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Brief über die Kindheit
ОглавлениеFrankfurt am Main, 13. August 2018
Lieber Papa,
heute feiere ich meinen 69. Geburtstag mit Burkhard, seiner Schwester Sabina, ihrem Mann Wolfgang und einigen Freunden aus der lesbisch-schwulen Gottesdienstgemeinschaft in unserem italienischen Lieblingsrestaurant »Chimino«. Bestimmt wirst Du Dich jetzt sofort fragen: »Lesbisch-schwule Gottesdienstgemeinschaft – was ist das denn?« Ihr offiziell vom Bischof Franz Kamphaus 1996 kirchenrechtlich verliehener amtlicher Titel hat den seltsam konstruierten Namen »Projekt: schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf« (PSK). Als damaliger Sprecher unserer Gemeinde hatte Burkhard einige Jahre später dem Gemeindeforum als Namensergänzung »Eine christliche Gemeinschaft von und für Lesben, Schwule und ihre Freundinnen und Freunde« vorgeschlagen. Die Teilnehmer*innen des damaligen Gemeindeforums begrüßten diese Namensergänzung einstimmig, sind wir doch seit der Gründung im Frühjahr 1991 eine Gottesdienstgemeinschaft mit weit offenen Kirchentüren. Über die kirchlichen Nachrichten sind nicht nur die Pfarreiangehörigen der Gemeinde Maria Hilf im Frankfurter Gallus-Viertel, sondern alle Gläubigen zur Gottesdienstfeier der Schwulen eingeladen. In dieser Kirche Maria Hilf habe ich am Sonntag, den 12. Juli 1992, Burkhard kennengelernt.
Ja, Papa, Du hörst richtig, heute bin ich tatsächlich schon ein Jahr älter als Du geworden. Grund genug, Dir mit einem Segensgruß zuzuprosten, wo immer Du auch bist. Sowohl an Geburtstagen als auch an Namenstagen, die zum Vorteil von uns Kindern in katholischen Familien zusätzlich gefeiert wurden, glänzte unsere Wohnung immer festlich. Natürlich habe ich mich auch über die originellen Geschenke gefreut, so zum Beispiel über einen wunderschön aussehenden braunen Kuschelbären, der mich fortan auf allen Reisen begleitete. Kein Wunder, dass mich Burkhard heute mit dem Kosenamen Bär ruft. Zum Kindergeburtstag gehörten natürlich auch die Nachbarskinder. Ich sehe noch Dein wohlwollendes Lächeln, wenn wir alle glücklich im Heu tobten. Ob Du, Papa, mit Deinen Eltern und Geschwistern auch jeweils so festlich die Geburtstage gefeiert hast, wie Mama diese mit uns im Hause gestaltet hat?
In der Erinnerung an Dein Lob für Mamas Kochkünste verstehe ich nun, dass ich auf den ersten Fotos pummelig bin. Einige Jahre älter geworden, spielte ich gerne auf dem Hof so versunken mit Sandburgen, dass ich gar nicht hören wollte, wenn Mama mich vom Treppenhausfenster aus zum Mittagessen rief. Alle familiären Geschehnisse, Essen, Schulaufgaben, Erdbeeren säubern und Besuche empfangen, spielten sich in unserer kleinen, aber gemütlichen Wohnküche ab. Ein gemeinsamer Essensbeginn mit Dir, Papa, war für Mama sehr wichtig. Hatte Mama doch die duftendsten Speisen auf den Küchentisch gebracht, wie Du lobend festgestellt hast: »Du bist die beste Köchin der Welt!« Mama faltete bereits die Hände zum Tischgebet. Es waren immer die gleichen Gebete. Zu Essensbeginn: Alle Augen warten auf Dich, o Herr; Du gibst uns Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine Hand und erfüllst alles, was lebt, mit Segen. Amen. Und nach dem Essen: Danket dem Herrn, denn er ist gütig und seine Barmherzigkeit wäret ewiglich. Amen. Diese gemeinsam gesprochenen Tischgebete sind noch tief in mir, und obgleich ich sie nach meinem Weggang von zu Hause nicht mehr gebetet habe, glaube ich dennoch, dass sie meine ethisch-religiöse Haltung zu allen Geschöpfen maßgeblich mitbestimmt haben.
Gut erinnere ich mich, dass Mama uns Kindern bei längerem Verlassen der Wohnung, und ging es nur in den Kindergarten, stets ein Kreuzzeichen mit Weihwasser auf die Stirn gezeichnet hat; neben der Wohnungstür war ein kleiner Weihwasserbehälter angebracht. Ob Mama Dich auch gesegnet hat, immer wenn Du zwischen 1947 und 1954 zur Polizei-Fortbildungsschulung nach Wuppertal, Hiltrup und Düsseldorf gefahren bist? Mama hat in ihrer stillen religiösen Art nicht nur uns, sondern auch Dich, der kirchenlos groß geworden war, behutsam an die Kirche herangeführt. Christliche Feiertage wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten waren zur Freude von uns Kindern zu Hause immer besonders festlich gestaltet.
Jeden Morgen wurde ich von der Kindergärtnerin, Tante Waltraud, auf der gegenüberliegenden Straßenseite unserer Wohnung abgeholt. Sie hatte schon eine muntere Schar anderer Kinder bei sich, und wir gingen die lange Karnaper Straße Richtung Brücke. Mir war der Weg durch die sonntäglichen Besuche bei Oma, deren Wohnung in der Nähe des Kindergartens lag, bestens bekannt. Die Leiterin Schwester Hanna, die dem Karnaper Kloster der Genossenschaft der Christenserinnen angehörte, erwartete uns dann frohgestimmt im Kindergarten. Dort gab es wunderbare Spiele sowie fantasievolle Bastelarbeiten. Gleich einen Kopf größer fühlten wir Kinder uns, Papa, als Schwester Hanna sagte: »Ihr seid die Freunde Jesu!«
Der Sonntag hatte für uns Kinder immer einen besonders feierlichen, oftmals aber auch langweiligen Ablauf. Festlich gekleidet saßen wir alle zum Sonntagsfrühstück in der Küche. Anschließend ging es zur Kirche und dann zum Mittagessen. Vor dem Kaffeetrinken mussten wir Kinder stets in die öde Christenlehre und somit noch eine weitere ewig lange Stunde in der Kirche verbringen. Anschließend ging es auf den unendlich weiten Weg zu Oma Schorberger – als Kleinkind zuerst im Fahrradkörbchen – und dann zu Fuß weiter nach Essen-Altenessen in Dein Elternhaus in die Rahmdörne. Gefreut habe ich mich über Omas Einladung, mich auf ihre Pantoffeln zu stellen. Sie nahm meine Hände und schaukelte mich hin und her. Ebenso freute ich mich dort über Tante Friedels Knöpfe aus ihrem Nähzimmer, mit denen ich auf der marmornen Fensterbank selbstvergessen spielte. Diese innere Emigration an der Fensterbank in der Rahmdörne war überlebensnotwendig für mich, da Du, Papa, mit Deinen Geschwistern an fast jedem Sonntagnachmittag heftigste Wortwechsel geführt hast. Darüber hinaus musste ich die aufdringliche, hämmernde Stimme des Fußballspielkommentators aus dem Radio hören. Du und Deine temperamentvollen Geschwister konntet noch mit Eurem Geschrei den Sprecher übertönen, selbst wenn ein Tor fiel oder der Ball daneben ging.
Noch ein Bild aus der Rahmdörne ist mir unvergesslich: wie Oma im Nähzimmer von Tante Friedel im Januar 1951 aufgebahrt ist. Sie war nur 65 Jahre alt geworden. Sie wirkte ganz friedlich, als würde sie schlafen. Als vierjähriger Junge hatte ich keine Angst, mich ab und zu aus dem Wohnzimmer zu schleichen, um zur würdevoll aussehenden Oma ins Totenzimmer zu gehen. Mit einem Handkuss nahm ich auf meine kindliche Weise Abschied von ihr.
Oma verdanken wir den Namen Schorberger. Sie glaubte, mit dem polnischen Familiennamen Skorupa hätten ihre Söhne keine gleichwertigen Berufschancen wie andere Deutsche. 1926 hatte Oma also vom preußischen Justizminister die Namensumbenennung von Skorupa in Schorberger erwirkt. Drei Namen standen ihr beim Bürgermeisteramt in Essen-Altenessen zur Auswahl: Scherbel, eine der Übersetzungen des polnischen Namens Skorupa; Rosenberger, der Oma zu jüdisch war, und Schorberger. Außer mir und Tante Friedel trägt laut Internetrecherche niemand mehr in Deutschland diesen Nachnamen. Dein Vater, Papa, mein Großvater nahm den neuen Namen Schorberger nicht an und ließ sich bis zu seinem Tod weiterhin als Skorupa ansprechen.
Dein jüngster Bruder Gregor hätte sich bestimmt für die Herkunft seines Nachnamens interessiert, zumal er, noch im Juni 1923 unter dem Namen Skorupa geboren, schon drei Jahre später den Namen Schorberger trug. Zu wenig weiß ich von ihm, außer dass er gerne Trompete und Geige spielte. Du hast ihn in seinem musikalischen Talent finanziell so gefördert, dass Onkel Gregor zur Folkwangschule gehen konnte. Später ist er mit einer Militärkapelle in Südfrankreich aufgetreten. Du und alle Deine Geschwister waren seiner Freundlichkeit, seines guten Aussehens und seiner Talente als Musiker wegen stolz auf ihn.
Du, Papa, bist nach sieben Jahren Zechenarbeit unter Tage auf dem Schacht Fritz Heinrich, Essen-Altenessen, zur Polizei gegangen. Seit Deinem Diensteintritt im Oktober 1929 hast Du es vom Polizeiwachtmeister über den Truppenoberwachtmeister 1942 bis zum Polizeihauptwachtmeister geschafft. 1942 war auch das Jahr, in dem Christiane geboren wurde. Onkel Gregor sagte noch angesichts Christianes bevorstehender Geburt: »Gebt dem Kind einen schönen Namen!«, bevor er – wie Du uns erzählt hast – 1943 als Soldat und Musiker in den Krieg nach Südfrankreich ging. Noch im gleichen Jahr war sein Lebensweg mit nur 20 Jahren jäh beendet.
Monatlich oder alle zwei Monate ging es mit dem Zug vom verwunschenen kleinen Karnaper Bahnhof auf die große Reise nach Kamp-Lintfort in die Heimat Mamas. Meistens fuhren wir zu viert, Mama, Christiane, Marlene und ich, für einige Tage an den Niederrhein. Du, Papa, bliebst bei unseren Tieren.
Als geduldete Verwandtschaft aus Essen-Karnap waren wir in den ersten Jahren bei Mamas jüngster, stets nervöser, ständig den Bohnerwachsbesen schwingenden Schwester Klärchen untergebracht. Sie wohnte mit ihrem Vater in einem Feuerwehrhaus. Wenn ich zu Opas Wohnung hinaufging, blickte mich ein furchterregender, ausgestopfter Habicht mit seinen funkelnden Augen an. Ob ich wollte oder nicht, ich musste, um zu Opas Wohnung zu gelangen, an diesem toten Tier vorbei. Bestimmt liegt es an diesem Erlebnis, dass ich mir bis heute keine toten Tiere länger ansehen kann. Opa Ruhl wirkte in seiner großen Gestalt mit seinem Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer unnahbar auf mich, als hätte er keine Gefühle. Nur Mamas Schwester Käthe freute sich sichtlich, wenn Mama mit uns drei Kindern zu Besuch kam. Sie spielte mit uns, las uns schöne Märchen vor und überraschte uns mit kleinen lustigen Stücken, die sie aufführte. Tante Käthe wohnte in Ossenberg am alten Rhein-Arm, einer Gegend mit verwunschenen Wildpflanzen, riesigen Ulmen und Pappeln, großen Kerzen gleich, die zum Himmel loderten, und wuchtigen Trauerweiden, die sich tief vor Teichen und Seen verbeugten. Dorthin ging sie mit uns spazieren und erzählte uns viele spannende Geschichten von dieser etwas unheimlich wirkenden Urwaldlandschaft.
Da ich mit sechs Jahren etwas größer geworden war, brauchte ich nicht mehr mit Mama und meinen Schwestern in Tante Klärchens Haus zu bleiben. Einige Straßen weiter wohnte Tante Christine, eine ältere, ihren drei Kindern gegenüber sehr strenge Schwester Mamas, die zwei Söhne und eine Tochter hatte. Schnell fühlte ich mich mit diesen ein wenig älteren Cousins wohl. Johannes und Theo nahmen mich auf ihre Entdeckungsreisen in Hinterhöfe und überwucherte Wildgärten mit, wo sie geheime Buden hatten. Ich genoss beim Raufen besonders im Sommer ihre schwitzenden Körper. Auch zum Fußballplatz ging ich aus Liebe zu ihnen mit, obgleich schon damals Fußball für mich stinklangweilig war. Die Nächte im Bett zwischen Johannes und Theo hatten etwas prickelnd Erotisches an sich. Nach Kissenschlachten schmiegte ich mich unter der Bettdecke besonders eng an Theos Körper, da mir sein Po gefiel. Heute bin ich dankbar für diese erotischen Erlebnisse mit meinen Cousins, zeigten sie mir doch, Papa, schon als Kind, dass ich mich nicht nur phasenhaft, sondern manifest zu Männern sexuell hingezogen fühlte.
So unterschiedlich die beiden Orte Kamp-Lintfort und Essen-Altenessen auf mich wirkten, so unterschiedlich erlebte ich auch die beiden Herkunftsfamilien: die Schorbergers extrovertiert und selbstbewusst, die Ruhls introvertiert und schamhaft. Einig waren sich beide Familien in der Tabuisierung von Tod, Trauer, Sexualität und Familienkonflikten. Kinder galten als notwendiges Anhängsel der Eltern und gehörten bei geselligen Zusammenkünften an den Katzentisch, da sie nichts von den Themen der Erwachsenen mitbekommen sollten.
Zu Hause in Karnap erlebte ich Dich, Papa, im Garten oder auf dem sommerlichen Hof in kurzer Hose, und mit oder ohne Hemd als körperlich unbefangen. Für Dich war es selbstverständlich, mich nachts, wenn ich mit meinem Oberbett vor Eurem Ehebett im Schlafzimmer stand, in Dein Bett kommen zu lassen – im Gegensatz zu Mama, die mich abwies. Bei Dir angekommen, nahmst du mich zärtlich in den Arm, und wenn ich ängstlich war, hast Du mich zur Beruhigung gestreichelt. Überhaupt, wenn Du gute Laune hattest, konntest Du uns drei Kinder zu unserem Vergnügen lange streicheln und kitzeln, was ich immer genossen habe. Dein unkonventionelles Verhalten hat erheblich dazu beigetragen, ein unverkrampftes Körpergefühl zu mir selbst zu entwickeln.
Dennoch sind Nähe und Distanz einschließlich der vielen Schattierungen zwischen diesen beiden Polen für uns beide zeitlebens ein großes Thema geblieben. Genoss ich als Kleinkind, bei Dir zu schlafen, am Tage gekitzelt oder, wenn es heiß war, im Garten mit dem Wasserschlauch abgespritzt zu werden, wehrte ich Dich dennoch öfters und sehr zu Deinem Leidwesen ab. Vor allem dann, wenn Du mich spontan umarmen, liebkosen oder auf den Schoß nehmen wolltest, wie es viele Fotos aus der Kindheit zeigen. Vielleicht hatte ich instinktiv Angst von Dir aus Liebe zu mir einverleibt, aufgefressen zu werden? Oder lag es daran, dass ich anfänglich ein dickes Kind war, bis ich durch viel Bewegung, Rennen, Ballspielen und Turnen, mein Übergewicht verlor?
Du erfreutest Dich an unserem Schulsport, gingst selbst mit uns schwimmen, fochtst später mit uns regelrechte Tischtenniswettkämpfe aus, bei denen Du am meisten schwitztest, oder nahmst uns zum Sammeln von Huflattich am unheimlichen Emscherdamm mit. Aber trotz all dieser sportlichen Aktivitäten litt ich unter vielen Krankheiten. Die Mandeln entnahmen sie mir im Krankenhaus der Stadt Gladbeck, wo ich in einem hellen schönen Krankenzimmer lag. Gern erinnere ich mich an sehnsuchtsvoll erwartete Besucher, die Geschenke mitbrachten, wie etwa die Schokolade von Stollwerck, deren Verpackung zweigeteilt war: Oben waren die Köpfe und unten die Unterkörper. Beim Verschieben der Teile machte es mir Spaß, plötzlich Männer in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidern zu entdecken. Letztlich wollte ich selbst die verschiedenen Rollen dieser Schokoladen-Menschen ausprobieren. Ja, Du, Papa, hast mit mir als Kleinkind – allein der vielen Kinderkrankheiten wegen – einiges ertragen müssen. Hinzu kam noch mein phlegmatischer Charakter. Wegen meiner offenen Schnürsenkel, meiner unordentlich liegengelassenen Spielsachen und Zerstreutheit hast Du ständig mit mir gehadert. Phlegmatisch bin ich bis heute geblieben, sodass Burkhard mir in unserer gemeinsamen Wohnung nachgeht, um die von mir offen gelassenen Schubladen wieder zu schließen.
Noch vor der Einschulung unternahm Mama mit uns die ersten großen Reisen zur rundlichen, Kinder liebenden Tante Lieschen und dem sympathischen, Schnauzer tragenden Onkel Wilhelm nach Lauterbach in Hessen. Gleich zwei Sommerferien, 1953 und 1954, verbrachten wir Kinder mit Mama in der reinen unverfälschten Natur des Vogelsbergs. Im hübschen Fachwerkstädtchen Lauterbach genossen wir Kinder die märchenhaften Entdeckungen in einer ganz anderen Welt. Weite Wiesen und Fluren, haushohe Tannen und Laubbäume, die Geschichten zu erzählen wussten.
Dort gab es einsame Aussichtstürme im Wald, die Mama mit Marlene, Christiane und mir auf dem Arm erklomm. Von oben konnten wir das sagenhafte Panorama der Vogelsberglandschaft genießen. Allein ich hatte da oben, obwohl auf Mamas Arm, solche Angst, wie es ein Foto zeigt, dass ich bei der zweiten Turmbesteigung protestierend auf der untersten Treppe sitzen blieb. Auf dem Waldboden fühlte ich mich freier und erfreute mich am Anblick der Rehe und Hirsche, die wir zu Hause nur vom Gelsenkirchener Zoo her kannten. Im Wald fanden wir außerdem Steinpilze, Schirmpilze und an den Wiesenrändern Pfifferlinge. Tante Lieschen nannte uns ihre Namen und bereitete diese zu einem schmackhaften Mittagessen. Die Spätsommer- und Herbstzeit ist auch heute ob des reichlichen Pilzangebots in der Frankfurter Kleinmarkthalle meine Lieblingsjahreszeit. Ein besonderer Genuss waren für mich als Kind Tante Lieschens Pilzmahlzeiten, nicht aber ihr Zwiebelkuchen, den wir Kinder mit Streuselkuchen verwechselten und überhaupt nicht mochten. Fast täglich schriebst Du, Papa, uns anschauliche Briefe, was sich alles zu Hause, im Stall bei den Tieren oder in Haus- wie Schrebergarten ereignet hatte. Einerseits konntest Du Dich selbst sehr gut versorgen, warst aber auch glücklich, wenn meine ledig gebliebene Tante, Deine ältere Schwester, für einige Tage kam und Dich verpflegte, wie Du uns schriebst. Meine rundliche, stets nach Luft – besonders beim Treppensteigen wegen ihres Asthmas – schnappende Tante Guste war und blieb meine Lieblingstante. Sie versorgte Dich, Papa, manchmal, wenn Mama mit uns allen in Urlaub war. Mit uns Kindern reiste sie in der Phantasie durch die ganze Welt, weil sie wusste, dass sie am nächsten Sonntag im Lotto gewinnen würde. Und tatsächlich, am 8. Mai 1964 hatte Tante Guste »5 Richtige im Lotto«. Statt das Geld für sich zu behalten, wie Mama es wünschte, beschenkte sie ihre Lieben. Wir bekamen einen großen orientalischen Teppich für das Wohnzimmer, den wir uns sonst nie hätten leisten können. Ich freute mich jedes Mal, wenn sie zu Besuch von Altenessen nach Karnap kam, um mit Mama und mir zu unserem Vergnügen Rommé zu spielen. Begeistert erzählten wir Dir dann nach unserer Rückkehr anhand der Fotos von unseren Erlebnissen im gastfreundlichen Haus in Lauterbach.
Fremde Menschen, Landschaften und Städte durfte ich mir darüber hinaus dadurch vertraut machen, dass Ihr mich in den ersten Schuljahren der Gesundheit wegen allein in Kindererholungsstätten nach Oberbayern (Mittenwald), Oldenburg (Vechta), ins Sauerland (Meschede) und einmal mit Marlene an die Ostsee (Pelzerhaken) schicktet. Trotz heftigen Heimwehs an diesen Orten überwog in mir die Freude am Reisen. Dankbar bin ich daher Mama, die mit uns Kindern in den 1950er und 1960er Jahren viele solcher Reisen unternahm.
In Erinnerung an Deine vielen ermutigenden Briefe an mich aus der Ferne verabschiede ich mich für heute, an meinem 69. Geburtstag, an dem Dir und Mama ja auch ein Glückwunsch gebührt, wie es mein Kölner Freund Stefan Bey stets betont.
Liebe Grüße,
Gregor