Noch folgen wird Ziter, Antriebspentaar für den Singularitätsantrieb.« Auch ihn hatte Bromen mir überlassen, und ich würde ihn dringend brauchen. Immerhin wusste ich, dass ich mit Selger Fennruch einen überaus fähigen Führungspentaar an Bord von Gelb-07 zurückließ. Die weitere Besatzung würden wir erst noch finden müssen, das war unsere erste Aufgabe und der Grund für die bevorstehende Reise ins Endo-System: zur Orbital-Rotunda über Lentan.
Bestätigt, Laar Shikani, Tochter der Senjasantii. Wie lautet unser aktuelles Missionsziel?
Unser Ziel ist Einsatzbereitschaft, formulierte ich meine Antwort. In diesem Moment wurde die Kommandokugel violett erleuchtet und die Systeme aller Druckliegen mit einem Zischen der Hydraulik aktiviert.
»Sekundärversorgung läuft«, hörte ich Hamander über das Kommunikationssystem. »Ich mache mich nun daran, die einzelnen Module zu starten.«
Eine Prioritätsmitteilung von Gelb-07 flackerte über mein Hologramm: Wie gefällt dir dein Schiff? Es war Bromen. Ich schaltete die Transkription aus. »Es ist … schön«, antwortete ich.
»Der Datenstrom ist etabliert, ausgezeichnet«, antwortete Bromen. »Ich möchte, dass du in fünfzig Stunden auf Unterstützung von Gelb-07 verzichten und das System in hundert Stunden verlassen kannst.« Das war wenig Zeit.
»Ich habe zudem Neuigkeiten«, fügte Bromen hinzu. »Dein Führungspentaar ist von Angangira eingetroffen.«
Ich war verwirrt. Wer sollte das sein?
»Ein Endoer mit Namen Lek Malega. Er war zuvor Se’en Linnts Pentaar. Er kommt auf Empfehlung des Konsuls. Ich habe den Eindruck, dass er etwas kann.«
Das, so würde ich herausfinden, war eine Untertreibung.
♦ Habun Illban Ja’en | Angangira war ein magischer Ort. In immer neuen Färbungen fiel das Licht der roten Sonne auf die Wüste. Immer neue Düfte umspielten mich, sowohl kulinarische aus der Stadt als auch herbe Gerüche der uns umgebenden Wüste. Insekten klickten und raschelten. Meine neue Heimat war mir erstaunlich fremd und vertraut zugleich.
Meine Mutter blieb sieben Tage auf Cantori. Die ersten zwei Tage waren wir im Palast der RHF, dann folgten wir Hamburban Giras Einladung zu seinem Wüstenhaus einige Kilometer außerhalb der Stadt. Immer wieder fragte ich meine Mutter, warum ich auf Cantori bleiben müsse – nicht dass es mir dort nicht gefallen hätte, aber meine Heimat war Sarrakadan. Doch meine Mutter antwortete immer nur, dass es hier für mich besser wäre; sie könne mir das nicht genau erklären, aber sie wisse, dass ich hierhergehören würde.
»Aber werden wir uns wiedersehen?« Die Frage wog schwer.
Sie lächelte nur. »Aber gewiss, Ja’en. Wir beide sind doch noch mitten in der Geschichte.« Doch ich war alt genug, um zu wissen, dass Helden nicht immer nur am Ende der Geschichte sterben. Gleichwohl beruhigten mich ihre Worte.
Mit Se’en Linnt hatte meine Mutter ausführlicher gesprochen; ich habe das erst viel später von ihm erfahren. So berichtete ihm Etani, dass sie wiederholt einen Traum hatte; offenbar hatte sie diesen als düster und hoffnungsvoll zugleich beschrieben. Dunkler Nebel kam darin vor und eine Wegmarke in Silber, ein fein gearbeiteter Schlüssel. Sie habe im Traum an mich denken müssen, und ihr Herz habe sich erst beruhigt, als sie wusste, dass ich bei Se’en und in Sicherheit war. So sei sie nach Cantori gekommen.
Im Übrigen war Angangira weit mehr der Ort, um mir eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. »Deine Mutter weiß von deiner Klugheit«, sagte mir Se’en kurz nach der Abreise meiner Mutter. »Hier auf Cantori kannst du alles lernen, was du willst.«
Tatsächlich vermisste ich in den ersten Tagen zwar meine Mutter, nicht aber die Lagune von Asrakeda. Angangira wurde schneller meine Heimat, als ich es vermutet hätte. Cantori war eine große neue Welt, die mich rasch in ihren Bann zog. Anfänglich erhielt ich alle zehn Tage eine Bildnachricht von meiner Mutter, und ich antwortete immer sofort und mit langen Erläuterungen, was ich tat und wo ich war. Irgendwann jedoch wurden die Zeitabstände größer, und dann kamen nur noch selten Nachrichten von Sarrakadan.
Se’en erklärte mir, dass ich nicht bei ihm wohnen könnte, da er fast immer im Palast der RHF oder auf Reisen war. Mein neues Zuhause sollte Hamburban Giras Haus sein, wo ich im Schoß einer Großfamilie aufwachsen könne. Das Haus Gira zählte zwölf Familien mit weit über 100 Kindern, einige davon in meinem Alter. Im Wüstenhaus hatte ich mein eigenes Zimmer, das zur Steppe hin geöffnet war. Ich wurde vor Ort unterrichtet, und die meiste Zeit war ich mit meinen neuen Mitschülern unterwegs. Wir alberten im geräumigen Haus und der nahen Wüste herum. Hamburban, den Hausherrn, sah ich selten, und wenn er da war, beanspruchte ihn vornehmlich seine Familie. Manchmal fühlte ich mich seltsam an meinen Großvater und die zahlreichen Königskinder erinnert. Se’en besuchte mich in der Regel alle vier oder fünf Tage. Wir aßen meist zu zweit. Er fragte viel, und ich erzählte gerne. Und doch waren die Begegnungen mit ihm stets etwas förmlich, und ich spürte die Anspannung, nichts Falsches zu tun oder zu sagen.
Ich lernte viel auf Cantori, und das Lernen fiel mir leicht. Zuvor hatte ich gedacht, dass meine Mutter alles wüsste; nun erfuhr ich so viel mehr, und mein Wissensdurst wuchs in Unermessliche. Ich studierte den Ring, seine Geschichte, die verschiedenen Splittergruppen der Endoer und deren Ringwelten. Auch informierte ich mich über die aktuellen Ereignisse – auf Cantori und auf sämtlichen anderen Welten. An meinem neunten Geburtstag beschloss ich gar, im Laufe meines Lebens sämtliche habitablen Planeten sowie die großen Versorgungsstationen mindestens einmal zu besuchen. Ich stellte fest, dass Se’en Linnt offensichtlich erfreut war über mein Interesse. Meine Fragen würden über die Monate klüger, sagte er einmal nicht ohne Stolz.
Eines Abends brachte mir der Konsul eine große Mappe mit, er wolle mir erst nach dem Abendessen verraten, was sich darin befinde. Die Sonne war bis auf ein rotes Band über dem Horizont verschwunden, als er auf eine Sitzgruppe zeigte und die Mappe bedächtig öffnete. Wortlos reichte er mir einige auf Plastik aufgezogene Bilder, die meinen Großvater und die Residenz über den Lagunen zeigten. Ich sah die hohe Fassade und den blauen Kratersee mit den Segelschiffen, den silbernen Audienzsaal, den König in seinem Ornat. Und dann folgte Tod und Zerstörung, verwüstete Gemächer, aufgebrochene Türen, Spuren von Beschuss an den hohen Säulen, mit Folien bedeckte Körper – und ein Brustbild des toten Habun Illban Eto, die Augen geschlossen, die Haut wie aus Wachs, den Mund schief. Das Bild hatte nichts Schreckliches, wirkte aber unendlich traurig.
»Auch das«, sagte Se’en leise, »vielleicht sogar besonders das«, er deutete auf die letzten Bilder, »ist Teil deiner Geschichte.«
Was sich vor mir ausbreitete, wirkte seltsam unverbunden mit meinen eigenen Kindheitserinnerungen.
»Vergiss nicht, du bist der Letzte der Habun Illban, der Thronfolger – auch wenn wir heute noch nicht wissen, ob das etwas bedeutet.« Er ordnete behutsam den Stapel der Plastikbilder. »Versprich mir etwas«, bat Se’en nach einer Weile.
Ich sah auf.
»Versprecht mir, Königliche Hoheit«, er wechselte auf die formelle Anrede einem Mitglied der Königlichen Familie gegenüber, »dass Ihr zeitlebens Euren Titel tragt, was auch passiert. Nicht nur als leeren Zusatz zu Eurem Namen, sondern mit der Würde und Wertigkeit eines zukünftigen Königs.«
Ich verstand damals nicht, was er meinte, doch ich nickte. Ich blätterte zu den letzten Bildern der Mappe. Das Bild einer Endoerin fiel mir auf; sie war attraktiv, mit vollen Lippen und hohen, breiten Wangen; ihr kurzes, hellblondes Haar war voll und wild. Unter den funkelnden, silbergrauen Augen war je ein verschlungenes Schriftzeichen aus matt schimmerndem Keramik fein in ihre Haut eingenäht; das Gewebe, das es umschloss, hatte eine leicht rötliche Färbung. Ihr Blick ruhte nicht auf dem Betrachter, sondern in der Ferne. Sie steckte in einem kompakt wirkenden Anzug, der ihre kräftigen Schultern abzeichnete.
»Wer ist das?«
»Das«, antwortete der Konsul und beugte sich nachdenklich über das Bild, »ist Zenotron A’zoli, Priesterin der Zetana, die Assassine des Königs.«
• Shikani, Tochter der Senjasantii | Ich war zutiefst müde und schmutzig von Staub, Hydraulik- und Kühlflüssigkeit, von langen Stunden in engen Räumen. Hamander Gira verstand ihr Handwerk, das wusste ich. Fast alleine konfigurierte sie die taktischen Sensoren und die Waffensysteme des Kreuzers. Der inzwischen ergraute Ziter bereitete in der Gravitationskammer des Singularitätsantriebs die Realinierung vor. Immer mehr grüne Statusleuchten erschienen auf meinem Hologramm. Unerwartet wertvoll war auch Lek Malega, ein schmächtig wirkender, bleicher Endoer mit herausragenden mathematischen Fähigkeiten. Er war Absolvent der Akademie der Tausend Hornbäume auf Lentan, sein Fachgebiet war Sprungtopologie. Es schien ihm leichtzufallen, den mehrdimensionalen Kernrechner des Schiffs neu zu kalibrieren. Normalerweise wurde das von einer ganzen Gruppe von Spezialisten einmal im Lebenszyklus eines solchen Systems gemacht.
»Ich kann das«, versicherte er mir trocken.
»Mit welcher Gewissheit?«
»Mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit«, antwortete er. »Der Rechner ist in einem guten Zustand, aber er ist weit unter seinen Möglichkeiten.« Er nannte eine Anzahl technischer Gründe, die ich nicht in vollem Umfang verstand. Und er hatte recht: 27 Stunden später lief das Zentralsystem mit einer Effizienzsteigerung von Faktor 1,27.
Seit 72 Stunden waren wir an der Arbeit. Gelb-07 hatte vor 16 Stunden das System in Richtung Snrial verlassen. Ich schätzte, dass wir in 21 Stunden ebenfalls sprungbereit waren. Unser Auftrag würde uns nach Lentan führen, um dort nach geeigneten Besatzungsmitgliedern Ausschau zu halten.
Erschöpft stützte ich mich auf die Hologrammkonsole. Ein leichter Schwindel überkam mich. Wie oft in solchen Momenten der Schwäche suchten mich Erinnerungen heim: an meinen Entscheid, Senjasantii zu verlassen, an das Entsetzen in den Augen meines Vaters, an sein unendlich langes Schweigen, als die Spielenden mir dies erlaubten. An die vielen Sterbenden, die schrecklichen Wunden abgelöster Haut auf den Körpern der Toten, die düsteren Plastikabschirmungen an allen Türen und den Geruch des Desinfektionsmittels. An meinen seltsamen Traum und meine Nachricht an Bromen, an seine Ankunft mit dem Serum. Mich überfielen Bilder, wie ich Bromen meinen Wunsch eröffnet hatte, ihm an Bord von Gelb-07 zu folgen: Er hatte sofort zugestimmt. Und ich erinnerte mich an meinen Dienst, an die ersten Tage, da Hamander Gira mir die Logik der Systeme der Endoer erläuterte: die Logik ihres Denkens. An die Verfolgung der Fraktion der 1000 Messer, den Lärm, die zähen Stunden in den Druckliegen, stumme Lichtblitze im Vakuum, den Tod im All. Bromen hatte von den Attentätern nicht viel übrig gelassen. Alleine die raffinierte Zenotron A’zoli war ihm entwischt. Die Datenkanäle und mehr noch die Informationssphären mutmaßten, sie sei tot. Aber Bromen wusste es besser.
Das Handwerk des Krieges übte eine eigenartige Faszination auf mich aus, es forderte mich in der inneren wie der äußeren Welt: in Bezug auf logische Ketten, Wahrscheinlichkeiten und Handlungsvarianten, in der Planung, Entscheidung und Improvisation, in Bezug auf Belastbarkeit in Manövern mit hohen Fliehkräften sowie durch langen Schlafentzug. Meine Aufgabe an Bord von Gelb-07 verlangte Mut, Geduld und Kraft, die Besatzung entgegen allen Hindernissen an die Erreichung eines Ziels zu binden. Bromen lehrte mich, wie eine Kriegerin zu denken, wenn wir stundenlang Berichte, Nachrichten und Berechnungen durchsahen, wenn er sich mit seinen Pentaaren austauschte, oder mit mir, um meine Gedanken und Eindrücke zu erfahren. »Fähigkeit ist Möglichkeit«, sagte er wiederholt. Früh lernte ich, dass er sehr genau unterschied, wann ein Fehler eine Chance oder ein Risiko darstellte. Seiner Besatzung gegenüber war er stets überlegt und aufmerksam. Alle hatten wir Respekt ihm gegenüber, auch wenn seine Schweigsamkeit oft bedrückend war. Dennoch fürchtete keiner von uns das Gespräch mit ihm. Er begegnete uns voller Präsenz in der äußeren wie auch der inneren Welt.
»Singularitätsantrieb verfügbar«, hörte ich Ziter im System. Singularitätsantrieb verfügbar, wiederholte mein Leitsystem die Botschaft.
»Hervorragend«, bestätigte ich. Ein weiteres Symbol in Grün.
Ich verordnete der Besatzung eine Rotation Schlaf in den hermetischen Ruhekapseln. Neun Stunden später starteten wir. Cantori hatte uns auf Empfehlung des Konsuls mit Wasserstoff betankt, denn nach wie vor hatte die Flotte Schwierigkeiten bei der Finanzierung ihrer Versorgung.
Wir lösten uns vom Dock. Die Antriebsgondeln schwenkten aus, und lautes Dröhnen und Vibrationen drangen durch die Strukturen des Kreuzers. Wir begannen unseren ersten Anlauf zur Sprunggeschwindigkeit.
Ein letztes Mal schaltete ich die Außenvisualisierung von Cantori auf meinen Hologrammschirm. Angangira unter uns lag im Licht des anbrechenden Tages. Die Atmosphäre war klar, sodass ich Gebäudekomplexe in einem rötlichen Ton erkennen konnte. Die Stadt war umringt von künstlichen Feldern und weiten, farbigen Steppen. Cantori würde ich lange Zeit nicht mehr sehen.