Читать книгу Gregorsbriefe - Gregor Schorberger - Страница 9

Brief über die Zeit als Postlehrling

Оглавление

Frankfurt am Main, 21. November 2016

Lieber Papa,

gerade hat die Türklingel geläutet. Ich habe für Burkhard vom Briefträger einen großen Einschreibebrief entgegengenommen. Burkhard bekommt täglich wegen seiner Baustelle im Kaufhaus H&M auf der Zeil Post. Zum Glück hat der Briefträger nur eine Treppe bis zur ersten Etage zu ersteigen, um die Geschäftspost, sofern sie nicht in den Briefkasten geht, bei mir abzugeben. An der Tür sagte ich zu ihm: »Warten Sie noch einen Moment. Ich möchte Ihnen etwas geben. « Weiß ich doch aus eigener Erfahrung, was es heißt, bei Wind und Wetter und gerade bei trübnassem Novemberregen wie heute als Briefträger unterwegs zu sein. Mit erstauntem und dankbarem Blick nahm der junge attraktive Zusteller das kleine Trinkgeld in seine kaltgefrorenen Hände.

Im Rückblick auf längst vergangene Zeiten bin ich überrascht, im Alter von 14 Jahren bei der Post gelandet zu sein. Als ich im April 1962 die Ausbildungszusage erhielt, Papa, freutest Du Dich sehr mit mir. Dir war vor allem wichtig, dass ich über eine spätere Beamtenstellung zeitlebens abgesichert sein würde. Mir selbst hätte keine andere Lehre besser als die bei der Post gefallen können. Die vielseitige Praxis im Zustellungs-, Paket- und Zeitungsdienst, verbunden mit dem theoretischen Lernen, machte mir Spaß. Begeistert hatte ich die gerade eingeführten Postleitzahlen studiert. Schnell lernte ich außerdem alle Bahnstrecken im Ruhrgebiet auswendig, obgleich ich nie in einem Postzug mitfahren sollte.

Im zweiten Lehrjahr bekam ich aufgrund des sehr kalten Winters auf dem Paketwagen Gelenkrheumatismus. Drei Monate lang war ich stationär im St. Josef-Krankenhaus in Gelsenkirchen-Horst in Behandlung. Obwohl an meiner Berufskrankheit unschuldig, bestrafte mich die Postdirektion mit einer vierteljährigen Ausbildungsverlängerung. Vergeblich versuchten meine Altenessener Vorgesetzten, die Verlängerung mit dem Hinweis zu verhindern, dass ich in Essen von 60 Schülern als Lehrgangsbester ausgezeichnet worden war. Somit konnte ich nicht mit meinen Essenern Postlehrlingen zusammen den Abschluss machen, sondern musste als einziger nach Düsseldorf zur Prüfung, was zur Folge hatte, dass ich statt der erwarteten sehr guten Abschlussnote nur eine befriedigende Durchschnittsnote erhielt. Diese enttäuschende Nachricht war für mich so bitter, dass ich auf dem Rückweg ganz depressiv am Düsseldorfer Hauptbahnhof stand. Der Aufstieg in den Mittleren Dienst blieb mir damit verschlossen. Meine neue Berufsbezeichnung »Postschaffner zur Anstellung« erhielt ich feierlich vom Postamtmann in Essen-Altenessen ausgehändigt. Du, Papa, jubeltest über dieses Papier, mit dem ich als Beamter im einfachen Dienst bestätigt wurde. War doch jetzt Dein stets kranker, schwacher Sohn in scheinbarer sozialer Sicherheit.

Ich fühlte mich nach der Postlehre so, als sei alles zu Ende, als ginge nichts mehr weiter, als wäre alles umsonst gewesen, als müsste ich immer schwach und krank bleiben. Dennoch führte mich dieser Zustand als 15jähriger erstaunlicherweise nicht in die Verzweiflung. Dank Mamas Gebetsanleitungen, der Kommunionkind- und Messdienererfahrung war in mir der christliche Glaube vor allem in den unendlich langen Krankenhauswochen zu einer stattlichen grünen Pflanze mit vielen Ablegern herangewachsen. Aber, Papa, auch Deine Worte und Dein zuversichtlicher Blick am Krankenbett – »Es wird täglich besser!«, »Nur noch kurze Zeit und Du bist wieder zu Hause«, »Wenn Du nur gut zu Hause isst und trinkst, wirst Du wieder ganz gesund!« – waren im Sommer 1963 für mich überlebenswichtig.

Als Briefträger war ich oft in den Bergmannssiedlungen des Altenessener Nordens eingesetzt. Diese einfachen Menschen wuchsen mir ans Herz. Ich freute mich, mit ihnen über Glückwunsch- oder Urlaubspost und Geldzuweisungen zu reden. Ebenso litt ich mit ihnen bei schlechten Nachrichten durch Trauerbriefe, Gerichtsbriefe und nicht bezahlte Rechnungen. Monatlich bekamen die Bergleute die Gewerkschaftszeitung »Werk und Wir«, die meine Tasche dermaßen beschwerte, dass ich erneut Knieschmerzen bekam. Auch andere Krankheitssymptome in den Füßen und Beinen, Schmerzen in der Magen- und Herzgegend überfielen mich in den ersten Jahren nach meinem Krankenhausaufenthalt. Hatte ich dazu noch Kopf- und Ohrenschmerzen, Übelkeit und Schwindel, dann musste ich mich krankschreiben lassen, da ich nicht fähig war, meinen großen Bezirk zu meistern. Von manchen Postvorgesetzten erhielt ich Mitleid, sodass sie mich wegen meiner erlittenen Krankheitsrückfälle zeitweise für den Innendienst in der Zeitungsstelle des Postamtes freistellten.

Nach meinem langen Krankenhausaufenthalt wurden wir beide uns wieder so fremd, dass wir uns gegenseitig ständig auf die Nerven gingen. Nichts, aber auch gar nichts konnte ich Dir recht machen. Deine Schimpftiraden habe ich noch heute im Ohr: »Ständig gibst du Widerworte!«, »Zum tausendsten Mal habe ich dir gesagt, nimm die Hände vom Gesicht!«, »Wenn du mich noch einmal so anguckst, schmeiße ich dich die Treppe hinunter!«. Ständig hattest Du mit strafendem Blick etwas an mir auszusetzen. Aus jedem Fehlverhalten meinerseits machtest Du eine gewaltige Sache. Als ich Dich auf dem Hof nicht mit »Guten Morgen!« begrüßte, warst Du so verärgert, dass Du auf meinen Zuruf: »Du sollst mich nicht so anschreien!«, resigniert sagtest, ich solle meiner Wege gehen, dann hättest Du endlich Ruhe vor mir und ich vor Dir. Mama sagte mir oft genug mit traurigem Gesichtsausdruck nach solchen Ereignissen: »Nimm Papas Aussagen nicht so ernst, du musst dich wieder mit ihm vertragen, Papa hat es nicht so gemeint.« Statt von zu Hause fortzulaufen, wie ich es öfter nach solch einem Vorfall vorhatte, blieb ich auch diesmal, aus Liebe zu Mama. Mit meiner Empörung blieb ich indes allein. Auf andere Gedanken kam ich einerseits im Klagegebet an Gott und andererseits, indem ich alles in mein Tagebuch niederschrieb.

»Die 175er« nanntest Du, Papa, in meiner Jugendzeit während der 1960er Jahre Männer, die Männer lieben, wie mir kürzlich Marlene und Christiane berichteten. Wer diese Menschen waren und auf welche Weise Du mit ihnen dienstlich zu tun hattest, erfuhren wir damals von Dir nicht. Aus heutiger Sicht ist mir klar, dass »die 175er« eine der indirekt diskriminierenden Bezeichnungen für homosexuelle Männer ist. Fühltest Du, Papa, Dich als 21jähriger junger Mann in Deiner Männlichkeit durch solche Männer bedroht bzw. gezwungen, Deinen eigenen homoerotischen Anteilen begegnen zu müssen? Ob auch Du mit dem völkischen Nationalismus sympathisiert hast, der schon in der Kaiser- und Weimarer Zeit seine generelle Verachtung von Minderheiten wie jüdischen Familien, Sinti und Roma sowie homosexuellen Menschen proklamierte? Die diskriminierende Politik der Kirchen gegenüber homosexuellen Menschen hat schon in der Weimarer Zeit auch Deine und Deiner Familie prüde Sexualmoral maßgeblich beeinflusst. Wie konntest Du Dich über Erichs graziöse Ballettaufführungen in unserer Wohnung freuen und mit ihm und seinen Eltern befreundet bleiben, während gleichzeitig friedliebende schwule Männer wegen des § 175 in Essen verhaftet wurden? Als junger Essener Polizist der 1930er Jahre war Dir das schwule Lokal »Eldorado« bekannt. Weit über Essen hinaus war dieses neben anderen schwulen Lokalen beliebt und gesellschaftlich anerkannt. Heute steht auf der Gedenktafel am Geringplatz in Essen: Bis zum 2. Mai 1933 befand sich in diesem Haus unter dem Inhaber Willi Hartenfels das Tanzlokal »Essener Eldorado«, ein beliebter Treffpunkt homosexueller Männer und Frauen. Mit seiner Schließung begann die systematische Ausgrenzung von Schwulen und Lesben in Essen. Die von der Gestapo durchgeführte Aktion gegen Homosexuelle zerstörte das Leben der Betroffenen. Willkürliche Schutzhaft, Misshandlungen und Internierung in Konzentrationslagern gehörten zum Schicksal von Männern, die Männer liebten. Frauen, die Frauen bevorzugten, galten als »asozial«. Durch den § 175 StGB noch bis 1994 kriminalisiert, wurden die Opfer totgeschwiegen. Welche Kuriosität, dass gerade mein Verlag an der Technischen Universität Dortmund mit dem gleichen Namen »Eldorado« meine Dissertation »Studie zum Projekt: schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf« kostenlos ins Internet gestellt hat.

Sind es zwei oder mehrere Seelen in Deiner Brust, mit denen Du als Polizeiangehöriger vor und nach dem Zweiten Weltkrieg im Umgang mit homosexuellen Menschen zurechtkommen musstest? Nicht selten sah ich Dich, Papa, mit einem traurigen, wehmütigen oder nachdenklichen Blick in die Ferne schauen und fragte mich schon damals, woran Du Dich wohl gerade erinnert hattest und was in Dir vorging. Heute bedauere ich, Dich nicht gefragt zu haben. Mama habe ich auch nicht gefragt, wie sie als junge gebildete Frau die Hetze von Kirche und Staat gegen homosexuelle Menschen oder jüdische Kinder, Frauen und Männer in Kamp-Lintfort und später in Essen erlebt hat. Bei Mama vermute ich zu diesen Themen ein noch stärkeres absolutes Tabu als bei Dir, Papa. Die Reaktion Mamas mit abweisendem Blick im Januar 1965: »So was muss man doch nicht zeigen« auf eine Fernsehreportage veranlasste mich, in mein Tagebuch zu schreiben: »Ein arbeitsreicher Tag liegt hinter mir. Nach dem Fernsehstück über Geisteskranke während der Hitlerzeit entstand zwischen Mama, Christiane, Marlene und mir eine heftige Diskussion über Sinn und Zweck dieser Filme. Sie waren gegen mich, weil ich mich für diese Filme ausgesprochen habe. Ich sagte Mama, dass es sehr wichtig sei, solche Themen öffentlich zu machen, weil der Film den ermordeten Menschen damals und den heutigen geistig und körperlich Behinderten im Nachhinein eine Würde gibt. Nur so können tiefsitzende diskriminierende Vorurteile in der deutschen Bevölkerung angegangen werden.« Als Briefträger des Essener Nordens habe ich oft genug erlebt, wie Eltern ihre körperlichen und geistig behinderten Kinder in den Wohnungen versteckten, wissend, dass die auch in den Kirchen nicht erwünscht waren, da sie sabbern oder Laute von sich geben konnten. Mir griffen diese Kinder besonders in den Obdachlosensiedlungen ans Herz. Zu Weihnachten brachte ich einigen von ihnen Spielzeug und den Eltern Kaffee und Süßigkeiten, wenn der Vater arbeitslos und in vielen Fällen gleichzeitig Alkoholiker war. Bei der Zustellung hatte ich ihr Vertrauen gewonnen und fühlte mich nach diesen Weihnachtsaktionen als der durch diese Erlebnisse besonders Beschenkte. Ist es doch viel leichter zu geben, als nehmen zu müssen.

Permanent warst Du, Papa, über mein widerspruchsvolles Verhalten als Jugendlicher enttäuscht. Heute würde ich sagen, dass ich überhaupt nicht Deinem national-deutschen, preußischen Sittenbild entsprach: stark, sportlich, tapfer, pflichtbewusst, diszipliniert, wachsam, gefügig und gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Ja, Papa, trotz meiner Uniform als Briefträger bin ich nicht zu dem geworden, wie Du mich haben wolltest. In Deinen Augen war ich eben kein dem traditionellen Familienbild entsprechender Mann. Natürlich hätte ich nie gewagt – hier wirkten sowohl mein Unterbewusstsein als auch unausgesprochen die kirchlichen Verurteilungen homosexueller Männer in mir –, Dir zu sagen, dass ich mich erotisch zu Männern hingezogen fühlte. Nur mein Körper reagierte immer stark bei homoerotischen Begegnungen, wie in der Straßenbahn, als ich nach meiner Briefzustellung diesen überaus schönen, schwarzgelockten Jungen mit großen blauen Augen ansah. Er kam aus dem Leibniz-Gymnasium, das neben dem Postamt lag, und benutzte am frühen Nachmittag die gleiche Straßenbahn, um wie ich nach Hause zu fahren. Seine anmutige, auf mich ansprechend wirkende Gestalt und sein gewinnendes Lächeln zogen mich wie ein Magnet an. Ich spürte sofort Schmetterlingsgefühle im Bauch, wenn ich ihn an der Haltestelle oder im Straßenbahnwagen antraf. Nach wochenlanger Stummheit und erregtem Herzklopfen kam es dann zu einem ersten Gruß, an späteren Tagen zu kurzen Gesprächen über seine Lieblingsfächer Kunst und Geschichte. Ich erzählte ihm stolz von meinen Schwestern, die diese gleichen Fächer an der Realschule hatten und deren Inhalte sie mit mir teilten. Ich war beglückt und erleichtert über diese sympathischen, erotisierenden, mehr und mehr unverkrampften Begegnungen. Nach einigen Monaten verloren wir uns sprichwörtlich aus den Augen.

Unsere Familie stand Dir, Papa, über allem. Keinen anderen Mann habe ich je kennengelernt, der so stark das Familienidyll predigte und versuchte zu gestalten wie Du. Nicht als Ehemann habe ich Dich erlebt, sondern als einen Mann, der seine Frau als Mutter seiner Kinder ansah und uns Kinder über alles liebte. Weder Freunde, Stammtisch, Kulturveranstaltungen noch Vereine kamen für Dich infrage. Kein Wunder, dass ich in der Kinder- und Jugendzeit keinen festen Freund finden konnte. Nach Deinem täglichen Polizeidienst galt Dir nur das Familienleben mit Tieren und Garten als Lebenselixier. Dein gesamtes Gehalt gabst Du selbstverständlich und stolz monatlich an Mama ab. Am Zahltag hattest Du meistens gute Laune, und hocherfreut über Deinen Monatsverdienst brachtest Du frische Brötchen mit nach Hause. Angesichts dieses äußerlich harmonischen Familienlebens frage ich mich, warum ich mich als Kind und als Jugendlicher von Euch Eltern abgewandt und zunehmend intensiver geistlichen Bezugspersonen wie Jesus, Maria und einigen Heiligen, insbesondere der kleinen Theresia von Lisieux, zugewandt habe?

Wegen meines permanenten Widerspruchs Dir gegenüber sagte Marlene mit blitzendem Blick zu mir: »Du musst immer alles besser wissen und hältst Moralpredigten. Renne nicht dauernd zur Beichte, sondern verhalte Dich mal anders zu Papa!« Meine wöchentlichen Besuche der Salve-, Rosenkranz- oder Marienandacht waren für mich nichts anderes als wunderbare meditative Stunden zum Abschalten von anerzogenen moralischen Skrupeln, vom Alltagsstress, vom Ärger über Vorgesetzte bei der Post, von nerviger Familie und letztlich auch von meinen vielfältigen Krankheitssymptomen. Manchmal begleitete Mama mich zur Salve-Andacht. Da sie mit Dir, Papa, weder zu geselligen Veranstaltungen noch ins Theater oder in Konzerte ging, konnte sie wenigstens in der Kirche vom häuslichen Stress abschalten.

Besonders nach Christianes plötzlichem Verlobungsende mit Xaver litt die ganze Familie mit ihr. Xaver, der schlaksige, Elvis ähnelnde Automechaniker, war uns allen sehr sympathisch gewesen. Ich genoss es, wenn er mich zärtlich wegen meines schmalen Aussehens »Röhrchen« nannte und mich dabei minutenlang streichelte. In ihrer tiefen Trauer über das Ende dieser großen Liebe flüchtete sich Christiane in Alkohol und nahm permanent Kopfschmerztabletten. Nicht nur einmal waren durch ihre Abhängigkeit und ihr damit verbundenes Erbrechen unsere Weihnachtsfeste betrübt. Ihr größter Albtraum war, keinen Mann mehr zu bekommen und als jungfräulich Sitzengebliebene von Familienangehörigen, Kolleginnen und Nachbarn verachtet zu werden. Papa, in was für einer Gesellschaft der 1960er Jahre lebten wir, in der nicht nur schwule Männer tabuisiert und verachtet wurden, sondern generell auch ledig gebliebene Frauen und Männer? Anderthalb Jahre nach der Trennung von Xaver lernte Christiane Werner kennen.

Ja, Papa, trotz der Liebe zu Dir und Mama hatte ich mich Euch mit meinen Problemen als pubertierender Junge nicht anvertraut. Als gefühlter Außenseiter hatte ich noch im August 1963 nach meinem langen Krankenhausaufenthalt begonnen, fast täglich Tagebuch zu führen. Im Hinblick auf das gerade erworbene Buch »Zwischen 15 und der Liebe« sagte ich mir damals, was Danny, die sympathische Hauptfigur, kann, kannst Du auch, eben Tagebuch schreiben. Mit Begeisterung habe ich diesen Roman von Michel Quoist gelesen, jedoch nur heimlich, da die sexuelle Thematik in unserer Familie tabu war. Obgleich von einem katholischen Priester geschrieben, hatte ich dennoch Angst, dass Du, Papa, oder Mama das Buch finden könntet. Ich sehe Dich noch vor mir, wie Du über das Verhalten unserer Cousine Maria geschimpft und sie als unanständig bezeichnet hast, weil sie auf dem Schoß ihres Freundes saß.

Über die Schriften von Michel Quoist lernte ich die französische spirituelle Literatur und eine befreite, basiskirchliche, linke Religiosität kennen, die mir, dem Außenseiter, vom Herzen her entsprach. Zu Deinem Leidwesen, Papa – Du warst nämlich ein begeisterter CDU-Anhänger – begann in dieser Zeit in mir auch ein Quantensprung von anerzogener traditioneller Lebenseinstellung zu progressiver Gesellschaftseinstellung. Mir gelang es, von einer prüden, moralischen, CDU-gefärbten Familientradition weg- und hin zu einer toleranten, weltoffenen und differenzierten Haltung gegenüber Kirche und Gesellschaft zu kommen. Ich begann, mich allen Menschen gegenüber zu öffnen, egal welche sexuelle Identität, Lebensform, Hautfarbe, Weltanschauung und Religiosität sie hatten, da für mich jede Person die gleiche Würde hat.

Obwohl gut versteckt und voller Angst, dass ein Familienmitglied jemals mein Tagebuch finden könnte, erzählte ich Dir dennoch von meinem ständigen Schreiben. Stammt doch von Dir der Ausdruck: »Wer schreibt, der bleibt.« Von der Elektrogroßhandlung Robert Merkelbach KG in Essen brachtest Du mir jährlich wunderbare Jahreskalender mit, die ich mit Begeisterung vollschrieb. Körperliche, homoerotische, seelische, soziale, familiäre, berufliche, gesellschaftliche, kirchliche und vor allem spirituelle Ereignisse und Erfahrungen »schrieb ich mir von der Leber weg« – auch so ein Ausdruck von Dir. Mein Tagebuch, dem ich alles anvertrauen konnte, wurde mir zum wertvollen Lebensbegleiter. Als ich im Oktober 1965 aufhören wollte, es zu führen, da ich wegen des Besuchs des Abendgymnasiums keine Zeit mehr dazu hatte, stellte ich fest: »Muss ich doch einfach wieder schreiben, habe einen starken Drang danach, das Schöne, das ich erleben durfte, in meinem Tagebuch aufzuzeichnen.«

Priester zu werden war ein weiteres, stets wiederkehrendes Thema darin. Ich stellte mir ständig die Frage, ob ich überhaupt wegen meiner Lernschwäche als Legastheniker und mit einem unzureichenden Volksschulabschluss zu diesem Dienst taugte. Dennoch hatte ich den tiefen Glauben in mir, Wege zu finden, meinem Freund Jesus nachzufolgen. Über meine Briefzustellung im Altenessener Norden lernte ich in der Pfarrei St. Ewaldi Pater Augustinus kennen. Bei meiner täglichen Postabgabe dort lud er mich zu einer kleinen Kaffeepause ein, die ich jedes Mal gerne annahm. Bei einem unserer Gespräche im September 1964 fragte ich Pater Augustinus, ob ich nach meiner Postlehre Priester werden könnte, obgleich ich als Abschluss nur die Volksschule hätte. Er machte mir Mut, zum Bischöflichen Abendgymnasium (BAG) in Essen zu gehen. Mit Marlene besprach ich sofort die Vor- und Nachteile einer Abendschule. Entsprechend ihrer Frohnatur spornte sie mich an, beim Bischöflichen Generalvikariat Informationen über das BAG einzuholen. Sie hatte inzwischen das Abitur erfolgreich bestanden und ihr Studium an der Pädagogischen Hochschule begonnen. Obgleich Marlene 21jährig und zu dieser Zeit frisch in Karlheinz verliebt war, nahm sie sich Zeit, mit mir zu lernen. Ich war Marlene für ihre Hilfe sehr dankbar, jedoch auch krankhaft eifersüchtig auf ihren Freund Karlheinz. Heute, Papa, muss ich schmunzeln über die Weisheit, dass »Eifersucht eine Tugend ist, die mit Eifer Leiden sucht«. Ganz erleichtert war ich im Mai 1965 über die Zusage meiner optimistischen Schwester, mich zum Erstgespräch mit dem Schuldirektor des BAG, Dr. Heinrich Allekotte, zu begleiten.

Mit dem 1. Oktober 1965 und meinem Antritt am BAG begann für mich ein ganz neuer Lebensabschnitt, der entscheidend meine begonnenen Lebensveränderungen, insbesondere die neu gewonnene ethisch-religiöse Einstellung, vertiefte.

Mit Deiner stets aktuell gebliebenen Botschaft im Ohr »Niemals aufgeben!« verabschiede ich mich für heute

von Dir mit einem herzlichen Gruß

Gregor

Gregorsbriefe

Подняться наверх