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Brief über die Ordenszeit
als Kleiner Bruder Jesu

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Benediktiner Abtei St. Matthias, Trier, 12. Dezember 2016

Lieber Papa,

gerade sang der Abt der Benediktinerabtei St. Matthias, Bruder Ignatius, zum Schluss des gemeinsamen Abendessens mit Brüdern und Gästen: »Gott, segne alle, die uns Gutes tun und schenke ihnen um Deines Namens Willen das ewige Leben. Amen.« Gerne schließe ich mich zu Beginn meines erneuten Aufenthaltes hier im Kloster der Bitte des Bruders Ignatius für Dich, Mama, Marlene, Christiane, Burkhard und alle uns Anvertrauten an.

Bestimmt war es nicht leicht für Euch, mir an jenem frühen Dienstagmorgen des 1. September 1970 bei der Abfahrt des Zuges nach Paris auf dem Essener Hauptbahnhof nachzuwinken. Mein heftiges Winken aus dem Fenster sehe ich heute im Rückblick als Metapher, dass ihr mich trotz meines ernsthaften Entschlusses zur Nachfolge Jesu nicht loslassen konntet – und ich Euch auch nicht. Trotz meiner intensiven Vorbereitung auf das neue geistliche Leben in der kontemplativen Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu, trotz der Vorfreude, das Postulat jetzt im Spätsommer nach dem gerade bestandenen Abitur beginnen zu können, trotz Deiner Versicherung: »Wir freuen uns, dass Du Dich glücklich fühlst mit Deiner Berufung«, fragte ich mich, ob ich es letztlich schaffen würde, dem Lied von Edith Piaf »Non, je regrette rien« entsprechend, alles hinter mir zu lassen, alles Anvertraute wegzufegen, um am Punkt Null mit Jesus Christus im Orden ganz neu zu beginnen.

In St. Rémy stellte ich fest, dass ich als Postulant nur ein Viertel des Gepäcks benötigte. Der äußerst feinfühlige, und sympathische geistliche Leiter des Postulats, Bruder Dominique, empfing mich, ohne eine Bemerkung zu meinen vielen Koffern zu machen, herzlich am nächtlichen Bahnsteig der kleinen Stadt Montbard. In seiner großen, leicht von Krankheit nach vorn gebeugten, mageren Gestalt, gehüllt in einen billigen Lodenmantel und mit ausgetretenen Schuhen, glich Bruder Dominique eher einem müden Fabrikarbeiter als einem Ordensmann. Allein seine großen, leuchtend dunkelbraunen Augen, die Menschenfreundlichkeit, Weisheit, Hoffnung und Wärme ausstrahlten, verrieten mir einen lebenserfahrenen, spirituellen, interessierten Menschen, dem anzuvertrauen sich lohnte. Bruder Dominique war der leibliche Bruder des Ordensgründers René Voillaume.

Kaputt und müde fiel ich in dieser ersten Nacht in St. Rémy ins Bett. An Schlaf war nicht zu denken, da ich ständig die am Klostergebäude vorbei donnernden Züge hörte. In kurzen Albträumen sah ich mich vergeblich mein schweres Gepäck von einem Bahnhof zum anderen schleppen, um dann am Bahnsteig dem letzten Waggon des abfahrenden Zuges ohnmächtig nachzuschauen. Am Morgen beim kargen Frühstück, Baguette und Butter, fragte mich Bruder Dominique, ob ich gut geschlafen hätte, was ich natürlich nicht bestätigen konnte. Auf meine Gegenfrage, ob er gut geschlafen hätte, erfuhr ich, dass er wegen seines Asthmaleidens kaum schlafen konnte. Das erklärte sein hageres Aussehen und sein Fehlen um 5.20 Uhr bei der Laudes, dem Morgengebet der Mönche.

Nach drei Tagen St. Rémy, in denen ich gerade einmal die anderen sieben Postulanten, vier Franzosen, zwei Spanier und ein Amerikaner, ein wenig kennengelernt hatte, war ich wieder auf Reisen, um auf Empfehlung von Bruder Dominique in Besançon Französisch zu lernen, hatte ich doch am Abendgymnasium nur Latein und Griechisch als Sprachen. Papa, ich war in St. Rémy angekommen, um wieder zu gehen – auch eine bedeutungsvolle Erfahrung, die, wie Du weißt, mich mein Leben lang begleiten sollte und letztlich erst mit Beginn meiner Liebesbeziehung zu Burkhard im Sommer 1992 endete.

Die Sprachschule, das »Centre Linguistique de Besançon«, ein Ableger der Universität, lag inmitten dieses malerischen, baulich total heruntergekommenen, morbiden Städtchens, das vom Fluss Doubs wie eine Halbinsel umgeben war. Über den vielen alten Häusern, Villen und Palästen mit bunten, formschönen Dachziegeln erhob sich auf dem vor der Altstadt liegenden Berg Mont Saint Étienne »La Citadelle«, ein großer Militärstützpunkt aus der Zeit Napoleons. In der katholisch dominierten Stadt ragte die Kathedrale Saint Jean über die kleinen Gassen mit ihren grünen Baumoasen und vielen kleinen barocken Brunnen hinaus. Weiterhin gab es schon damals Fußgängerzonen entlang kleiner Geschäfte, Bäckereien und Cafés, kleine Parkanlagen und Uferwanderwege, die ich in den ersten Tagen als einsamer Fremder und nachdenklicher junger Mann von 23 Jahren entlangging. Direkt neben dem imponierenden barocken Krankenhausgelände Hôpital Saint Jacques lag die Kirche Saint Pierre, eine ebenso barocke wie halb verfallene, dunkle, selten durch ein paar Sonnenstrahlen erhellte Kirche aus dem 18. Jahrhundert. Ich suchte sie täglich für meine Anbetungsstunde auf. Alles, einschließlich meiner Unterkunft in dem übergroßen leeren Priesterseminar »Le Grand Seminaire de Besançon« in der Rue Mégevand, entsprach meiner traurigen Gemütsverfassung: wehmütig über den Verlust der Familie, den Verlust der Karnaper Heimat und den gerade kurz zuvor erfahrenen Verlust der Brüdergemeinschaft in St. Rémy.

Allein die klagende Stimme Edith Piafs aus einem sozialistisch angehauchten Kellerlokal gleich schräg dem Priesterseminar gegenüber zog mich am 5. September 1970, dem ersten Samstagabend in Besançon, wie ein Magnet an. Hier, inmitten eines Arbeitermilieus, hielt ich mich gerne auf, um ein Käsebaguette mit einem Glas Rotwein zu mir zu nehmen. Nur zwei Menschen, den freundlichen Pförtner, der drei Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen war, und den libanesischen Medizinstudenten Antoine, lernte ich anfänglich in dem großen Priesterseminar kennen. Antoine half mir bei kleinen Reparaturen in meinem kargen Zimmer mit äußerst trockenem Dielenholzbodengeruch. Obgleich Antoine eine größere Nähe zu mir suchte, blieb ich als junger Postulant instinktiv distanziert. Gerne aber nahm ich seine Einladung an, mit ihm und seinen arabischen Freunden zum gemeinsamen Mittagessen in die Mensa der Sprachschule zu gehen.

Mit Schulbeginn am »Centre Linguistique de Besançon« traf sich nach drei Stunden Sprachlabor unsere kleine internationale Gruppe täglich zum Mittag am eigenen Mensatisch. Neben der Ordensschwester Elisabeth war ich der einzige Deutsche unter Finnen, Japanern und Arabern. Obgleich wir uns nur mit Gestik, Mimik und ersten französischen Worten verständigten, begann schon nicht nur zu Elisabeth, sondern auch zu Kamal aus Libyen und zu Tunichi aus Japan eine Freundschaft. Völlig erschöpft vom vielen Sprachunterricht traf ich mich dennoch am Abend mit Kamal und Tunichi zum Weiterlernen. Elisabeth arbeitete im Hôpital St. Jaques und wohnte im Konvent der »Weißen Schwestern« am Bergabhang. Sie lud uns drei Freunde öfter zum Kaffeenachmittag in ihren Konvent ein. In Erinnerung an meine Kindergartenschwester Hanna in Essen-Karnap und an die Krankenschwester Zita vom Sonntagsdienst im St. Josef-Hospital in Gelsenkirchen-Horst traf ich in Elisabeth die dritte sympathische, vorbildliche, freundschaftliche Ordensfrau an.

Gleich am ersten Schultag saß ich drei Reihen hinter Kamal in meiner Sprachbox. Sein attraktives orientalisches Aussehen lenkte mich immer wieder von der Wiederholung französischer Alltagsredewendungen ab. Die Sprachsentenzen rasselten bewusst-unbewusst in mein Ohr – besonders dann, wenn Kamal sich mit einem fragenden Blick zu mir umschaute. Es brauchte keine Worte, um zu spüren, dass zwischen uns der Funke einer gegenseitigen Zuneigung entstanden war. Kamal, von großer schlanker Gestalt, mit schwarzen Locken, edlen Gesichtszügen und gutmütigem Blick, war aus Libyen zum Philosophiestudium nach Paris gekommen.

Bei wunderschönen Spaziergängen mit ihm entlang der herbstlichen Ufer des Doubs erholten wir uns von den Anstrengungen der Schule. Gemeinsam bestaunten wir die Fluss-, Menschen- und Häuserlandschaften. An den Abenden trafen wir uns öfter mit unserem japanischen Kursfreund Tunichi zu gemeinsamen Schulaufgaben im Priesterseminar. Auf Einladung von Elisabeth fuhren wir am letzten Septemberwochenende nach Taizé zu einer ökumenischen Kommunität. Elisabeth hatte ein Auto organisiert und fuhr mit einem polnischen Priester, Kamal und mir über Lyon zuerst nach Tournus, der Stadt mit der beschaulichen frühromanischen Kirche aus dem ersten Jahrtausend nach Christus. An diesem Ort nahe Taizé bezogen wir vier Pilger eine kleine Pension. In Taizé waren wir vom meditativen Gesang der christlichen Mönche berauscht. Die Mehrheit von ihnen war evangelischer Konfession, doch auch katholische und orthodoxe Mitbrüder gehörten zu ihrem Konvent. Vor der Abreise aus Taizé, diesem segensreichen Ort der Gnaden, hörten wir noch einmal während des Gottesdienstes den leisen, ständig sich wiederholenden, meditativen Gesang der Mönche »Lass alle eins sein, damit die Welt glaube«, in den wir summend einstimmten. Mit den zahlreichen Jugendlichen aus aller Welt, aus allen Religionen und Weltanschauungen konnten wir vier Pilger in Taizé, diesem Ort des Friedens, der Versöhnung und der Kraft, an unsere eigenen Energien und Ressourcen kommen.

Diese Kraft brauchten Kamal und ich besonders in den nächsten Wochen. Denn noch am Abend unserer Rückkehr bekam Kamal so starke Schmerzen in der Seite, dass wir sofort ins Krankenhaus gingen. Nach einer ersten Diagnose wollten die Ärzte Kamal gleich stationär aufnehmen, jedoch bekam er eine solche Angst vor der fremden, nach Äther riechenden Atmosphäre des alten Krankenhauses, dass er es fluchtartig verließ. Die Stationsschwester nahm mein Erschrecken und meine Ohnmacht über Kamals Verhalten sowie meine Tränen wahr und gab mir ein Päckchen schmerzlindernder Tabletten für ihn mit. Auf der Straße trafen wir uns wieder und gingen gemeinsam durch den Hintereingang in mein Zimmer des Priesterseminars. Schon seit einigen Tagen wohnte und schlief Kamal illegal bei mir im Priesterseminar, da ihm aus Geldmangel sein Zimmer gekündigt worden war. Ich bat den Direktor des Priesterseminars aufgrund seiner aktuellen Notlage, Kamal für einige Zeit eines der vielen leerstehenden Zimmer zur Verfügung zu stellen. Trotz all meiner Argumente, Kamals soziale Absicherung, Studienplatz, die Aufenthaltsgenehmigung und finanzielle Unterstützung meiner Familie aus Essen, lehnte der Leiter des Priesterseminars meine Bitte ab. Auch als ich letztlich den Direktor um der Barmherzigkeit Christi willen bat, eine Ausnahme zu machen, blieb der Priester hart. Ich ärgerte mich nachträglich, den Direktor gefragt zu haben, da wir ja schon einige Tage im Zimmer zusammengewohnt hatten. Euch schrieb ich damals, »dass es mir nicht schwerfällt, mit Kamal zusammen zu schlafen, da er einen guten Charakter hat und ich mir selbst die Erlaubnis gab, angesichts der ›christlichen Torheit der Liebe‹ laut Jesu ›Froher Botschaft‹ Gesetze zu umgehen.«

Dank der Härte des Seminardirektors kamen Kamal und ich uns noch näher, indem wir zusammen in einem schmalen, durchgelegenen Bett schliefen. Ich genoss natürlich seine körperliche Nähe, da wir nicht, wie Elisabeth vermutete, wie Bretter nebeneinander schliefen. Allein die zärtliche Berührung seiner Füße glich einer Liebkosung, die ich gerne entgegennahm. Mehr an körperlicher Nähe ließ ich nicht zu, da ich doch mit Eintritt in den Orden das Gelübde der Keuschheit versprochen hatte. Interessanterweise hatte ich seit dem Ordenseintritt keine sexuellen Fantasien mehr, wie sie noch zu Hause gang und gäbe waren. Statt die erotische genoss ich in dieser Zeit die caritative Liebe zu leben. Mama schrieb einmal in einem ihrer Briefe, dass das schlimmste für mich war, wenn man mir das Helfen verweigerte. Ja, so war es.

Für Kamal, der seit drei Monaten Schmerzen im Unterleib hatte, fand ich für seine Krankheit weitere Lösungswege. Da die Tabletten seine Schmerzen nur zeitweise linderten, holte ich den Medizinstudenten Antoine hinzu, der als genehmigter libanesischer Bewohner des Priesterseminars um unsere illegale Übernachtung wusste. Er vermittelte auf Arabisch Kamal schließlich die Notwendigkeit einer stationären Behandlung. Gleichzeitig sorgte Elisabeth, die im Hospital arbeitete, für einen kostenlosen Krankenhausaufenthalt. Allein auf mein Versprechen hin, Kamal täglich im Krankenhaus zu besuchen, ließ er sich aufnehmen und am inzwischen entzündeten Blinddarm operieren. Glücklich nahm ich die Erlaubnis von Bruder Dominique auf, bei Kamal in Besançon auf der Station zu bleiben, entgegen der Vereinbarung, vierzehntägig das Wochenende im Kloster St. Rémy zu verbringen. Zuspruch, feuchte Umschläge und die Bitte um schmerzlindernde Tabletten ließen mich stundenlang an Kamals Krankenbett bleiben. Auf die Idee, ein Placebo-Präparat von dem behandelnden Arzt zu erbitten, wie Du, Papa, es mir als fünfzehnjährigem Patienten damals täglich im St. Josef-Krankenhaus wohltuend hast zukommen lassen, was aus heutiger Sicht Kamals Schmerzen nochmals erheblich erleichtert hätte, bin ich leider nicht gekommen. Letztlich stärkte gutes Essen aus Deinen und Mamas Paketen seine Heilung. Mama schenkte Kamal eines ihrer Emaille-Medaillons. Eure finanzielle Unterstützung hinsichtlich der wirtschaftlichen Notlage Kamals und vor allem Eure herzliche Einladung an ihn, nach Essen zu kommen, förderten darüber hinaus erheblich den Gesundungsprozess, sodass er nach acht Tagen aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Mit Tunichi stand Kamal am 14. November 1970 bei meiner endgültigen Abreise von Besançon ins Postulat nach St. Rémy frühmorgens am Bahnsteig. Die herzliche Umarmung und Küsse zeigten uns beiden noch einmal die entstandene innige, unzertrennliche Freundschaft.

Im letzten Waggon des Zuges auf Besançon und seine Umgebung zurückblickend, half mir in meiner Trauer ein wenig die Zeile »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und hilft zu leben« aus dem Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse, das Marlene mir in ihrem letzten Brief nach Besançon beigelegt hatte. Angesichts des traurigen Abschieds von Kamal, den Freund*innen und zehn Wochen Besançon schrieb Christiane mir: »Wisse, dass wir im Zug bei Dir sitzen!«

Zwar äußerlich Mitte November 1970 im Postulat von St. Rémy angekommen, blieb ich innerlich noch ganz mit meiner zweiten Heimat Besançon verbunden. Allein das heiligmäßige Vorbild von Bruder Dominique ließ mich nicht an meiner Liebe zu Jesus in Gebet, Meditation, Anbetung und geistlicher Betrachtung zweifeln. Dominique bestärkte meinen Entschluss, hier am Ort die Nachfolge Jesu zu leben. Ich hatte Angst davor, die tägliche stille Anbetung von anderthalb Stunden wegen Kreislaufversagens nicht durchhalten zu können. Erstaunlicherweise verspürte ich in dieser Zeit in der Kapelle eine spirituelle Kraft: einerseits für den harten Alltag des Postulates, und andererseits fühlte ich mich mit allen mir anvertrauten Menschen, insbesondere den am Rande der Gesellschaft stehenden Armen, Verlassenen, Kranken, Arbeitern, Ungläubigen und Hoffnungslosen, verbunden.

Mit Bruder Dominique verstand ich mich bestens, sowohl was meine persönliche Erfahrungswelt als auch was das Ordensleben, insbesondere das Postulat, anging. Erstaunlicherweise blieben mir meine sieben Mitpostulanten fremd, da ich mich trotz zweieinhalb Monaten Sprachstudiums nicht mit ihnen verständigen konnte. Lag es nur an ihrer schnell gesprochenen Sprache oder auch daran, dass sie kein Interesse an meinen Erlebnissen in Besançon, geschweige an meiner Herkunft hatten? Bestimmt hätte ich sie mit meiner Erwartung eines brüderlichen Zusammenseins überfordert, da jeder zu Beginn der Ordenszeit mit sich selbst zu kämpfen hatte.

Neben der hilfreichen Anleitung zum Ordensleben sorgte sich Bruder Dominique um Kamal, ganz so wie Du, Papa, in Deinen Briefen. Er schlug vor, nachdem er von Deiner vergeblichen Geldüberweisung an Kamal hörte, das Geld an einen für die Araberseelsorge beauftragten Priester in Besançon zu schicken, bei dem Kamal dann nicht nur Eure finanzielle Unterstützung hätte abholen können, sondern auch seelische und soziale Begleitung erhalten hätte. Er war aber auch damit einverstanden, dass Ihr mir das Geld ins Kloster schickt. Dominique wollte, dass ich zu Weihnachten einen anderen deutschen Bruder namens Ludwig in Annemasse bei Genf für einige Tage kennenlernte. Bei dieser denkwürdigen Reise am Jahresende über Besançon hätte ich dann Gelegenheit gehabt, Euer Geld Kamal zu seiner Unterstützung zu übergeben. Bei meiner Ankunft in Besançon am 30. Dezember 1970 stand Kamal auf dem Bahnsteig. Minutenlang hielten wir uns beide, den Tränen nahe, in den Armen. Es war ein berührendes, herzliches Wiedersehen und zugleich voller Wehmut, da wir beide ahnten, uns zum letzten Mal zu treffen. In einem dem Bahnhof nahegelegenen, uns vertrauten Café hatten wir uns so viel zu erzählen, dass wir gar nicht merkten, wie schnell die drei Stunden meines Zwischenaufenthaltes vergingen. Ich kam, um zu gehen. Entsprechend der Aussage der Kleinen Theresia von Lisieux: »Wir haben nur das Heute Gottes«, genossen Kamal und ich dennoch dankbar unser spontanes Zusammensein. Erstaunlicherweise war ich bei meiner Weiterfahrt nach Annemasse nicht so betrübt, da ich Kamal gesund, finanziell gestärkt und im Segen Gottes wusste.

Bruder Ludwig erwartete mich am Bahnsteig, umarmte und küsste mich brüderlich, wie es bei den Franzosen üblich ist, und ich fühlte mich fast wie zu Hause. Bestand aus meiner heutigen Sicht in der Brüdergemeinschaft von St. Rémy eine überwiegend kalte »Männerwirtschaft«, so erfuhr ich in der Fraternität von Annemasse eine einfühlsame, warme Atmosphäre, in der mein Herz sofort aufging. Papa, Ludwig sah genauso aus wie Ottmar, Dein Krankenpfleger, den Du damals zu uns nach Hause eingeladen hattest. Ludwig hatte einen angenehmen, heiteren Charakter, lachte viel und war wie ein leiblicher Bruder um mich besorgt. Es tat mir unheimlich gut, nach drei Monaten mal wieder mit einem gleichaltrigen Bruder deutsch sprechen zu können.

Wieder in St. Rémy, begann meine Ende November aufgenommene Arbeit als Anstreicher in einer kleinen Gruppe in Montbard. Gemäß der benediktinischen Ordensregel Ora et labora – bete und arbeite -, arbeiteten wir als Postulanten der Kleinen Brüder Jesu in verschiedenen Hilfstätigkeiten. Mit den Kollegen und dem Chef verstand ich mich bestens. Und das Essen war jeweils fürstlich vom Chef in einem Restaurant bestellt – mit Vor- und Nachspeise und immer mit Wein. Allein der etwas zudringliche Chef wollte immer noch einige Worte mehr mit mir sprechen und erzählte mir glücklich, dass sein Sohn in Deutschland Ingenieurwissenschaft studierte. Während der drei Monate harter Anstreicherarbeit beglückte mich die Hin- und Rückfahrt von St. Rémy nach Montbard mit dem Fahrrad am Kanal entlang. Wie oft sind wir, Papa, gemeinsam bis zu unserem Schrebergarten am Rhein-Herne-Kanalweg entlanggegangen. Ohne über meinen Weggang zu klagen, berührte es mich tief, in Deinem zweiten Brief nach Frankreich die Zeile zu lesen: »Seit Du fort bist von hier, trage ich Deinen dunkelblau gestreiften Pullover. Du glaubst nicht, wie gut er mir passt, brauch’ jetzt nicht mehr die Jacke im Schrebergarten.«

Gespannt sah ich Ende Februar 1971 dem bald beginnenden Noviziat in Nordspanien am Rande der Pyrenäen entgegen – dank dem Vorbild der Kleinen Theresia von Lisieux, der ich anvertraute, dass ich in dieser Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu am richtigen Ort in meiner Nachfolge Jesu war. Sagt sie doch, dass wir Gott in seiner Herrlichkeit schauen und erfahren werden, vor allem seine Frohe Botschaft, die er denen verheißen hat, die ihn in Christus lieben. Vor der Abreise ins Noviziat nach Farlete hatte ich in der ersten Märzwoche 1971 noch fünf Tage Heimaturlaub, bei dem ich überglücklich war, die geliebte Familie wieder zu sehen.

Vom Novizenmeister Bruder Daniel de la Fressange, einer großen Gestalt mit durchdringendem Blick und adliger Herkunft, erfuhren wir Postulanten, dass das Noviziat der Meditation, Kontemplation und geistlichen Betrachtung der Schriften von Charles de Foucauld und Père René Voillaume diente. In Farlete arbeiteten wir deshalb nur halbtags. Seit 1968 kirchlich anerkannt, breitete sich die Gemeinschaft über die ganze Welt aus. Sie ist eng mit den Kleinen Schwestern Jesu verbunden, die sich wenige Jahre später 1946 gründeten und heute ebenfalls international vertreten sind. Im Noviziat war der Kontakt zur Außenwelt auf ein Minimum beschränkt.

Ich war jedoch erst einmal nach der Ankunft im kleinen Dorf Farlete nahe der Großstadt Zaragossa vor allem von der Blütenpracht in karger wüstenähnlicher Landschaft überwältigt. Freute ich mich mit Dir, Papa, in jedem Frühling über jede neu entstandene Blüte in unserem Garten, so half mir hier die malerische Landschaft, mich von der Last des Alltags zu befreien. Im Gegensatz zu meinen Brüdern, die Steine von den Feldern der Bauern wegräumten, hatte ich die kleine Herde der Schweine des Bauern zu hüten. Der Beginn meines vegetarischen Lebens in einer sympathischen Verbundenheit zu meinen Schwestern und Brüdern, den Schweinen, wie Franz von Assisi sagen würde, rief in der Fraternität Befremden und Verwunderung hervor. Dennoch wurde ich mit fünf Postulanten Ende März 1971 feierlich während eines Gottesdienstes in das Noviziat aufgenommen. Zuvor verweilten wir zehn Tage zu Exerzitien in den Pyrenäen. Trotz aller Härte dachte ich wieder an Marlenes Gedichtzeile von Herrmann Hesse: »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und hilft zu leben.«

Nein, nicht die mir ans Herz gewachsenen Schweine, noch die faszinierend tiefschwarzen Kaulquappen, die ich bei zunehmender Sonne im Mai von einer ausgetrockneten Pfütze in die nächst größere trug, waren der Grund für Daniels Zweifel an meinem Verbleib in Farlete, sondern die vielen Briefe aus Karnap. Er verbot mir, selbst Briefe von Mitbrüdern aus Annemasse zu beantworten, auch nicht vom Bruder Noi aus Ho-Chi-Minh-Stadt, den ich in St. Rémy kennengelernt hatte und seitdem mit ihm in Brieffreundschaft verbunden war. Nach zwei Monaten stellte Bruder Daniel fest, dass ich mich nicht verändert, sondern wegen Eurer vielen Briefe, wie er sagte, »meine Heimatstadt Essen nach Farlete ins Noviziat geholt hätte«, was eben seiner Meinung nach nicht ging. Er sah meinen Verbleib im Noviziat als gefährdet an.

Damals war ich zu sehr von meinem Leben in der Gemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu überzeugt, als dass mich Daniels Aussagen beunruhigt hätten. Daher sagte ich ihm, der an einen Krankenorden für mich dachte, dass keine andere Ordensgemeinschaft für mich infrage käme. Dennoch blieb ich nach Daniels Mitteilung nur noch zwei Monate, bis zum Juli 1971, im Noviziat. Ich nahm unverändert gerne am religiösen Leben teil, ging meiner Arbeit als Schweinhirt nach und genoss die Exerzitien-Tage in den Grotten der Pyrenäen.

Um die spirituellen Anforderungen der Kleinen Brüder wissend, der Menschenkenntnis und Fürsorge kundig, verabschiedete mich Bruder Daniel Anfang Juli 1971 vorzeitig aus dem Noviziat, nicht ohne für meine Zukunft gesorgt zu haben.

Er fand, ich sollte erst mal Theologie studieren, nicht, wie die Eltern es wollten, in ihrer Nähe in Bochum, sondern in der von Essen weit entfernten Stadt Freiburg. Daniels unausgesprochene Empfehlung, die in der Ordenszeit begonnene Abnabelung von zu Hause über ein Universitätsstudium selbstbewusst und selbsttätig fortzusetzen, war für mich, Papa, zukunftsweisend. Noch in Spanien begann ich, Abschied von meinem Wunsch eines ideellen kontemplativen Lebens zu Gunsten eines caritativen Lebens »mitten in der Welt« zu nehmen, und letztlich ebneten diese tränenreichen Schritte mir den Weg zu meinem bevorstehenden Coming-out als schwuler Mann.

In Gedanken an Deine vielseitigen Ausbildungswege verabschiede ich mich für heute aus dem Kloster in der Adventszeit 2016, diesmal aus der Abtei St. Matthias in Trier

mit einem herzlichen Gruß.

Dein Sohn Gregor

Gregorsbriefe

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