Читать книгу Die Robinson-Morde - Gretelise Holm - Страница 4

Montag, 27. Mai

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Es ist keine Schande zu sterben, wenn man 86 Jahre alt ist und sein Leben lang dafür gesorgt hat, dass alles seinen Gang geht. Wenn man kleine Samen in Tausende von Kinderseelen gesät hat – wie der Verstorbene selbst seine Tätigkeit als Lehrer zu beschreiben pflegte.

Deshalb hatte die Inselpfarrerin zusammen mit den Hinterbliebenen einen heiteren Text für die Andacht ausgewählt und als der frühere Hauptlehrer Gustav Kwium zur letzten Ruhe geleitet wurde, trugen nur wenige schwarz. Sie – die Pfarrerin mit dem dunklen Pagenschnitt, der ihre Gesichtszüge und die wasserblauen Augen betonte – hatte beschlossen, den Geist in den Vordergrund ihrer Predigt zu stellen. Sie versuchte, das Wort Geist so häufig wie irgend möglich zu erwähnen.

Geister waren in Mode gekommen und die Pfarrerin Anna Skov hatte in einer Fernsehsendung über die Macht der Geister mitgewirkt, in der sie unterstrichen hatte, dass die Volkskirche in diesem Bereich durchaus mithalten konnte. Sie selbst hatte sogar die Austreibung böser Geister anzubieten, doch bisher war noch nicht nach ihr geschickt worden. Entweder machten die bösen Geister einen Bogen um Skejø oder sie hatte die Schlacht gegen die Südspitze der Insel verloren, wo die Alternativen ihr Kollektiv mit Therapeut, Heiler und Medium in einer Person hatten.

Vor allem viele der Zugezogenen bevorzugten die alternative Behandlung von Körper und Seele, sodass sowohl die Pfarrerin als auch der Inselarzt unautorisierte, private Konkurrenz bekommen hatten. Die Pfarrerin war bereit, diese Herausforderung anzunehmen.

»Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod und geistlich gesinnt sein ist das Leben...«, begann sie mit einem Zitat aus dem Brief des Paulus an die Römer.

Nahezu die Hälfte der Kirchenbänke war von den Bewohnern des Altenheims besetzt, das inzwischen nicht länger Altenheim hieß. Die Gemeinde hatte es erst in Altenzentrum und später in Seniorenservicecenter umbenannt. Auf der Insel lächelte man über die sprachliche Schminke und nannte das große, rote Gebäude aus den 50er Jahren weiterhin Altenheim. Diesem stand übrigens ein größerer Anbau bevor. Der Altenbereich war der einzige Bereich auf der Insel, der im Wachstum begriffen war und die Pensionärsvereinigung war die größte Organisation, die es hier gab.

»Denn fleischlich gesinnt ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag’s auch nicht«, fuhr die Pfarrerin mit ihrem Paulus-Zitat fort und versuchte einige der leeren, resignierten Blicke der alten Inselbewohner einzufangen, die hin und wieder zueinander hinüberschielten und sich fragten, wer wohl als Nächster im Sarg liegen mochte. Du oder ich?

Zu Kwiums nächster Familie gehörte ein Sohn, der vor ein paar Wochen auf die Insel gekommen war, weil er glaubte, dass es mit seinem Vater zu Ende ging. Er saß mit seiner Frau, einem erwachsenen Sohn und ein paar entfernteren Verwandten zusammen. Sie machten einen steifen und resignierten Eindruck und nichts in ihrer Körpersprache ließ darauf schließen, dass sie einander kannten.

Hier und da flossen ein paar Tränen, aber die hatten nicht viel mit dem Toten zu tun. Die Leute nutzten lediglich die Gelegenheit, über sich und die Bedeutungslosigkeit des Lebens zu weinen.

»Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt.«

Die Pfarrerin ließ ihre Stimme so salbungsvoll klingen wie möglich und sah einige der jüngeren Gäste des Beerdigungsgottesdienstes direkt an. Oder richtiger, die mittleren Alters: Ehemalige Schulkinder aus früheren Tagen, die gekommen waren, um ihrem Lehrer die letzte Ehre zu erweisen.

Das Personal des Altenheims saß auf einer separaten Kirchenbank, auf der auch die Journalistin Karin Sommer saß und versuchte, an ihrer professionellen Beobachterrolle festzuhalten. Das war nicht leicht. Die Erinnerungen an das letzte Begräbnis, dem sie vor bald einem Jahr beigewohnt hatte, stürmten auf sie ein und bohrten Löcher in das dünne Narbengewebe, das sich über die Trauer gelegt hatte, die sie fast nicht hatte aushalten können.

Als Britta Olsen, ihre Banknachbarin, eine kleine, gedrungene Pflegehelferin mit dünnem, rotblondem Haar und ungesundem, gräulichen Teint, laut zu weinen begann, holte Karin auch ein Taschentuch hervor und nutzte die Gelegenheit, dem Druck auf die Tränenkanäle nachzugeben. Das erleichterte. Jetzt konnte sie sich wieder auf ihre Umgebung konzentrieren und Details für den Artikel über das Leben auf einer der kleinen Inseln sammeln, die zum Verbreitungsgebiet der »Sjaellandsposten« gehörten.

Der Artikel über das Inselleben war Teil des Abkommens, das sie mit der Redaktion geschlossen hatte. Sie hatte um drei Monate unbezahlten Urlaub gebeten, um ein Projekt zu verwirklichen, für das sie viele Jahre Material gesammelt hatte: Eine Streitschrift über die Anatomie der Hexenjagd. Ein Verlag war interessiert und sie konnte kostenfrei in Tante Agnes’ kleinem, pittoreskem Fachwerkhaus – dem Fliederhaus – auf Skejø wohnen. So kam sie aus ihrem gewohnten Umfeld heraus und konnte sich ungestört auf das Schreiben konzentrieren.

Der Redaktionsleiter der »Sjaellandsposten«, Adam Lorentzen, hatte der Idee überraschend positiv gegenübergestanden. Vielleicht witterte er eine Möglichkeit, dadurch einen Teil der älteren Mitarbeiter loszuwerden. Karin selbst witterte eine Möglichkeit, sich von der Last der Festanstellung freizuschreiben.

»Ein gutes Thema, eine gute Idee, so ein Buch über die Hexenjagd im Lauf der Jahrhunderte. Wir bekommen natürlich einen curtain raiser, bevor es herauskommt«, hatte der junge Chef gesagt. Ein curtain raiser war heutzutage das, was man in Karins Journalistengeneration einen Vorabdruck genannt hatte.

»Und du wirst auf Skejø wohnen, sagst du? Natürlich gibt es viele dieser kleinen Inseln, aber wir haben nie eine ordentliche, gut recherchierte Artikelreihe darüber gebracht, wie es wirklich ist, dort zu leben. Ich meine: Man lebt in einer Provinzstadt, und die gleichen sich fast alle wie ein Ei dem anderen und wenn man zwischen den Kleiderständern in der Fußgängerzone steht, könnte man überall sein. Man hat keine Ahnung, ob man in Thisted ist oder in Köge. Doch fährt man nur 20 Kilometer weiter und eine halbe Stunde mit der Fähre, ist man plötzlich in einer ganz anderen, fernen Kultur«, fuhr er fort.

»Ja, auf Skejø gibt es bestimmt noch Rollo-Gardinen an den Fenstern und Wasserklos auf dem Hof«, antwortete Karin, die sich gerade die Homepage der Insel im Internet angesehen hatte.

»Du wirst ja eine Zeit lang dort leben und wenn dabei drei Samstagsartikel herauskommen, bekommst du weiterhin dein Gehalt. Schreib etwas gesellschaftlich-soziologisches, gewürzt mit ein paar Alltagsgeschichten und kleinen, netten Eigentümlichkeiten. Die Alterspyramide kippt, weil die Jungen die Insel verlassen und außer Volkstanz und Holzschuhwalzer für die Touristen nichts bleibt, wovon man leben kann. Jeder kennt jeden und der Tratsch blüht, usw. Daraus kannst du bestimmt etwas machen!«

Das war ein gutes Angebot und sie hatte es angenommen. Drei Monate volles Gehalt für eine Arbeit, für die sie im Stillen maximal sieben Tage effektiver Arbeit veranschlagte. Ein paar harmlose, unverfängliche Features mit gemäßigter Problematisierung der Wirtschafts- und Bevölkerungsprobleme kleiner Inseln.

Und der Stoff für die Artikel kam fast wie von selbst. Jetzt musste sie ihn nur noch thematisieren und von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchten. Gerade als sie Tante Agnes, die in einer der Altenwohnungen des Seniorencenters wohnte, einen vergnüglichen Besuch abgestattet hatte, waren der Bestattungsunternehmer und die Pfarrerin gekommen, um Gustav Kwium in den Sarg zu legen und für ihn zu singen. Sie hatte Agnes im Rollstuhl zu der kleinen Feierlichkeit im Altenheim gefahren und heute der alten Frau geholfen, in die Kirche zu kommen. Tod und Begräbnis waren Teil der Kultur. Jetzt saß sie hier und nahm alles in sich auf.

Die Pfarrerin hatte in ihrer Begräbnispredigt einen natürlichen Übergang vom Geist Gottes zum Geist der Schule und der Insel gefunden, den der Verstorbene durch Generationen geprägt hatte. 40 Jahre hatte er unterrichtet, zuerst in Nordby. Das war zu der Zeit, als sowohl Nordby als auch Sönderby eine eigene Schule hatte. Und später an der Zentralschule, die in ihrer Blütezeit sieben Klassen hatte, jetzt aber nur noch drei.

Aus diesem Grund konnte das Begräbnis auch nicht ganz so verlaufen, wie Gustav Kwium sich das in einer 30 Jahre alten Anweisung gewünscht hatte. Sie war während einer schlimmen Grippeepidemie entstanden und sein Sohn hatte sie gefunden und dem Bestattungsunternehmer und der Pfarrerin überlassen. Der alte Lehrer hatte gewollt, dass der Chor der Klassen 6 und 7 »Ein feste Burg ist unser Gott« sang, doch weder die Klassen noch den Chor gab es noch.

Darüber hinaus hatte sich Gustav Kwium gewünscht, dass die Pfarrerin die Hinterbliebenen aufforderte, sich die Tränen abzuwischen, da ein Tag, an dem jemand zu Gott heimgerufen wurde, niemals ein Trauertag sein konnte.

»Jetzt ist Gustav Kwium zu Gott heimgerufen worden«, beendete die Pfarrerin ihre Predigt und holte tief Luft.

In der darauf folgenden Pause entstand Unruhe in einer der vorderen Bankreihen und als Nächstes bemerkte Karin eine magere, alte Frau mit einem stramm unter dem Kinn gebundenen Kopftuch und einem erhobenen Krückstock neben dem mit Blumen geschmückten Sarg.

Die Alte wandte ihr Gesicht der Pfarrerin zu, schlug mit dem Krückstock hart auf den Sargdeckel, dass die Blumen nach allen Seiten flogen und sagte mit einer so hohen Stimme, dass sie in dem altromanische Kirchenschiff widerhallte:

»Von wegen, er wurde heimgerufen zu Gott. Er ist vom Inselrat abgewählt worden. Genau wie bei ›Robinson‹ im Fernsehen.«

Ein paar Sekunden war es totenstill in der Kirche – alle hielten den Atem an, bis Britta Olsen – die Pflegehelferin neben Karin – nach Luft rang und flüsterte: »Johanne ist senil und verwirrt.«

Aber taub war die Alte nicht. Jetzt zeigte sie mit dem Krückstock direkt auf die Pflegehelferin und sagte: »Ja, das glaubst du doch selbst nicht. Die Wahrheit hört man nicht gern, aber jetzt muss sie raus – egal wie. Für wen hast du gestimmt – oder warst du diejenige, die ihn in den Himmel geschickt hat?«

Karin Sommer konnte nur mit Mühe ein gewaltiges Kichern unterdrücken. Sie biss sich auf die Zunge und las konzentriert im Gesangbuch: »Da, vom schwarzen Star befreit, sehen Augen wieder.«

Das verschlimmerte ihren unterdrückten Lachanfall nur noch, weil ihr plötzlich einfiel, wie sie diese Verszeile in ihrer Kindheit wortwörtlich genommen hatte: Man konnte eine Fliege ins Auge bekommen, aber offenbar auch einen schwarzen Star, der – mit der Klaue um den Augapfel – so fest saß, dass man davon befreit werden musste.

Ein halb erstickter Gurgellaut entwich ihren Lippen und sie hustete kräftig, um ihn zu verbergen, doch dann wurde sie von der Orgel und »Ein feste Burg ist unser Gott« gerettet.

Die senile Johanne wurde von dem Bestattungsunternehmer behutsam auf ihren Platz geleitet. Sie saß zwei Reihen weiter vorne – direkt vor Karin. Als der Bestattungsunternehmer sie zu ihrem Platz führte, strahlte sein Gesicht mild und jovial, doch als er sich hinunterbeugte und der Alten zur Ablenkung ein Gesangbuch reichte, fing Karin einen Bruchteil von Sekunden den Ausdruck unverkennbarer Angst in seinen Augen auf. Angst, Schock oder Verzweiflung? Karin verfügte über einen gut entwickelten Sinnesapparat, doch der Eindruck war so flüchtig, dass sie ihn nicht richtig einordnen konnte. Trotzdem war sie sich ihrer Sache sicher. Der heitere Bestattungsunternehmer, bekannt als Zeremonienmeister und feucht-fröhlicher Sohn der Fassbieranlagen, hatte Angst.

Das Begräbnis endete würdig mit der Beisetzung auf dem kleinen Friedhof, der zum Wasser hin lag – vom Strand durch eine niedrige Friedhofsmauer getrennt. Die Wellen schwappten schläfrig über den vom Brackwasser olivgrünen Strand und ein paar Jollenfischer tuckerten zwischen den Stellnetzpfählen herum, während die Pfarrerin Anna Skov Gustav Kwium die Wiederauferstehung von den Toten versprach.

Der Bestattungsunternehmer hatte das Gesicht wieder in angemessene Falten gelegt, bedankte sich im Namen der Familie und lud zu Kaffee und Kuchen in Sejlerslyst ein, einer Gartenwirtschaft, die anlässlich des Tages geöffnet hatte, obwohl keine Saison war.

Jens Lyn fuhr die Alten zwischen Kirche und Restaurant hin und her. Der 70-jährige Taxiunternehmer der Insel war dafür bekannt, dass er sich nur selten zu mehr als 30 km/h aufrappelte, was ihm den Spitznamen Lyn – Blitz – eingebracht hatte.

Johanne stand in der Gruppe der wartenden alten Leute und sprach davon, dass man sie aufhalten musste, weil sonst bald niemand mehr im Altenheim übrig sein würde. »Jeden Monat wählen sie mindestens einen ab. Waren wir seit dem letzten Pfingstfest nicht vielleicht fünfzehn Mal hier auf dem Friedhof?«

»Nein, siebzehn Mal«, sagte einer der alten Männer gereizt.

»Genau das habe ich immer gesagt: Du bist ein Quatschkopf, Johanne. Und dein Unterrock schaut raus.«

Die letzte Bemerkung, die von einer süßen, gleichaltrigen Freundin kam, machte Johanne vollends betroffen. Sie trippelte herum und zog den Rock mit Hilfe ihres Gürtels zurecht, bevor Jens Lyn ihr in den Bus half.

Im Amtszimmer der Kirche zog Anna Skov sich um. Der Talar wurde durch einen grauen Rock und eine dunkelblaue Bluse ersetzt, ihre Standardkleidung für Kaffeeeinladungen nach Begräbnissen.

Anschließend ging sie hinter den Altar, wo sie aus einem kleinen, verbogenen Hohlraum hinter der geschnitzten Altartafel ein Serumröhrchen nahm, das eine geronnene Flüssigkeit enthielt. Sie steckte es in ihre Handtasche.

»Willst du einen Schluck?«, fragte Tante Agnes und zog eine unschuldig aussehende Plastikflasche mit selbst gebranntem Hagebuttenschnaps aus der Tasche, während Karin rückwärts vom Kirchenparkplatz fuhr.

»Ja, danke. Dieses Begräbnis muss ich erst mal verdauen«, antwortete sie.

»Für mich ist das die reinste Medizin.«

Das war eine rituelle Äußerung, die Agnes jedes Mal von sich gab, wenn sie einen kleinen Schluck aus der Flasche nahm. Agnes plagte die Rückenpest, wie sie sich ausdrückte. In den letzten Jahren hatte die frühere Gymnastiklehrerin sich nur in ihrem elektrischen Rollstuhl fortbewegen können und war aus ihrem Haus in eine der 20 eigenständigen Altenwohnungen gezogen, die dem Altenheim angeschlossen waren.

Für Karin war es ein Glück im großen Unglück gewesen, als Agnes vor einem Jahr aufgetaucht war und ihr eröffnet hatte, dass sie miteinander verwandt waren. Karin konnte sich nur schwach erinnern, dass ihre längst verstorbene Mutter von einem Zweig der Familie erzählt hatte, der auf einer der Inseln südlich von Seeland und Fünen zu Hause war, wo sie – die Mutter – bestimmt eine Kusine hatte.

Und gerade als Karin glaubte, überhaupt keine Familie mehr zu haben, war Agnes mit Jens Lyn in die Stadt gekommen. Sie hatte in der Zeitung gelesen, was passiert war – »Du kannst bestimmt einen Schluck brauchen, mein Mädchen!«

Das konnte Karin, genau wie sie Familie brauchte, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt so verzweifelt war, dass sie sich kaum über ihre Bedürfnisse im Klaren war. In einer Art gefühlsmäßiger Trance war sie der Tante nach Skejø gefolgt.

»Ich werde ins Altenheim ziehen und du musst mir ein paar Tage helfen. Du bist meine einzige Verwandte, also bist du dazu verpflichtet!«, hatte Tante Agnes angeordnet.

Später hatte Karin begriffen, dass sie auf einen lieb gemeinten Trick hereingefallen war. Hunderte von Inselbewohnern wären bereit gewesen, Tante Agnes bei ihrem Umzug zu helfen.

Agnes, der Umzug und die kleinen Schlucke hatten Karin geholfen.

Irgendwann hatte der Arzt angerufen und ihr vorgeschlagen, Krisenhilfe bei einem Psychologen in Anspruch zu nehmen.

»Unsinn«, hatte Tante Agnes gesagt. »Heute bieten sie einem Krisenhilfe an, wenn man sieht, wie ein Mann mit dem Fahrrad umkippt. Putz dir die Tränen ab und nimm einen Schluck.«

Agnes konnte so etwas mit Autorität sagen. Ihr Sekretär war mit verblichenen Bildern von Mann und Sohn voll gestellt. Sie waren mit der Jolle zu weit hinaus geraten und von einem Unwetter überrascht worden. Die Jolle war nach ein paar Tagen mit dem Bootsboden nach oben an Land getrieben. Mann und Sohn wurden zwei Wochen später gefunden. Das war vor 35 Jahren und Agnes hatte nie wieder geheiratet. Obwohl es nicht an Bewerbern gefehlt hatte, wie sie gerne betonte. Ja, eine ganze Reihe von Jahren hatte praktisch jeder Witwer im Fliederhaus vorgesprochen – und auch ein paar Junggesellen waren darunter gewesen.

»Unmittelbar nachdem das mit Anders und Mads passiert ist, habe ich oft daran gedacht ihnen zu folgen, aber dann habe ich mir gesagt: Agnes, habe ich gesagt, es ist dumm und überflüssig, sich für den Tod zu entscheiden, denn das einzig Gewisse ist, dass er sich für dich entscheiden wird.«

Karin hätte keine kompetentere Krisenhilfe bekommen können und hatte seitdem Agnes so oft besucht, wie es ihr möglich war. Agnes selbst verließ Skejø nur ungern. Sie meinte, dass sie in ihrem 78 Jahre langen Leben nur ein halbes dutzend Male drüben gewesen war. Zu einigen Gymnastiktreffen, um ein paar offizielle Papiere in Empfang zu nehmen, als sie Witwe wurde und zuletzt die Fahrt mit Jens Lyn, um Karin zu holen.

»Das hat gut getan«, sagte Karin und gab die Flasche mit dem selbst gebrannten Hagebuttenschnaps zurück.

Agnes hatte von ihrem Obstanbau gelebt und, bis sie in die Altenwohnung gezogen war und das Land verpachtet hatte, ihre Pension mit dem Straßenverkauf von Obst, Marmelade und Saft aufgebessert – sowie dem Schwarzverkauf der Produkte aus ihrem Hauswirtschaftsraum, in dem sie eine Destillationsanlage zum Selbstbrennen hatte. Jeden Dienstag in den ungeraden Wochen, wenn der Landpolizist auf die Insel kam und zwei Stunden Sprechstunde abhielt, wurde sie sorgfältig mit weißen Laken abgedeckt.

Ein Kreis dankbarer, hilfsbereiter Freunde fuhr Agnes regelmäßig zum Fliederhaus, damit sie ihre Kolben im Hauswirtschaftsraum weiter bedienen konnte.

Das war eins der unterhaltsamen Details, die Karin bedauerlicherweise nicht in ihre Artikel über das Inselleben aufnehmen konnte. Sie musste überhaupt vorsichtig sein, wenn sie auch weiterhin auf die Insel kommen wollte.

Diese kleine Episode mit Johanne in der Kirche. Ich gehe nicht davon aus, dass wir darüber etwas in der Zeitung lesen werden.«

Die Pfarrerin sprach sie beim Gedächtniskaffee an.

»Nein, nein, natürlich nicht«, antwortete Karin. Und dachte bei sich, dass es eigentlich recht lustig wäre. Sie hätte es als Einleitung für den Artikel über die schiefe Altersverteilung und die Entvölkerung der Insel nehmen können. Sie werden nach Hause zu Gott geschickt – einer nach dem anderen.

»Im Therapeutenkollektiv findet Mittwoch eine Veranstaltung statt. Ich werde über die Macht des Geistes sprechen. Ich denke, dass dort Stoff für Ihre Artikel zu holen ist«, sagte Anna Skov mit einer gewissen Geheimnistuerei in der Stimme.

Ja, ein richtiger Knüller wird das, dachte Karin und lächelte insgeheim. Laut sagte sie: »Ja, darüber würde ich schon gerne mehr hören. Leider habe ich keine Zeit zu kommen. Ich schreibe ja auch noch an einem Buch.«

»Über Hexen, nicht wahr? Wie spannend!«, sagte Anna Skov.

»Nicht so sehr über Hexen wie über die Hexenjagd, über ihren Hintergrund und ihre Elemente.«

»Dann dürfen sie die Medien nicht vergessen!«

»Das tue ich auch nicht«, antwortete Karin.

Viele kamen zu Karin, um sie zu bitten, nicht über die Episode in der Kirche zu schreiben.

Unter anderem die Leiterin und Krankenschwester Inger-Margrethe Jörgensen aus dem Seniorenservicecenter: »Ja, ich meine nur, dass es in meinen Augen nahezu unethisch wäre, so einen alten Menschen in der Zeitung bloßzustellen.«

Und Sune Kwium, der Sohn des verstorbenen Lehrers, der erzählte, dass er Ministerialdirektor in einem Amt in Kopenhagen war: »Wir sind froh, dass Vater endlich seinen Frieden gefunden hat. Zuletzt ging es ihm ziemlich schlecht, er hat sich sehr gequält und selbst gewünscht ... Ich meine, er war des Lebens müde, wie man so sagt. Wir möchten die Erinnerung an ihn gerne schützen. Sein Begräbnis soll nicht zu einer Anekdote gemacht werden.«

»Natürlich nicht«, antwortete Karin. Es schien ihr Jahrzehnte her zu sein, einem Mann mit einem so akkuraten Seitenscheitel begegnet zu sein.

Schließlich näherte sich auch die Pflegehelferin Britta Olsen Karin scheu von der Seite. Sie hatte in der Kirche neben ihr gesessen. Die Frau mittleren Alters bekam ein Stück Kranzkuchen in den falschen Hals und musste mit einem gewaltigen Hustenanfall kämpfen, bevor sie hervorbringen konnte: »Es wäre Johanne gegenüber nicht richtig, wenn Sie schreiben würden ...«

»Hören Sie auf. Glaubt ihr eigentlich alle, dass Journalisten bar jeden Taktgefühls sind?«

»Nein, Entschuldigung«, stammelte Britta und sah zu Boden. »Entschuldigung, ich wollte nur ...«

»Ist schon in Ordnung«, sagte Karin und sah mitfühlend auf die Kopfhaut der kleinen, unsicheren Frau hinunter, die so wenig Haare hatte, das da, wo die Dauerwelle das Haar in verschiedene Richtungen zog, kahle Stellen zu sehen waren.

»Ja, Entschuldigung«, sagte Britta und trottete zurück zu der Gruppe des Pflegepersonals.

Sie blieb ein wenig abseits von den Kollegen stehen, die keine Notiz von ihr nahmen, sondern mit gedämpften, dem Anlass entsprechenden Stimmen in ihrem Gespräch fortfuhren.

Karin fuhr Agnes nach Hause und half ihr in das elektrische Bett, von dem aus sie an die Fernbedienung für den Fernseher, ihre Zigarillos und den Pieper kam, mit dem sie das Personal des Centers erreichen konnte.

»Wie war Gustav Kwium eigentlich?«, fragte sie.

»Nun ja, ziemlich durchschnittlich«, antwortete die Tante mit der der Inselbewohner eigenen Diplomatie. Man hält den Mund und legt sich nicht mit den Menschen an, mit denen man zusammen isoliert ist.

»Wie fandest du ihn?«, versuchte Karin es noch einmal.

»Also, ganz unter uns, mein Fall war er nicht. Er war so selbstgerecht und penibel. Er hat Protokoll geführt und anderen Menschen Führungszeugnisse ausgestellt und Noten gegeben. Eine nachhängende Gewohnheit aus der Zeit, als er noch Lehrer war. So etwas mag ich ehrlich gesagt nicht.«

»Ich auch nicht«, sagte Karin und fügte, wie um den Tag zusammenzufassen, hinzu: »Johannes Auftritt in der Kirche war schon bemerkenswert, und nachher hat sie einen ganz fitten Eindruck gemacht.«

»Ich glaube, sie hat Recht«, sagte Agnes.

Karin sah die Tante verblüfft an.

»Also nicht damit, dass wir abgewählt werden wie bei »Robinson« im Fernsehen, aber ich glaube schon, dass irgendjemand Gustav Kwium auf den Weg geholfen hat. Doch das muss unter uns bleiben.«

»Aber Agnes, warum sollte jemand einen 86-jährigen Mann umbringen, der bereits im Sterben liegt?«

»Stimmt, darüber kann man sich schon wundern. Vielleicht hat er selbst darum gebeten. Aktive Sterbehilfe nennt man das, nicht wahr?«

»Du denkst an den Sohn?«

»Ja, oder an den Arzt oder die Pfarrerin oder die Krankenschwester oder eine der Helferinnen. An dem Tag, an dem er gestorben ist, herrschte ein reges Kommen und Gehen im Center. Der Pferdeschwanz-Guru unten von Sönderby war auch mit seiner Hokuspokus-Medizin da und der Sohn von Kaufmann Klausen, der das Zimmer seines Vaters, Arnold Klausen, geräumt hat. Er, also der Großvater, ist Bürgermeister gewesen. Das war damals, als Skejø noch eine selbständige Gemeinde war und ...«

Karin unterbrach sie:

»Ja, aber was lässt dich glauben, dass einer von ihnen Kwium umgebracht hat?«

»Man hört ja das eine oder andere. Es heißt, dass unsere Centerleiterin Inger-Margrethe – die auch Krankenschwester ist – sich gewundert hat, und Einar Bedemand, der Leichenbestatter, hat erzählt, dass Gustav Kwium seinen Tod vorausgesehen hat. An dem Morgen, an dessen Nachmittag er starb, hat er als Letztes in sein Protokoll geschrieben: Heute kommt die Strafe.«

Karin sah die Tante, die sich mit langsamen und vorsichtigen Bewegungen einen Zigarillo anzündete, forschend an. Sie stieß den Rauch aus und sagte: »Die Alten da drüben werden langsam nervös, denn das ist nicht das erste Mal, das so etwas passiert. Da ist auch noch Eigil Andersen, der Ende April gestorben ist. Er war erst 59, aber seit einigen Jahren hier, weil er eine Hirnblutung hatte und einseitig gelähmt war. Es wird behauptet, dass jemand ihm geholfen hat, seinen Plagen ein Ende zu bereiten, aber daran glaube ich nicht. Eigil wollte nicht sterben. Er mochte Vögel und Blumen.

Und vor ein paar Wochen ist Arnold Klausen gestorben. Stimmt, er war 91, aber gesund und fit für sein Alter, sodass eine kleine Erkältung ihn wohl kaum umbringen konnte. Man macht sich so seine Gedanken, weil es allmählich ein bisschen zu schnell geht ...«

»Hm«, sagte Karin in Ermangelung eines Besseren. »Denkst du, dass ihr es mit einem Pflegeheim-Fall zu tun habt, so wie 1997, als die 22 Patienten ums Leben kamen?«

»Ich denke an nichts Bestimmtes, aber man macht sich so seine Gedanken. Und Johanne ist nicht ganz so senil und verwirrt, wie sie hingestellt wird. Das wechselt.«

»Du glaubst also wirklich, dass Gustav Kwium auf die eine oder andere Weise umgebracht worden ist?«

Agnes nickte: »Aber darüber reden wir nicht, weil wir es nicht sicher wissen, nicht? Kannst du mir mal die Flasche reichen, bevor du gehst? Für mich ist das die reinste Medizin. Viel besser als diese ganzen Schlafmittelchen und Glückspillen, die sie uns verabreichen.

Die Robinson-Morde

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