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Brief über die Zeit als Abendgymnasiast
ОглавлениеFrankfurt am Main, 5. Dezember 2016
Lieber Papa,
gestern hat das neue Kirchenjahr begonnen. Für unsere kleine schwul-lesbische Gottesdienstgemeinschaft war der 1. Adventssonntag Anlass, auf das vergangene Jahr mit seinen großen Ereignissen zurückzuschauen – besonders auf unser 25jähriges Bestehen am Weißen Sonntag. Unter dem Thema: »Wandlungsgeschichten« feierten wir mit den Delegierten unserer verschwisterten lesbisch-schwulen Gottesdienstgemeinschaften von Basel bis Berlin (LSGG) ein ganzes Wochenende mit Studientag und Festgottesdienst.
Adventssonntag – verbunden mit wehmütigen Erinnerungen an die glückliche Kindheit, als bei uns zu Hause auf dem Küchentisch der Adventskranz mit vier roten Kerzen stand. Durch das Anzünden einer weiteren Kerze wurde unsere kleine Küche auf Weihnachten hin jedes Mal heller. Jedoch verdüsterte sich meine Stimmung am 3. Adventsonntag 1967 wegen schlechter Noten am Bischöflichen Abendgymnasium. Mein Verbleib an der Abendschule war infrage gestellt. Ebenso wie ich warst Du, Papa, betrübt, von meinen großen Schwierigkeiten in der Schule zu hören. Als ich Dir sagte: »Mein Verbleib an der Schule sei mir wichtiger als das Abitur zu erreichen«, hast Du mir zwar freundlich geantwortet, aber für mich unverständlich, dass ich mit aller Gewalt das Abitur schaffen solle. Als zukünftiger Klosterbruder – vom Wunsch, Priester zu werden, hatte ich inzwischen wegen der privilegierten Stellung des Klerus in der Amtskirche Abstand genommen – brauchte ich keinen »höheren Dienstgrad«, da ich auch ohne Abitur in eine Ordensgemeinschaft aufgenommen worden wäre. Zur Post wollte ich nicht zurückgehen, nachdem ich mich ein Jahr zuvor, im September 1966, im Hauptpostamt Altenessen verabschiedet und eine Halbtagsstelle bei der Dresdener Bank angenommen hatte. Mir war die eigene Bildungserweiterung über das BAG zunehmend wichtiger geworden.
Anders als in der Volks- und Berufsschule lernte ich am BAG nicht nur für die sympathischen Lehrer, sondern begann mich über meine bisherigen Lieblingsschriftsteller George Bernanos, Reinhold Schneider, Johannes XIII. hinaus mit weiteren bedeutungsvollen Autoren zu befassen. Du, Papa, erklärtest: »Deine Lernbegeisterung und Deinen Fleiß weiß ich trotz der schlechten Klassenarbeiten dennoch zu schätzen.« Diese Worte ermutigten mich, am BAG zu bleiben. Dein und Mamas nächtlicher Empfang nach meinem Schulbesuch mit leckerem Essen gegen 23.00 Uhr, wenn ich, gerade aus der Straßenbahn ausgestiegen, müde und niedergeschlagen in die Wohnung kam, trug entscheidend dazu bei, trotz schlechtester Noten nicht zu resignieren. Ihr gabt mir bei der Nachricht von einer missglückten Klassenarbeit niemals Schelte, sondern jederzeit Trost und Mitgefühl.
Aufgrund meiner mangelhaften Durchschnittsnote Ende 1967 hatte das Lehrerkollegium des BAG nach Aussage meines Klassen- und Lateinlehrers Bernhard Tobias keine Hoffnung mehr, dass ich je das Abitur bestehen würde, wie er mir auf dem langen dunklen Schulkorridor mitteilte. Er hatte recht, denn vom Lateinunterricht habe ich nur das Zitat: »Non scholae, sed vitae discimus« behalten, also dass wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, und die geflügelten Worte: »Veni, vidi, vici.« Aussagen, die mich zwar hoch motivierten, eifrig weiter zu lernen, jedoch nicht reichten, um das große Latinum zu erlangen. Ich bat meinen Lateinlehrer das Jahr wiederholen zu dürfen, da für mich nicht der Wunsch, das Abitur zu erlangen, wichtig sei, sondern als Bruder in eine Ordensgemeinschaft einzutreten. Die neue Klassengemeinschaft nahm mich wohlwollend auf. Dank dieser Hilfe und der unveränderten Unterstützung durch meine Schwester Marlene in Deutsch und Latein sowie der ihres Freundes Karlheinz in Mathematik wurde ich tatsächlich in den nächsten Zeugnissen in allen Fächern um eine Zensur besser. Darüber hinaus kam mir die Beendigung meiner Halbtagsstelle in der Dresdner Bank Ende 1967 zugute.
Nach den Weihnachtsferien pilgerte ich im Januar 1968 nach Kevelaer zur Muttergottes. Dieser Pilgerort war mir aus Kindheitstagen gut vertraut. Im Glauben ahnte ich, wenn ich allein unterwegs war, dass von diesem Ort Kraftquellen ausgingen. Zuversichtlich bat ich dort Maria, noch eine Weile an dieser Abendschule bleiben zu dürfen. Diese kleine Weile ging tatsächlich noch über zweieinhalb Jahre, bis zum 9. Juni 1970, dem Tag, als der neue Schuldirektor Horst Graebe mir und dem Klassensprecher mitteilte, dass wir nicht mehr in das mündliche Abitur gehen mussten, da unsere Vorzensuren mit den Zensuren der schriftlichen Abiturarbeiten übereinstimmten. An den Abschlussfeierlichkeiten und der Zeugnisübergabe am 28. Juni 1970 nahm die ganze Familie einschließlich meiner Schwester Christiane, die extra aus Aachen angereist kam, teil.
Einen echten Freund in Deiner Nähe, Papa, habe ich nicht gesehen. Du hast aber auch weder von einem befreundeten Kollegen in Deiner langen Ausbildungszeit bei der Polizei noch von einem guten Kameraden aus dem Krieg erzählt. Allein Deine vielen Fotos von der Polizei und vom Krieg, die Dich mit jungen Männern beim Baden, beim Sport, bei der Arbeit oder in Uniform zeigen, lassen vermuten, dass Du dem einen oder anderen Mann näher standst. Mir erging es lange ähnlich. Immerhin blieb Jesus in freudigen wie in schweren Tagen mein Begleiter. Dank seiner frohen Botschaft war er mir Tröster und Kraftquelle zugleich.
So kannst Du, Papa, Dir vorstellen, dass ich überglücklich war, nach wenigen Tagen am Abendgymnasium im Oktober 1965 einen Freund gefunden zu haben. Fast noch ungläubig schrieb ich in mein Tagebuch: »Ich habe es kaum zu hoffen gewagt, dass ich mit Wolfgang, einem Klassenkameraden, in meiner neuen Schule eine Freundschaft begonnen habe.« Wolfgang blieb mir über die gesamte Schulzeit bis zu meinem Weggang ins Ausland in Freundschaft verbunden. Seine angenehme Nähe beim gemeinsamen Lernen und Diskutieren half mir, die permanenten Anstrengungen der Abendschule zu überstehen.
Besonders die gemeinsamen Fahrradtouren an Wochenenden und in den Ferien waren für Wolfgang und mich der gelungene Ausgleich zum ständigen Lernen. Bestens hattest Du, Papa, mein Fahrrad präpariert, und so fuhr ich an diesem Pfingstmontag voll Freude, Glück und Zufriedenheit mit Wolfgang los und prallte keine drei Schritte von zu Hause entfernt gegen ein stehendes Auto. Der Fahrer stellte sofort fest, dass an seinem Auto kein Schaden entstanden war. Doch mein Fahrrad war so verbogen, dass es nicht mehr fuhr. Du, Papa, kamst sofort angelaufen und hörtest nicht mehr auf, zu schimpfen und zu schreien. Du hättest mir alles schon vorausgesagt, nur ich, ich habe ja nicht hören wollen. Vor Wolfgang schämte ich mich am meisten, denn durch meine Schuld stand die ganze vorbereitete Fahrradtour auf dem Spiel. Zu guter Letzt durfte ich dann Marlenes Fahrrad nehmen. Natürlich habe ich Dir, Papa, nicht erzählt, dass ich schon einige Kilometer weiter, in Bottrop-Mitte, gegen einen Eisenpfahl gefahren bin. In meinem Tagebuch steht dazu: »Wolfgang hatte wieder einen ordentlichen Schrecken bekommen. Gleich half er mir, obwohl ich schon aufgestanden war, mit einigen seiner passenden tröstenden Worte. Mit schiefem Lenker, Knie- und Hinterteilschmerzen und einer Handabschürfung fuhr ich mit lachendem Gesicht über meine eigene Dummheit weiter, als wenn was anderes nicht infrage kommen konnte.« Heute ist mir sonnenklar, dass nach Schul- und Arbeitsstress in meiner großen Vorfreude auf diese Fahrradtour meine übergroße Gefühlsanspannung ein Ventil in den beiden kleinen Unfällen gefunden hatte.
Erfreulicherweise konnten wir letztlich am sonnendurchfluteten Niederrheinufer den Ausflug genießen. Auf der Rückfahrt über Ossenberg stellte uns die gastfreundliche Tante Käthe ihr Ehebett zum Übernachten zu Verfügung. Das ließ mich schmunzeln, da mir Wolfgang bei der vorherigen Fahrradtour nach Xanten erst die drei Wärmevorteile des Zusammen-Schlafens in der Jugendherberge benannt hatte: »1. Wir hätten jetzt die doppelte Anzahl von Decken zum Zudecken. 2. Da nur eine von beiden Matratzen trocken ist, schlafen wir beide am bestens auf der einen trockenen zusammen. 3. Die gegenseitige Körperwärme bringt uns die ersehnte Ruhe trotz der anhaltenden lauten Rattengeräusche.« Den Genuss und die Erotik, unsere Körper zu genießen, trauten wir uns nicht einzugestehen. Zu dieser Zeit war Sexualität für Wolfgang wie für mich ein Tabu und mit vielen Vorbehalten belegt.
In diesen Jahren der Abendschulzeit standen drei Hochzeiten an. Silberne Hochzeit – in meinem Tagebuch schrieb ich, dass auch Du, Papa, der sich so leicht über alles aufregte, an diesem großen Tag mit 30 Gästen in unserer Karnaper Wohnung zufrieden warst. Die Kopfschmerzen, die Mama in den Tagen zuvor plagten, hatten sich zum Glück gelöst. Mitten in der Woche, am Dienstag, dem 14. Februar 1967, hast Du mit Mama in der Karnaper Marienkirche einen Dankgottesdienst gefeiert, bei dem ich als Messdiener mitwirken dufte. Genau 25 Jahre zuvor hattest Du Mama im Alter von 34 Jahren in der Kamp-Lintforter St. Josefs-Kirche mit ernstem Gesichtsausdruck, wie es mir das Foto zeigt, geheiratet. Im Rückblick auf 25 Jahre mit Mama hörte ich Dich sagen: »Alles, es war einmal!«
Drei Jahre nach Deiner Silbernen Hochzeit und ebenfalls gut drei Jahre nach Christianes Hochzeit stand Marlene, mein 23 Jahre altes Schwesterchen, am 14. März 1970 vor dem Traualtar in der Karnaper Marienkirche. Nach der festlichen Messe durften Karlheinz’ Bruder und ich als Brautzeugen in der Sakristei das Hochzeitsdokument unterschreiben. Beim Fest in einem Restaurant am Kaiserpark mit seinen frühlingserwachenden Bäumen hattest Du, Papa, Deinen großen Auftritt mit dem Sologesang des Kuckuckswalzers. Gerade fällt mir auf, warum man Hochzeiten eigentlich so groß feiert, da sie immer auch etwas Trennendes, Abschiednehmendes, Zukunftsveränderndes in sich bergen, um so gestärkt den Schmerz – noch versteckt – zu überbrücken.
Wenige Monate nach Eurer Silbernen Hochzeit, Papa, musstest Du im Juni 1967 wegen des Verdachts auf einen Nierentumor für fünf Tage ins Krankenhaus. Erfreulicherweise bestätigte sich die Diagnose nicht. Aus dem Krankenhaus brachtest Du zu Marlenes und meiner Freude den jungen Krankenpflegehelfer Ottmar nach Hause mit. Er hatte gerade als 20jähriger Abitur gemacht und arbeitete zur Überbrückung, bis er im Polizeidienst eingestellt würde, auf der urologischen Station. Ihm gefiel es so gut bei uns, dass er mehrmals zu Besuch kam. Ich hatte vorher viele Hemmungen, ihm zu begegnen, und Angst, ob wir uns gut unterhalten können würden, sowie tausenderlei andere Bedenken. Ohne es mir eingestehen zu wollen, hatte Ottmar mit seinem sportlich durchtrainierten Körper und bestechenden Charme eine offensive, starke erotische Ausstrahlung auf mich. Bei seinem zweiten Aufenthalt genoss ich seine Nähe beim Hören von Chansons Père Aimé Duvals, den er wie ich gut kannte. An diesem Abend sprachen wir über den Glauben und über französische Literatur.
Ob mein Freund Ottmar als Krankenpflegehelfer für mich ein Vorbild war oder Du, Papa, als ehemaliger Polizeisanitäter die Ursache dafür warst, mich für den Stationssonntagsdienst im St. Josef-Krankenhaus zu bewerben? Meine vielen eigenen Krankheitserfahrungen der letzten Jahre, schmerzhafte Nierenkoliken, giftige Akne, deren Pusteln am Hals mich für einen Monat stationär in die Uniklinik brachten, heftige Kopfschmerzen verbunden mit Sehstörungen und die inzwischen vertraute chronische Ohrenentzündung, waren bestimmt ein weiterer Grund dafür, anderen Kranken solidarisch beizustehen.
Dank dem Stipendium für das BAG war meine Arbeit in der Dresdner Bank zum 31. Dezember 1967 beendet. Am Neujahrsmorgen schrieb ich in mein Tagebuch: »Da ich ja jetzt mehr Zeit für das Studium habe, möchte ich gerne an einem halben Tag in der Woche eine andere Arbeit tun, nämlich sonntagmorgens auf einer Station im Krankenhaus helfen.« Der Sonntagsdienst junger Leute im St. Josef-Hospital in Gelsenkirchen-Horst war Tradition. Nach einem Gespräch mit der Oberin teilte sie mir die innere Männerstation von Schwester Zita zu. Der Dienst begann um 7.00 Uhr und endete nach dem Mittagessen. Der erste Sonntagsdienst sollte für mein ganzes Leben prägend werden, da gleich zwei Patienten, ein junger Suizident und ein älterer Herr, in meinem Beisein starben. Ich hatte doch, Papa, ein starkes Zittern in den Beinen bekommen, zumal die Schwester vom Umbetten und Leichenhaus sprach, und deshalb bat ich, aus dem Sterbezimmer gehen zu dürfen. Auf dem Flur ging es mir gleich besser, und kurz darauf kam Schwester Zita und sagte, ich möge doch in die moderne Kantine des Neubaus frühstücken gehen.
Im Dienst an den Kranken und Sterbenden half mir meine Freundschaft zu Jesus. Besonders das Leiden junger, mir gleichaltriger Männer ging mir nahe, und ich fragte an den nächsten Sonntagen Christus: »Warum?« Sr. Zita sagte mir zu meiner Ermutigung, dass wir in jedem kranken Menschen Jesus begegnen. Sie selbst litt an Unterleibskrebs. Nach zweieinhalb Jahren Sonntagsdienst war zwischen mir und manchen Kranken, insbesondere zu den chronisch Kranken, die immer wieder kommen mussten, Freundschaft entstanden. Der Abschied später von den Kranken, Sterbenden, dem Stationspersonal, den Raumpflegerinnen und Stationsschwestern des St. Josef-Hospital fiel mir viel schwerer als in der gleichen Zeit von den Schülern und Lehrern des Bischöflichen Abendgymnasiums.
Das ganze Jahr 1967 über reifte in mir der Entschluss, in den Krankenorden der Kamilianer einzutreten, doch erst Anfang November wagte ich, Mama und Marlene davon zu erzählen. Wie meine Schwestern weinte Mama heftig nach dieser Nachricht, ahnend, dass ich bald einmal endgültig von zu Hause Abschied nehmen würde. Du, Papa, sahst Mamas verheultes Gesicht, erfuhrst den Grund und sagtest zu meiner angenehmen Überraschung, darüber brauche man doch nicht zu weinen, sondern man solle sich freuen, und Du seiest stolz, dass ich einen solchen Beruf gewählt habe. Letztlich nahm ich von dieser Ordensgemeinschaft Abstand, als mir nach wiederholten Klosterbesuchen bewusstwurde, wie sehr der Pater Provinzial auf die Privilegien und Immobilien seines Ordens bedacht war. Ich dagegen war gemäß dem Vorbild der französischen Spiritualität ganz und gar von einer Nachfolge Christi überzeugt, die bereit ist, auf alles zu verzichten und von selbstloser Liebe zu Gott und zu den Menschen erfüllt lebt. Ja, Papa, damals war ich, was meine Nachfolge Jesu anging, sehr radikal und konsequent gesinnt.
Auf dem Katholikentag in Essen 1968 lernte ich bei einem Seminar Bruder Michael von den Kleinen Brüdern Jesu kennen. Er wohnte mit noch zwei Brüdern in einer kleinen Mietwohnung in einem sozialen Brennpunkt am Gleisdreieck von Duisburg-Hamborn. Tagsüber arbeitete er als Müllmann. Bei meinem ersten Besuch kam ein Nachbar hinzu. In der kleinen Küche saßen wir zu dritt bei Kaffee und Plätzchen. Die Teilnahme an der stillen Anbetungsstunde vor dem Abendessen bestärkte meine Bereitschaft für dieses Leben mitten unter den Menschen. Später kam noch Bruder Manfred hinzu. Er arbeitete in einer Fabrik als Hilfsarbeiter. Ich war berührt von ihrem freundschaftlichen Umgang mit den Nachbarn und zugleich fasziniert von der kargen, jedoch auch warmen Zimmergestaltung der kleinen Fraternität inmitten einer Obdachlosensiedlung.
Jedoch noch vor dem Entschluss, zu den »Kleinen Brüdern Jesu« zu gehen, lernte ich durch unseren Lateinlehrer Bernhard Tobias Trier, »das kleine Rom«, wie er es nannte, und die dortige Benediktinerabtei St. Matthias kennen, die der Legende nach über dem Grab des Apostels Matthias gebaut ist. Der freundliche Gastpater Maurus lud uns Schüler anlässlich unserer Klassenfahrt im Herbst 1968 herzlich ein, in den Ferien für einige Tage in die Abtei zu kommen. Ernst, ein immer modern gekleideter, schlanker, charmant blickender, auf mich erotisierend wirkender Klassenkamerad nahm mit mir sofort das Angebot an, in den Weihnachtsferien eine Woche lang mit dem jungen Konvent den Jahreswechsel zu verbringen. Ernst hatte sich den Namen Sadri zugelegt, da er sich zum Islam hingezogen fühlte. Trotz der hohen mittelalterlichen, fast morbiden, winterlich kalten Räume und Flure des Klosters erfuhren wir beide eine warme herzliche Atmosphäre in der Begegnung sowohl mit den jungen Novizen als auch mit den erfahrenen älteren Brüdern. Wir durften an ihren gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen und beteten mit ihnen im Chorgestühl die Liturgie entsprechend den Tageszeiten. Die Mönche waren in gesellschaftlichen und interreligiösen Fragen gut informiert. Ihre Theologie und benediktinische Spiritualität machten auf Ernst einen besonders großen Eindruck.
Doch meine Sehnsucht nach dem Leben der Kleinen Brüder Jesu hatte sich bestätigt. Dankbar sagte ich einmal zu Mama, dass ich durch die Familie sehr viel positive Veranlagung mitbekommen hätte. Mithilfe dieser kostbaren Ressourcen konnte ich mich ein Leben lang leicht auf die Seite derjenigen Menschen stellen, die als Kinder und Jugendliche von zu Hause kein herzliches Willkommen mitbekommen haben. Deine, Papa, Mamas, Marlenes und Christianes wunderbaren Talente und lebensbejahende Botschaft nahm ich mit in die Ferne nach Frankreich. Am 1. September 1970 begann ich in St. Rémy bei Montbard in Burgund das Postulat der Kleinen Brüder Jesu.
Heute, am Nikolausabend, bin ich gespannt, Papa, womit Burkhard mich morgen überraschen wird. Jetzt werde ich mich erst einmal schlafen legen.
Liebe Grüße
Dein Sohn Gregor