Читать книгу Atlantis - Gregory Mone - Страница 6
2 Ein wasserdichter Plan
ОглавлениеDer Aerodrifter hatte ein paar Dellen. Und hier und da auch ein bisschen Rost angesetzt. Ein Scheinwerfer flackerte, und der Motor hatte leise gestottert, als Lewis’ Dad hinten im Garten gelandet war. Aber dafür hatte das Ding Charakter. Wäre es ein Mensch gewesen, hätte es einen Bierbauch gehabt und mehr Haare in den Ohren als auf dem Kopf. Es hätte total witzige Geschichten auf Lager gehabt, und sein Name wäre Carl gewesen.
Nein, besser: Fred.
Ein Mondstrahl bahnte sich den Weg durch die dicke Wolkendecke und fiel wie Scheinwerferlicht auf Fred. Spätestens jetzt war klar, dass Lewis die Sache einfach durchziehen musste. Was blieb ihm schon anderes übrig, wenn sogar der Mond seine Idee großartig zu finden schien?
Lewis war nicht einfach nur aufgeregt – er war die Aufregung in Person. Wäre er ein Comic-Held gewesen, hätte er Ausrufezeichen aus seinen Fingerspitzen schießen können.
Lautlos stieg er durch sein Zimmerfenster im Erdgeschoss in den Garten. Dort blieb er reglos stehen und lauschte. Hier draußen war niemand, aber rechts von ihm befand sich die Küche, in der gerade seine Eltern stritten.
Niemand rief nach ihm.
Sein Zimmerfenster blieb dunkel.
Es hatte den ganzen Tag lang geregnet, und als Lewis auf Zehenspitzen durch den triefend nassen Garten schlich, blieb sein linker Turnschuh, den er nicht zugebunden hatte, im Matsch stecken. Kalter Schlamm drang durch seine Socke und sammelte sich zwischen den Zehen. Aber davon würde Lewis sich nicht aufhalten lassen. Wer brauchte schon Schuhe? Und den Linken hatte er sowieso nie besonders gemocht, weil er einen Pizzasoßenfleck neben dem großen Zeh hatte. Außerdem würde sein Dad ihm neue Wanderstiefel kaufen, wenn sie in die Berge fuhren.
Wie er so durch den Garten schlich, kam er sich beinah vor wie ein Abenteurer. Oder ein Geheimagent. Nein, ein Undercover-Spion mit nur einem Schuh und dem Codenamen Linkie! Alle anderen Spione fragten sich, wie Linkie zu seinem Namen gekommen war. Weil er mit links besonders tödliche Tritte austeilte? Oder weil er einen besonders schlimmen linken Stinkefuß hatte, mit dem er die Wahrheit aus seinen Gegnern herauspresste? Erzähl mir alles, du mieser Verräter, oder du wirst den Rest deines Lebens an meinem Stinkefuß schnuppern müssen!
Hinter ihm gähnte sein Bruder. »Was machst du da?«, fragte Michael.
Er lehnte sich aus dem Fenster. Michael war acht und damit vier Jahre jünger als Lewis. Aus seinem linken Nasenloch tropfte Schnodder. »Putz dir die Nase«, flüsterte Lewis.
»Warum hast du nur einen Schuh an?«
»Ist der neuste Trend. Das machen jetzt alle so.«
»Und was machst du im Garten?«
»Nach dem Grünkohl sehen.«
»Ich glaub, den hast du gerade totgetrampelt.«
Lewis sah nach unten. Unter seinem beturnschuhten Fuß befand sich ein matschiger grüner Haufen. Ja, der Grünkohl war so tot, wie Grünkohl sein konnte. »Das ist ein wissenschaftliches Experiment. Ich will herausfinden, ob er sich erholt.«
»Sieht eher so aus, als ob du abhaust.«
»Mach ich aber nicht.«
»Und warum hast du dann deinen Rucksack auf?«
Der Rucksack ließ sich nicht leugnen. Und schließen ließ er sich auch nicht mehr, weil er nämlich so voll war. Aber ohne seinen Fußball ging Lewis nun mal nirgendwohin.
Er schlich zurück zum Fenster und schnüffelte. »Hab ich dir schon mal gesagt, dass du nach Käse riechst?«
»Tu ich gar nicht.«
Oh doch, und wie Michael nach Käse roch. Genauer gesagt nach Emmentaler. Michael wurde auf Schritt und Tritt von einer Käsewolke verfolgt. Sollte je ein laktoseintoleranter Superheld versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen, konnte Michael sein Erzfeind werden, wie bei Batman und Joker.
»Das sag ich Mom.«
»Was denn?«
»Dass du dich im Aerodrifter von deinem Dad verstecken willst.«
»Aber ich will mich nich…«
»Willst du doch.«
»Und wenn ich dir später zwanzig Dollar gebe?«
Michael wischte sich die Nase ab, ehe er antwortete. »Dann hab ich dich nie gesehen.«
Im Mondlicht erkannte Lewis, dass sein kleiner Bruder eines seiner Lieblings-T-Shirts trug. Michael zog den Kragen hoch und schnäuzte sich in den Baumwollstoff.
»Das T-Shirt kannst du auch haben«, sagte Lewis.
Michael putzte sich noch einmal die Nase. »Echt?«
»Echt. Aber dafür hast du mich nie gesehen. Und wir reden gerade auch gar nicht miteinander.«
»Doch. Nämlich über die zwanzig Doller. Versprichst du, dass du sie mir auch wirklich gibst?«
»Versprochen.«
Michael gähnte wieder. »Okay. Gute Nacht, Lewis.«
»Gute Nacht, Kleiner.«
»Bleib nicht so lange weg.«
»Abgemacht, Kleiner.«
Das Fenster schloss sich hinter Michael. Würden echte Spione auch ihre kleinen Brüder bestechen? Lewis hatte keine Ahnung, aber eigentlich interessierte ihn die Antwort auch gar nicht. Fred wartete. Lewis schlich durch den Garten über das feuchte Gras bis zum Aerodrifter seines Vaters, wo er sich hinter den Vordersitzen auf den Boden kauerte. Ein Gegenstand aus Metall presste sich in seine Rippen – ein Schraubenschlüssel. Er legte ihn auf die Rückbank, dann wagte er einen letzten Blick zum Haus.
Die Sonnenkollektoren waren sauber, die Windturbine drehte sich langsam. Die Rohre, die aus den Regenwasserspeichern auf dem Dach nach unten führten, glänzten weiß. Das Haus war klein, aber es reichte. Seine Mom und sein Stiefvater Robert schliefen am einen Ende, Lewis und Michael – der eigentlich nur sein Halbbruder war, weil Robert sein Dad war – teilten sich ein kleines Zimmer auf der anderen Seite. Dazwischen lag die Küche. Nur eins fehlte im Haus: Lewis’ Dad. Na ja, und eine von diesen vollautomatischen Küchen. Ein Junge aus Lewis’ Fußballmannschaft hatte eine, und sie bereitete alles zu, was man haben wollte. Einfach so. Fette Milchshakes, Brathähnchen, Sandwiches mit Erdnussbutter und Banane. Einmal hatte Lewis sogar einen Burrito mit Rattenfleisch bestellt, und die Küche hatte ihm einen Hotdog serviert. Womit sie gar nicht mal so weit danebenlag.
Heute war sein Dad zwar ausnahmsweise hier, aber es war kein fröhlicher Besuch. Robert steckte wahrscheinlich im Keller und bastelte an irgendwas herum, oder er polierte seinen glänzend roten Aerodrifter. Lewis konnte seine Eltern dabei beobachten, wie sie in der Küche miteinander stritten. Seine Mom marschierte wutentbrannt immer wieder um den Tisch herum. Sein Dad saß mit verschränkten Armen da und verzog das Gesicht.
Das Gespräch lief nicht gut.
Was meistens der Fall war.
Diesmal war Lewis’ Mom wütend, weil sein Vater mal wieder ihre Reise in die Berge und zum Blackwater River abgesagt hatte. Sie behauptete, er würde sie schon zum vierten Mal verschieben. Lewis glaubte allerdings, dass es erst das zweite oder dritte Mal war. Außerdem hatte sich sein Dad bei ihm entschuldigt. Klar war Lewis enttäuscht. Ziemlich sogar. Um diese Jahreszeit trat der Blackwater River über seine Ufer, wodurch Wasserbecken zum Schwimmen und Tauchen entstanden, und der Fluss rauschte durch breite Kanäle im Felsgestein, die man wie Wasserrutschen benutzen konnte. Lewis hatte sich so auf die Reise gefreut, dass seine Tasche schon seit Wochen fertig gepackt in seinem Zimmer stand. Dann hatte ihm sein Vater geschrieben, dass er es wegen der Arbeit leider nicht schaffen würde. Nun war sein Dad hier, um sich auch bei Lewis’ Mom zu entschuldigen. Oder so. Aber deswegen brauchte sie ihn doch nicht gleich anzuschreien! Er hatte nun mal superwichtige Sachen zu erledigen.
Außerdem hatte Lewis eine Lösung gefunden.
Eine, die alle Beteiligten glücklich machte.
Plötzlich sprang sein Dad vom Tisch auf. Lewis duckte sich wieder in sein Versteck. Die Küchentür knallte gegen die Hauswand, dann hörte er seinen Vater über den Rasen stapfen. Lewis musste ein Lachen unterdrücken. Das würde eine super Überraschung werden! Aber er durfte sich noch nicht zeigen. Sonst würde sein Dad es vermutlich seiner Mom sagen, und dann musste Lewis zu Hause bleiben, und der ganze schöne Plan wäre dahin.
Geduld, rief Lewis sich ins Gedächtnis. Geduld.
»Batteriestand niedrig«, verkündete Fred. »Bitte umgehend aufladen.«
Als sein Dad seinen riesigen Körper auf den Fahrersitz plumpsen ließ, neigte sich das gesamte Fahrzeug zur Seite.
»Also bitte!«, empörte sich der Aerodrifter.
Wieder versuchte Lewis, nicht zu lachen. Dieser Fred hatte echt Charakter!
Die vier Turbinen in den kurzen Flügeln des Fahrzeugs begannen sich zu drehen. »Hab dich nicht so«, antwortete sein Dad. »Und hör auf mit dem Gejammer wegen der Batterie. Du hast noch genug Saft.«
Die Turbinen drehten sich schneller, die Motoren summten. Als der Aerodrifter abhob, stieg Lewis eine kleine Furzbrise in die Nase, und er musste würgen.
Aber sein Plan ging auf! Meriwether Lewis Gates war nach einem der berühmten Abenteurer benannt, die vor vielen Jahrhunderten Nordamerika durchquert hatten. Lewis selbst allerdings war eher nicht der Abenteurertyp. Jedenfalls noch nicht. Er war ja erst zwölf. Aber er hatte Pläne. Gewaltige Pläne! Sobald sein Vater die Arbeit im Labor abgeschlossen hatte, würden sie ihr eigenes Abenteuer erleben, Hunderte von Meilen weit weg von zu Hause, tief im Gebirge.
Wenn sie beim Labor ankamen, würde er aufspringen und rufen … Ja, was eigentlich? Hi? Nein, das war lahm. Überraschung? Zu abgedroschen. Guten Abend? Ein bisschen zu förmlich. Außer er verbeugte sich dabei und sagte es mit Akzent. Dann kam es vielleicht witzig rüber.
Eigentlich war es aber sowieso unwichtig, was er sagte. Wichtig war nur, dass er endlich ein paar Tage mit seinem Dad verbringen würde.
Fred flog dröhnend los, sodass Lewis gegen die Halterung der Rückbank gedrückt wurde. Wieder forderte der Bordcomputer seinen Dad auf, die Batterie aufzuladen. Normalerweise hätte Lewis sich jetzt eingemischt. Denn Aerodrifter wurden nicht einfach langsamer, wenn ihnen der Saft ausging – sie krachten vom Himmel wie Steine. Einmal hatte er auf dem Heimweg von der Schule mitbekommen, wie eins in einen Baum gestürzt war. Sein Freund Jet hatte gelacht. Der Fahrer war nicht gestorben oder so, aber schmerzhaft hatte es schon ausgesehen.
Doch wenn sein Dad glaubte, dass der Wagen noch genug Saft hatte, dann war es auch so.
Der Aerodrifter neigte sich jetzt nach vorn und ging in den Sturzflug über. Aber es war nicht die Art von Sturz, nach der man im freien Fall in einen Baum krachte, sondern die gute Art von Sturz. Lewis kniff die Augen zu. Er brauchte nichts zu sehen, um zu wissen, wo sie waren und was passierte. Nah bei seinem Haus befand sich eine der mehrere Hundert Meter hohen Schutzklippen, und jetzt rasten sie gerade den Abhang entlang nach unten zur Küste.
Lewis wurde flau im Magen, als sie die Klippenwand hinabsausten. Dann hob sich die Fahrzeugschnauze wieder, und der Spinat vom Abendessen stieg ihm in der Kehle hoch, gefolgt von einem ekligen, feuchten Rülpser. Lewis biss die Zähne zusammen und atmete durch die Nase. Er konnte rülpsen wie kein anderer – von winzig kleinen Stößerchen, die so sanft und leise aus seinem Mund ploppten wie Seifenblasen, bis hin zu gewaltigen Superrülpsern, so mächtig, dass sie alles und jeden in Reichweite vergifteten. Sein Freund Kwan plante sogar ein Experiment mit Lewis’ Rülpsern. Kwan war überzeugt davon, dass sie Pflanzen abtöten konnten, und wollte seine These demnächst an einer Tulpe testen.
Der Aerodrifter nahm jetzt ruhige Fahrt auf und hielt sich dicht über dem Boden. Lewis verzog das Gesicht und schluckte den Spinat wieder runter.
»Batteriestand kritisch. Bitte umgehend landen.«
Das klang ernst.
Die Warnung wiederholte sich immer wieder, und sein Dad ignorierte sie immer wieder.
Dann endlich wurde Fred langsamer und landete mit einem sanften Bums. Lewis’ Schulter presste sich knirschend gegen die Rückbank, und sein Knöchel verdrehte sich unangenehm.
Sein Dad tätschelte die Armatur. »Siehst du? Wir haben es ohne Probleme hierher zurückgeschafft. Du hattest noch mehr als genug Batterie.«
Dann stieg er aus, und als Nächstes waren eilige Schritte zu hören.
Lewis wartete kurz, dann sprang er auf. »Überraschung!«
Keine Reaktion.
Und auch keine Spur von seinem Dad.
Die Luft schmeckte salzig. Lewis sah sich um. Sie waren auf einem Gebäude direkt am Meer gelandet. Das leere Flachdach war übersät mit Pfützen, in denen sich grau das Mondlicht spiegelte. Der dunkle Ozean lag nur einen kurzen Spaziergang weit weg. In der Ferne konnte Lewis die riesigen Warntürme aus Stahl sehen. Sie säumten fast alle Küsten auf der ganzen Welt und schmetterten Alarmsignale, sobald sich eine Riesenwelle näherte.
Obwohl die Nacht warm war, schauderte Lewis beim Anblick der Türme. »Dad?«, rief er. »Dad?«
Er wartete.
Nichts.
»Guten Abend?«
Er versuchte es noch mal, diesmal mit französischem Akzent.
Immer noch nichts.
Lewis schnappte sich seinen Rucksack und lief zum Rand des Dachs. Das Gebäude war größer, als er gedacht hatte. Mindestens drei Stockwerke hoch. Unten brachen kleine Wellen auf dem Sand. Das Wasser war fast schwarz und die gesamte Küste leer. Es gab hier keine Häuser, keine Aerodrifter. Keine Bäume und ganz sicher keine Menschen. Was nicht weiter überraschend war. Niemand war so verrückt, in Küstennähe zu bauen. Nicht nach dem jahrelangen Ansturm der Riesenwellen, gigantischer Tsunamis, die noch kilometerweit hinter der Küste alles dem Erdboden gleichmachten. Was also hatte sein Dad hier zu suchen? War das hier sein Labor?
In der Nähe des Aerodrifters entdeckte Lewis eine viereckige Falltür im Dach. Er zerrte daran. Das Metall fühlte sich kühl an. Die Luke bewegte sich nicht. Lewis hämmerte dagegen und rief: »Dad? Bist du da unten?«
Sein Vater antwortete nicht.
Dafür aber die Türme.
Sie schlugen nur dann Alarm, wenn sich eine Riesenwelle näherte. Als Lewis jünger war, waren die Wellen noch dicht aufeinandergefolgt. Manchmal wurde er mitten in der Nacht von den Sirenen geweckt. Dann lief er schnell zu seiner Mom, kuschelte sich zu ihr ins Bett, und sie sang ihm mit ihrer beruhigenden Stimme ein Lied vor.
Ging der Alarm los, wenn er in der Schule war, mussten sie sich unter ihren Tischen verkriechen. Was ziemlich sinnlos war, weil die Schule im sicheren Bereich hinter den Klippen stand. Nur wegen der Wellen hatte die Stadt die Schule überhaupt dorthin verlegt. Nichts konnte die Klippen überwinden. Und selbst wenn es doch einer Welle gelungen wäre, den ganzen Weg von der Küste zurückzulegen und die riesigen Klippen zu überschwemmen – dann half es garantiert nicht, sich unter einem Tisch zu verstecken. Denn das Wasser riss sowieso alles mit sich.
Außerdem verfingen sich immer Kaugummis in Lewis’ Haaren, wenn er sich unter den Tisch kauerte. Und er konnte deswegen nicht mal sauer auf irgendwen sein, weil nämlich er es war, der die Kaugummis dorthin klebte.
Der Klang der Sirenen war für ihn also nichts Neues. Aber diesmal war es anders. Denn diesmal befand er sich nicht zu Hause oder in der Schule hinter den schützenden Klippen. Diesmal war er den Türmen so nahe, dass der schrille Alarm ihm durch Mark und Bein ging.
»Dad!«, brüllte er.
Der Wind flaute schlagartig ab. Die Sirenen gaben das nächste Alarmsignal von sich, und Lewis begann zu zählen. Die Zeit zwischen den Alarmtönen verriet, wie weit die Welle noch von der Küste entfernt war. Die Berechnung des Abstands wurde sogar in der Schule durchgenommen. »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht …«
Das nächste Schrillen ertönte.
Acht Sekunden?
Das konnte nicht sein! Er musste sich verzählt haben.
Eigentlich sollten die Sirenen losgehen, wenn die Wellen noch weit weg waren, damit die Leute genug Zeit hatten, sich in Sicherheit zu bringen. Zwischen den Tönen hätten mindestens zehn Sekunden verstreichen sollen. Zehn Sekunden Abstand bedeuteten, dass die Welle noch eine Stunde von der Küste entfernt war.
Lewis zählte noch mal mit. Doch, acht Sekunden. Er hatte richtiggelegen. Sein Vater hatte dafür gesorgt, dass er sich die Everett-Skala genau einprägte. Sie ordnete der Anzahl an Sekunden zwischen den Alarmtönen die Strecke, die die Welle noch zurücklegen musste, und die verbleibende Zeit bis zum Aufprall auf der Küste zu. Ein durchschnittlicher Tsunami rollte mit 800 Stundenkilometern durchs Meer. Zehn Sekunden bedeuteten 800 Kilometer Abstand, was hieß, dass man noch etwa eine Stunde Zeit hatte zu fliehen. Neun Sekunden bedeuteten schon nur noch 300 Kilometer. Und acht Sekunden? Das waren gerade mal 150 Kilometer! Oder zwölf Minuten bis zum Aufprall.
Lewis rannte wieder zur Dachseite, die aufs Meer hinausging. Im Augenblick lag das Wasser noch ruhig da. Aber irgendwo dort draußen in der Dunkelheit raste eine gigantische Welle auf die Küste zu. Und wenn sie erst einmal da war, würde sie das Gebäude dem Erdboden gleichmachen.
Die Welle würde kilometerweit alles und jeden unter sich begraben.
Auch Lewis.
Die Sirenen schrillten erneut.
Lewis schnappte sich den Schraubenschlüssel vom Rücksitz des Aerodrifters und hämmerte damit gegen die metallene Falltür. Ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Unterarm. »DAD!«
Fred hinter ihm piepte. Die Lichter im Armaturenbrett blinkten rot, dann erloschen sie.
Lewis warf den Schraubenschlüssel beiseite und lehnte sich in die Fahrerkabine. Er würde Robert anfunken. Sein Stiefvater arbeitete bei der Küstenwache. Er würde kommen und ihn retten. Doch als er versuchte, das Funkgerät einzuschalten, passierte nichts. Freds Warnungen waren nicht übertrieben gewesen. Die Batterie des Aerodrifters war leer.
Plötzlich schwang die Falltür auf, und Lewis’ Dad kam hervor. Er war wirklich ein Riese mit breiten Schultern, einem mächtigen Brustkorb, kräftigen Beinen und Fäusten wie ein Türsteher. Trotzdem bewegte er sich schnell und wendig. Lewis stand da wie festgefroren. Er kam sich vor wie bei einem Videospiel, in dem er alles durch seine VR-Brille beobachten und durch seine Kopfhörer hören konnte, aber nicht wirklich da war.
Und jetzt war er auch nicht wirklich da. Weil das alles unmöglich passieren konnte.
»Was machst du hier?«, brüllte sein Vater. »Wie hast du mein Labor gefunden?«
Lewis stammelte: »D…das hier ist d…dein Labor? Ich dachte …«
Sein Vater zeigte auf den Aerodrifter. »Weißt du, wie man so ein Ding fliegt?«
»Ich …«
»Ja oder nein?«
»Nein«, sagte Lewis. »Ich bin erst zwölf. Und außerdem ist die Batterie alle.«
Sein Vater trat gegen den Wagen, dann starrte er fluchend aufs Meer hinaus. Seine Kiefer mahlten, und seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Warum ausgerechnet jetzt, Lewis?«, fragte er. »Und dann auch noch ihr beide. Warum ausgerechnet heute Nacht?«
Sie beide? Wovon redete er? »Tut mir leid, ich …«
»Vergiss es. Egal«, blaffte sein Dad. Dann sagte er etwas sanfter: »Tut mir leid.« Er zog Lewis in seine Arme. Danach nahm er ihn bei den Schultern und suchte seinen Blick. »Wir müssen dich mitnehmen. Das ist die einzige Möglichkeit.«
Was meinte er mit »wir«? Und wohin mitnehmen?
Das Meer rauschte friedlich vor sich hin. Noch immer ließ nichts darauf schließen, dass gleich eine Riesenwelle alles mit sich reißen würde.
Noch nicht.
Die Sirenen heulten auf, der Abstand zwischen den Tönen wurde immer kürzer. Wo waren sie jetzt? Bei sechs Sekunden? Oder fünf? Lewis konnte sich nicht lang genug konzentrieren, um mitzuzählen. Trotzdem war ihm klar, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten. Höchstens acht oder neun Minuten.
»Rein mit dir«, befahl sein Vater.
Unter der Luke führte eine Stahlleiter in einen riesigen Raum hinab. Halb rutschend, halb kletternd machte sich Lewis an den Abstieg. Das Licht drinnen war grellweiß. Er blinzelte.
»Los, los, los«, drängte ihn sein Vater.
Lewis machte, so schnell er konnte. Bei jeder Bewegung prallte ihm der Rucksack gegen den Rücken. Einmal trat ihm sein Vater versehentlich auf die Finger, aber Lewis sagte nichts, und sein Dad schien es gar nicht zu bemerken. Am Ende der Leiter sprang er auf eine viereckige Plattform aus Metall. Während er sich die schmerzenden Finger ausschüttelte, sah er sich staunend um.
Sie standen neben einer riesigen Metallkugel, so breit wie ein Haus und ungefähr dreimal so hoch. Die Außenseite war mit festgenieteten Stahlbändern ummantelt. Es gab auch Fenster, die aussahen wie die Bullaugen in einem altmodischen Schiff. Eingeklappt an der Seite befand sich etwas, das an eine Finne erinnerte.
»Was ist das denn für ein Ding?«, fragte Lewis.
»Erklär ich dir später. Steig ein jetzt.«
Lewis betrat durch eine kleine Tür in der Riesenkugel einen schmalen Gang. Sein Vater schloss die Tür hinter ihnen und verriegelte sie.
Am anderen Ende des Gangs stand ein Mädchen. Im Highschool-Alter, schätzte Lewis. Neunte oder vielleicht zehnte Klasse. Also nur ein paar Jahre älter als er. Aber die waren wie Hundejahre. Das Mädchen hätte genauso gut auch zwanzig sein können. Sie war groß und dünn und hatte dunkle Haut und eine kleine Nase. Ihr schwarzes Haar war oben zu Zöpfen geflochten und an den Seiten kurz rasiert. Selbst aus der Ferne konnte Lewis die drahtigen Muskeln in ihrem Kiefer, den Schultern und Armen erkennen. Ihre Klamotten waren an mehreren Stellen zerlöchert. Sie sah ein bisschen so aus wie eine DJane. Ob sein Vater inzwischen so was wie ein Bandmanager war?
»Das ist Hanna«, brummelte sein Dad. »Sie sollte genauso wenig hier sein wie du. Aber wenn sie dich nicht gehört hätte …«
»Ich sollte nicht hier sein? Ich habe dieses Schiff gebaut, Professor. Und damit habe ich jedes Recht, hier zu sein.«
»Du hast das Schiff nicht gebaut. Das waren Roboter.«
Die Sirenen heulten wieder los. Sie waren jetzt nur noch gedämpft zu hören, aber immer noch deutlich genug, um beängstigend zu sein.
»Ja, aber nach meinem Entwurf.« Sie zeigte auf Lewis. »Warum trägt er nur einen Schuh?«
Oh. Das hatte er ganz vergessen. Lewis wackelte mit den nassen Zehen.
»Keine Ahnung«, antwortete sein Dad. »Warum träg…«
Die Sirenen heulten jetzt fast ununterbrochen.
»Nur noch drei Sekunden Abstand«, sagte sein Dad.
»Dann ist die Welle vielleicht zehn Kilometer weit weg«, antwortete Hanna. »Das sind höchstens drei Minuten bis zum Aufprall. Ich schlage vor, wir schnallen uns an.«
»Los!«, brüllte sein Dad ihn an.
Lewis rülpste.
Hanna verzog das Gesicht. »Das war echt eklig.«
»Wenn er Angst hat, muss er immer rülpsen«, erklärte sein Vater.
»Stimmt doch gar nicht!«, widersprach Lewis. Dabei stimmte es sehr wohl.
Hastig rannten sie den Gang entlang.
»Zwei Minuten«, rief Hanna ihnen über die Schulter zu.
Lewis packte seinen Dad hinten am Hemd. »Dad? Uns passiert doch nichts, oder?«
Sein Vater blieb stehen, legte ihm seine großen Pranken auf die Schultern und lächelte. »Hier drinnen sind wir sicher. Vertrau mir, mein Sohn. Habe ich dich je enttäuscht?«
Häufiger, als Lewis zählen konnte. »Na ja …«
»Egal. Falsche Frage. Du kannst mir vertrauen.«
»Oder eher mir«, warf Hanna ein. »Schließlich habe ich das Schiff entworfen.«
Eigentlich traute Lewis gerade keinem von beiden.
Sein Dad neigte den Kopf und lauschte. Hanna packte Lewis an einem seiner Rucksackträger und zog ihn ins Cockpit. Vor einem großen Fenster standen vier gepolsterte Sitze in zwei Reihen. Hanna drückte ihn in einen der Sitze in der zweiten Reihe. »Du hast eine Minute«, sagte sie. »Mach es dir bequem. Schnell!«
Er schmiss seinen Rucksack auf den Boden, während Hanna und sein Dad vorne Platz nahmen und sich anschnallten. Sein Vater bewegte sich wie ferngesteuert, so, als müsste er gar nicht mehr hinschauen, was er da tat. Sein Blick war fest auf die Holzwand draußen vor dem Fenster gerichtet.
»Vielleicht sollten Sie Ihrem Sohn besser sagen, dass er sich anschnallen muss, Professor.«
Ohne sich zu ihm umzudrehen, sagte sein Dad: »Du hast sie gehört, Lewis.«
»Noch dreißig Sekunden«, rief Hanna.
Als Lewis sah, dass die Sitze jeweils sieben verschiedene Gurte hatten, ahnte er Schreckliches. Er schloss einen Gurt über seinem Schoß und mehrere weitere schräg über der Brust. Mit zitternden Händen schnallte er auch seine Beine fest. Sein Herz hämmerte. Ein paar Sekunden lang war alles ruhig, selbst die Sirenen, und Lewis wagte kurz zu hoffen, dass die ganze Angelegenheit nur eine Übung gewesen war, wie in der Schule. Oder ein Fehlalarm.
Dann explodierte die Wand vor dem Fenster. Eine Lawine aus Wasser und Holzsplittern prallte auf das Panzerglas, dann krachte eine riesige Welle gegen das Metallschiff, und Lewis wurde nach hinten geschleudert.