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1 Die Geschichtenerzählerin

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Leise öffnete Kaya das große Buntglasfenster und trat hinaus auf ihren Balkon. Auf der Straße unter ihr wimmelte es nur so von Menschen. Ihre Brustplatte, die Fußmanschetten und Handschuhe waren aufgeladen. Sie konnte es zur Aufführung und wieder zurück schaffen, ohne dass jemand merkte, dass sie je weg gewesen war. Keine große Sache. Oder?

Kayas Vater hörte sich im Wohnzimmer irgendeine Debatte über die Zukunft des Lebensmittelanbaus an. Es ging darum, wie die Stadt ihre wachsende Bevölkerung versorgen sollte. Wichtiges Thema? Klar. Langweilig? Aber so was von! Nicht mal ihr Dad schien den Beitrag sonderlich faszinierend zu finden. Sein Atem ging schwer und langsam, jeden Moment würde er anfangen zu schnarchen.

Kaya trat an den Balkonrand und sah nach links und rechts, dann nach oben und unten. In ihrer Wand lebte noch ein Dutzend weiterer Familien. Jeder hier konnte sie beobachten und ihrem Dad verraten, dass sie sich wieder mal rausgeschlichen hatte.

Trotzdem: Das hier war ihre Chance.

Sie stieß sich ab.

Der freie Fall war der leichte Teil der Übung. Wie ein Pfeil stürzte sie sich in die Tiefe und an den Fenstern der Wohnungen weiter unten in der Wand vorbei.

Auf der Straße drängten sich die Leute wie die Ölsardinen. Es war so eng, dass Kaya nicht wusste, wo sie landen sollte. Sie schaltete den Anti-Schwerkraft-Antrieb ihrer Ausrüstung an und kam ein paar Armeslängen über der Menschenmenge schwebend zum Halt. Plötzlich stieg eine Frau mit dickem grauem Haar in die Luft empor und flog über die Köpfe der Passanten hinweg zu einem Balkon gegenüber von Kayas Wand. Die Lücke, die die Frau im Gedränge hinterlassen hatte, schloss sich bereits. Hastig flog Kaya tiefer und sicherte sich den Platz. Dann duckte sie sich, verschmolz mit der Menge und ließ sich von ihr mitziehen.

»Verwöhnte Göre«, brummte ein Mann hinter ihr. »So jung und hat schon ihre eigene Ausrüstung.«

Kaya hastete davon und schlängelte sich zwischen den Leuten hindurch. Dabei zog sie einen dünnen Mantel aus ihrem Rucksack und schlang ihn sich um die Schultern, um ihr Anti-Schwerkraft-Set zu verstecken. Der Typ hatte kein Recht, sie blöd anzumachen. Klar, sie besaß eine Ausrüstung. Aber das hieß noch lange nicht, dass ihr Leben perfekt war.

Ihr Stadtviertel allerdings war wunderschön, selbst hier unten auf dem Boden. Die glatt polierten Steinwände waren mit Kristallen besetzt, nicht mit rauen, groben Gesteinsbrocken wie in anderen Gegenden. Die Wohnungsfenster waren in grün und blau funkelndes Glas eingefasst. Und es stank nicht. Auf dem Schulweg musste Kaya durch eine Gegend, die nach fauligem Fisch roch. Hier dagegen war die Luft sauber und frisch.

In der Stadt war es heute wärmer als üblich, und Kaya begann zu schwitzen. Sie tippte auf ihren Gürtel, woraufhin sich ihre Kleidung lockerte, was bei der Hitze angenehmer war. Neben einem Belüftungsschacht auf der anderen Seite der Plaza wartete, wie abgemacht, Rian auf sie. Um den Schacht herum waren kaum Leute. Kein Wunder, alle mieden die heiße, feuchte Luft, die dort aufstieg.

Rian schüttelte den Kopf, als er das Set unter Kayas Mantel entdeckte. »Echt jetzt? Du bist schon wieder gesprungen?«

»Ich konnte mich ja schlecht zur Wohnungstür rausschleichen.«

»Irgendwann wird dir jemand die Sachen einfach vom Leib reißen.«

»Ich hab deinen Kopfhörertrick benutzt«, sagte sie, um vom Thema abzulenken. Rian hatte sich eine Taktik ausgedacht, mit der er seinen Eltern vorgaukelte, dass er in seinem Zimmer saß, obwohl er sich draußen herumtrieb: Er klebte ein bisschen Knete an die Tür, drückte einen alten Kopfhörer und einen Minilautsprecher hinein und synchronisierte beides mit seinen In-Ear-Kopfhörern. So bekam er mit, wenn jemand klopfte oder durch die Tür mit ihm sprach, und konnte antworten. Solange er sich nicht zu weit von der Wohnung entfernte, gab der Lautsprecher seine Stimme klar und deutlich wieder. Für seine Mom und seinen Dad klang es so, als sei er zu Hause. Er gab ständig damit an. Aber bis heute hatte Kaya den Trick nie selbst ausprobiert.

Hoffentlich funktionierte er wirklich.

Hastig legte sie ihr Anti-Schwerkraft-Set ab und stopfte es zusammen mit dem Mantel in ihren Rucksack.

»Fertig?«, fragte Rian. »Dann los.«

Ihr Freund kannte die Seitenstraßen und Tunnel von Atlantica besser als irgendjemand sonst. Die meisten Leute folgten einfach dem Menschenstrom entlang der Hauptstraßen oder krochen auf Booten und Fähren langsam die Wasserstraßen entlang. Rian dagegen kannte jede geheime Abkürzung. Und so führte er Kaya jetzt durch enge, verwinkelte Gassen und düstere Treppen hinab in das Gängesystem unter der Stadt. Man musste vorsichtig sein, wenn man sich für diesen Weg entschied. Zur falschen Tageszeit konnte man von einer Überflutung erfasst und zusammen mit dem Müll nach draußen gespült werden.

»Komm schon, beeil dich!«, rief er ihr über die Schulter zu.

Die Luft roch nach Metall, der Steinboden war feucht und von einer dicken Schmutzschicht überzogen. Rian rannte, was ziemlich riskant war. Ein falscher Schritt, und man rutschte aus und schlug sich einen Ellenbogen oder das Knie auf. »Mach langsamer«, rief sie ihm zu.

»Vergiss es!«

Immer wieder bogen sie links und rechts ab, und als sie schließlich das alte Theater erreichten, war Kaya schweißgebadet. Ihre Kleidung zu lockern, hatte nur ein bisschen geholfen, selbst die neuste Technik hatte ihre Grenzen. Rian stemmte die Fäuste in die Seiten und musterte das Gebäude. Das Schild über dem Eingang hing schief, und es fehlten mehrere Buchstaben. Auf den Seiten der groben Felswand wucherte grüner Belag. Hoch über dem Eingang befanden sich zwei große Fenster, die so aussahen, als seien sie seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. »Das ist es?«, fragte Kaya.

Nach kurzem Schweigen erwiderte Rian: »Schätze schon.«

Wieder tippte Kaya auf ihren Gürtel, dann schüttelte sie Arme und Beine, und keine Sekunde später war ihre schweißnasse Kleidung trocken.

Sie hatte damit gerechnet, dass sich vor dem Theater ganze Menschenhorden drängen würden. Oder zumindest ein paar Leute. Schließlich ging es hier um Elida, die ihre Geschichten früher vor Tausenden erzählt hatte. Aber dann hatte die Regierung ihre Auftritte verboten, weil ihre Geschichten angeblich zu revolutionär waren. Zu gefährlich. Natürlich beharrte Elida darauf, dass es doch nur Geschichten seien. Aber waren sie das?

Noch vor wenigen Jahren hatten die Leute Monate im Voraus Karten für die Auftritte der Geschichtenerzählerin gekauft. Jetzt waren sie kostenlos und fanden im Geheimen statt. Sie wurden nur wenige Stunden vor Beginn angekündigt und häufig direkt wieder abgesagt, wenn die Regierung Wind davon bekam. Rian hatte Kaya erst am Morgen Bescheid gegeben, dass sie heute in diesem Theater auftreten würde. Jetzt sah es so aus, als sei die Aufführung bereits abgeblasen worden.

»Bist du wirklich sicher, dass wir richtig sind?«, fragte Kaya noch einmal.

Rian schwieg, er schien selbst nicht ganz sicher zu sein. Aber dann hellte sich seine Miene auf. Er wies auf ein paar Leute, kaum mehr als ein Dutzend, die hinter Kaya aus einer dunklen Gasse kamen und an den beiden vorbeihasteten. Die letzte Gestalt, eine Frau, drehte sich noch einmal zu Rian und Kaya um, ehe sie das Theater betrat. »Bestimmt sind kaum mehr Plätze frei«, sagte sie. »Worauf wartet ihr?«

Das Theater befand sich in einer großen Felshöhle mit hoher Decke und langen Reihen aus glatt schimmernden Steinbänken. Im Parkett saßen mindestens hundert Leute, auf dem balkonförmigen Rang darüber drängten sich noch ein paar Dutzend mehr.

»Da unten sind noch zwei Plätze.« Rian deutete auf die dritte Reihe.

Als sie sich setzten, leuchteten die Lichter auf der Bühne auf. Der übrige Saal wurde dunkel.

Das Publikum applaudierte, als Elida langsam in die Mitte der Bühne trat und sich auf einen kleinen Hocker setzte. Ihr Haar war lang, lockig und weiß, und die Luft um sie herum schien zu leuchten. Fast als würde eine geheimnisvolle Energie von der Geschichtenerzählerin ausgehen. Niemand stellte sie vor. Aber das war auch nicht nötig. Kaya hatte von ihrer Großmutter erfahren, dass ihre Mom ihr, als sie noch klein war, vor dem Einschlafen immer Geschichten von Elida erzählt hatte. Angeblich hatten die Geschichten ihr beim Einschlafen helfen sollen. Aber tatsächlich, sagte ihre Großmutter, hatte Kaya sie so aufregend gefunden, dass sie eine unbändige Neugierde und Abenteuerlust in ihr geweckt hatten. Am Ende jeder Geschichte hüpfte sie auf ihrem Bett herum und stellte eine Frage nach der anderen. Ihre Mutter hatte offenbar nur allzu gern geantwortet, und am Ende hatte ihr Vater kommen und Kaya beruhigen müssen, damit sie einschlafen konnte.

Manchmal hatte sich Kaya gefragt, ob die Geschichten vielleicht nie dazu gedacht gewesen waren, ihr beim Einschlafen zu helfen. Sondern dazu, sie zum Träumen zu bringen.

Doch all das war Jahre her. Inzwischen konnte sie sich kaum mehr daran erinnern. Sie wusste nicht einmal mehr richtig, wie ihre Mutter ausgesehen hatte. Ein Gefühl der Leere breitete sich in ihr aus. Sie atmete tief durch.

»Was ist los?«, fragte Rian.

Zum Glück blieb ihr keine Zeit mehr für eine Antwort. Denn Elida begann schon mit ihren mal abenteuerlichen, mal traurigen oder lustigen Geschichten. Schon bald verschwanden die Bühne, das Theater, das Publikum. Kaya tauchte ein in die Welt der Geschichten, reiste an ferne Orte und in wundersame Reiche. Nach über einer Stunde war Elida endlich bei Kayas Lieblingsgeschichte angelangt. Sie war alt und handelte von einem Jungen, der die Grenzen von Atlantis weit hinter sich ließ und bis zur Meeresoberfläche reiste. Als Kaya noch klein war, hatte sie sich die Geschichte immer wieder von ihrer Mutter erzählen lassen. Für sie war es die spannendste von allen gewesen. Es gab verschiedene Fassungen, aber im Grunde ähnelten sie sich alle. Wenn der Held zum ersten Mal die Wasseroberfläche durchbrach, schlug Kayas Herz jedes Mal ein bisschen schneller. Man sagte, die Luft dort oben sei giftig und das Festland trostlos und ausgestorben. Doch an der angeblich so gefährlichen Luft sah der Junge seltsame fliegende Kreaturen, auf dem Wasser glitzernde, schwimmende Paläste aus Glas voller leuchtend grüner Pflanzen und Menschen – die Sonnenmenschen, wie Elida sie nannte. Die Geschichtenerzählerin ließ die Welt dort oben ganz echt wirken, und gleichzeitig voller Magie. An der Geschichte war fast alles perfekt. Außer dass der Held ein Junge und kein Mädchen war.

Als Elida diese letzte Geschichte über die Sonnenmenschen beendet hatte, brach im Publikum donnernder Applaus aus. Die Geschichtenerzählerin stand langsam auf, verbeugte sich und sagte: »In meinem Alter gibt es keine Zugaben mehr. Ich danke euch allen, und vergesst nicht …«

In diesem Moment hastete ein Mann auf die Bühne und flüsterte ihr aufgeregt etwas ins Ohr. Elida holte tief Luft und schüttelte den Kopf. Er redete auf sie ein, doch sie hob abwehrend eine Hand und setzte sich wieder auf den kleinen Schemel. Dann verkündete sie die Neuigkeiten.

»Mein Mitstreiter hat mir soeben mitgeteilt, dass sich schon bald unwillkommene Besucher zu uns gesellen werden«, sagte sie. »Ich empfehle euch allen, Ruhe zu bewahren und das Theater langsam und geordnet zu verlassen.«

Im Publikum brach Panik aus. Die Zuhörer drängelten sich zwischen den Sitzreihen zu den Ausgängen vor. Ein Mann lief einfach über die Sitzbänke und trat Kaya aufs Bein, als er über sie hinwegstieg. Rian sprang auf und zerrte an Kayas Ärmel. »Komm, wir müssen weg hier!«

Aber sie konnte nicht gehen. Noch nicht. Die alte Geschichtenerzählerin wirkte so ruhig und friedlich. Sie hatte den Mann von eben und ihre übrigen Mitstreiter angewiesen, zu fliehen. Jetzt saß sie allein auf der Bühne. Ihr Blick kreuzte sich mit Kayas, während Rian weiter versuchte, sie zum Aufbruch zu bewegen. »Warum wollen sie nicht, dass du deine Geschichten erzählst?«, rief Kaya Elida zu.

Die alte Frau hielt sich die Hand ans Ohr. »Was hast du gesagt, junge Dame?«

Rian ließ Kayas Ärmel los.

Elida redete mit ihr! Kaya war so aufgeregt, dass sie fast kein Wort herausgebracht hätte. Aber nur fast. »Was ist so gefährlich an deinen Geschichten?«

Jetzt lächelte Elida. »Es steckt ein Funken Wahrheit in ihnen, Herzchen. Und die Wahrheit kann gefährlich sein.« Sie deutete auf die Tür. »Schon bald werden Regierungsmitarbeiter dieses Theater stürmen und jeden festnehmen, den sie erwischen. Einige der Gefangenen werden eines Tages wieder freigelassen. Aber keiner dieser wenigen Glücklichen wird darüber reden, was ihm widerfahren ist, während ihn die Agenten in ihrer Gewalt hatten. Und auch über meine Geschichten werden sie nie wieder sprechen.«

»Und was passiert mit denen, die nicht wieder freigelassen werden?«

»Die bleiben für immer verschwunden.«

»Komm jetzt, bitte«, flehte Rian.

Inzwischen befanden sich nur noch Kaya, Rian und die Geschichtenerzählerin im Theater.

Wieder sah Elida Kaya unverwandt an. »Ich werde nicht davonlaufen«, sagte sie. »Aber ihr beiden, ihr müsst gehen.«

Draußen war das schrille Kreischen von Sirenen zu hören.

»Sie sind schon da«, sagte Rian. »Jetzt ist es zu spät.«

Der Hauptausgang kam damit nicht mehr infrage. Dort würden sie den Agenten direkt in die Arme laufen. Aber was dann? Elida wies nach oben zum Rang. Wenn sie es zu seinem Balkon schafften, würden sie dort vielleicht einen zweiten Ausgang finden. Hastig zerrte Kaya ihre Ausrüstung aus dem Rucksack.

»Was machst du?«, fragte Rian.

»Uns hier rausholen.«

Jetzt wich das Sirenenheulen vor dem Gebäude lautem Geschrei.

Kaya blieb keine Zeit mehr, die gesamte Ausrüstung anzulegen. Also schnallte sie sich nur die Brustplatte um. »Halt dich an meinem Rücken fest.«

»Was?«, fragte Rian. »Wieso bekomme ich nicht die Ausrüstung, und du hältst dich an mir fest?«

»Jetzt spinn nicht rum«, knurrte Kaya. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Sie packte Rians Hand und gab einen Pfiff von sich, mit dem sie den Antrieb aktivierte. »Los, halt dich fest«, sagte sie und drückte sich vom Boden ab.

Der Antrieb kämpfte mit dem doppelten Gewicht, und Rian riss Kaya fast den Arm aus dem Schultergelenk. Sie schafften es gerade mal einen Meter weit über den Boden.

»Lass mich fallen!«, rief Rian. »Lass mich los und hau ab hier!«

Das war zwar total heldenhaft von ihm, aber auch ganz schön melodramatisch. Kaya pfiff noch einmal und hielt diesmal den letzten Ton, um den Antrieb auf volle Kraft hochzufahren. Sofort ließen sie die Sitzreihen weit unter sich. Kaya legte den Kopf in den Nacken. Die Saaldecke kam immer näher. Rian holte mit den Beinen Schwung, ließ Kaya los und knallte auf eine der Sitzbänke auf dem Balkon. »Autsch!«, fluchte er.

Ohne ihn stieg Kaya direkt schneller auf. Ehe sie mit dem Kopf gegen die Decke prallte, riss sie die Hände hoch und stieß sich von dem rauen Felsgestein ab. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihre Handgelenke. Mit einem erneuten Pfiff regelte sie den Antrieb wieder herunter, schaffte es irgendwie, ein paar Schritte weit von Rian entfernt zwischen den Bänken zu landen, und ging sofort in Deckung.

»Glück gehabt«, sagte Rian.

»Das war kein Glück, das war Können.«

Er verstummte, dann wies er auf das Ende des Gangs. »Schau mal, Stufen.«

Tatsächlich. Die Treppe zu nehmen, wäre leichter gewesen. Und schneller.

Da hörte sie die Agenten auch schon mit schweren Schritten in den Theatersaal poltern. Kaya und Rian hielten sich dicht über dem Boden und krochen näher an die Balkonbrüstung. Dort hoben sie die Köpfe, ganz langsam und nur so weit, dass sie über den Rand spähen konnten. Die ersten Agenten stürmten bereits die Bühne. In dem inzwischen leeren Theater waren sie deutlich zu hören.

Rian zog Kaya nach unten. »Vorsicht«, flüsterte er. »Oder willst du, dass sie dich erwischen?«

Sie schüttelte den Kopf. Rian hatte recht. Er deutete auf seine Ohren. Auch wenn sie kaum etwas sahen, konnten sie immer noch zuhören.

Unten sagte eine Frau mit krächzender Stimme zu Elida: »Du stehst unter Arrest.«

»Weswegen?«, fragte Elida.

»Als ob du das nicht wüsstest.«

»Ist es wegen der Geschichte über den Jungen, der an die Oberfläche reist und dort nicht vergiftete Luft und unfruchtbaren Boden vorfindet, sondern eine technologisch hoch entwickelte Welt voller Leben? Hätte ich besser nicht von den Sonnenmenschen erzählen sollen?«

»Still jetzt, das reicht.«

»Aber das ist doch bloß eine Geschichte, Liebes«, sagte Elida. »Oder … etwa nicht?« Ihr Tonfall änderte sich. Jetzt klang sie, als würde sie sich über die Agentin lustig machen. »Ist das euer Problem? Dass die Geschichte womöglich wahr sein könnte? Ich nehme an, für euch Vernichter wäre das ein guter Grund, mich zum Schweigen zu bringen.«

Kaya und Rian starrten einander mit großen Augen an. Vernichter? Jedes Kind kannte die Geschichten über diese Agenten. Sie gehörten nicht direkt zur Polizei, sondern arbeiteten im Geheimen. Schnappten sich Kriminelle und Revolutionäre und ließen sie verschwinden. Manche sagten, sie würden ihre Gegner in der Tiefsee versenken. Andere behaupteten, sie würden sie in ein geheimes Gefängnis stecken. Kaya und Rian hatten schon oft darüber gestritten, ob es die Vernichter wirklich gab oder ob sie nur eine Legende waren.

Hier und jetzt waren die Vernichter erschreckend wirklich.

»Steh auf, Elida, oder ich …«

»Ja, so muss es sein! Die Geschichte ist wahr! Ihr bringt mich zum Schweigen, weil ich die Wahrheit sage, stimmt’s?«

Elidas Worte hingen schwer in der Luft. Ihr Tonfall war trotzig. Kraftvoll. Als wollte sie sichergehen, dass Kaya und Rian jedes Wort verstanden.

Kaya hörte ein Klicken, dann ein tiefes, lautes Summen.

Den dumpfen Schlag, mit dem jemand zu Boden fiel.

Rian musste sie fast mit Gewalt nach unten drücken, um zu verhindern, dass sie über den Rand der Brüstung sah.

»Hebt sie vorsichtig hoch und bringt sie raus in den Wagen«, befahl die Frau. »Ich will, dass sie außer Sichtweite ist, wenn sie aufwacht.«

Kaya konnte nicht einfach dasitzen und tatenlos zuschauen. Sie versuchte aufzuspringen. Rian zog sie nach unten.

»Was war das?«, rief die Frau.

»Hier ist noch jemand«, rief einer der Agenten.

»Habt ihr den Balkon überprüft?«, fragte die Frau.

»Also, ähm, wir …«

Kayas Herz hämmerte. Das war nicht gut. Gar nicht gut.

»Ihr habt allen Ernstes den riesigen Balkon über uns übersehen?«

»Wir haben … also …«

»Rauf da. Sofort! Ehe ich euch auch verschwinden lasse!«, brüllte die Frau.

Sekunden später polterten die schweren Schritte der Agenten die Treppe hinauf. Kaya und Rian rannten zu den beiden großen Fenstern über dem Haupteingang. Eines war so verrostet, dass es sich nicht mehr öffnen ließ. Dem anderen verpasste Kaya einen kräftigen Tritt, und es schwang auf. Sie pfiff, um ihren Antrieb hochzuregeln. »Diesmal hast du hoffentlich keine Einwände?«, sagte sie zu Rian.

»Nicht die Spur.«

Er klammerte sich an ihren Rücken, während die Agenten hinter ihnen durch die Sitzreihen stürmten.

Kaya stieß sich vom Fensterbrett ab, und die beiden schwebten davon, höher und höher über die Straße. Vor dem Theater wurden einige Konzertbesucher in einen fensterlosen schwarzen Transporter gepfercht. Kaya pfiff erneut, bis der Antrieb auf Vollgas lief. Schweigend überflogen sie zwei Stadtviertel, ehe sie auf der Straße landeten.

Ein Weilchen standen sie einfach nur stumm und heftig atmend da.

»Glaubst du echt, dass das Vernichter waren?«, fragte Kaya dann.

»Definitiv«, antwortete Rian.

»Und was Elida gesagt hat … über die Welt da oben und die Sonnenmenschen … was, wenn das wirklich mehr ist als nur eine Geschichte? Was, wenn es da oben eine ganze Welt gibt?«

»Kaya …«

»Ich sollte gehen.«

»Ich auch. Meine Eltern fragen sich bestimmt sch…«

»Nein, so meine ich das nicht«, unterbrach Kaya ihn und deutete nach oben. »Ich sollte an die Oberfläche gehen.«

»Super, mach das. Ich reise derweil zum Erdkern.«

»Ich mein das ernst«, sagte Kaya. »Ist mir egal, was die Leute sagen. Es muss Leben an der Oberfläche geben. Vielleicht sogar Menschen. Wir werden belogen. Wir alle. Es gibt mehr auf der Welt als nur Atlantis, und ich werde die Wahrheit herausfinden.«


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