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Mittwoch, 29. Mai

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Der Bischof von Ribe, der am 11. März 1637 die Stellungnahme der Experten zu Didrich Skraedders merkwürdigem Erbrochenen unterschrieb, war einer der vornehmsten und gelehrtesten Dänen der damaligen Zeit. Er gehörte zu den Vertrauten Christians IV. und war Lehrer von dessen ältestem Sohn, dem späteren Frederik III.

Nachdem er das Erbrochene studiert hatte, meinte der Bischof, dass nicht von einer »körperlichen Besessenheit« des Schreiners gesprochen werden konnte. Eine Teufelsaustreibung sollte deshalb nicht vorgenommen werden.

Stattdessen schlug der Bischof in seiner Stellungnahme vor, in den Kirchen Ribes zu beten, Gott möge die »Glieder des Satans« entlarven, die die Schuld an Anfall und Erbrechen des armen Schreiners trügen.

Der Bischof forderte auch die weltliche Obrigkeit auf – den Lehnsmann, den Stadtrat und das Gericht –, sich um die Gefangennahme der schuldigen Glieder des Satans zu bemühen.

Karin schaltete den Computer aus.

Sie hatte ihr Strukturproblem gelöst. Der Bericht über den Prozess gegen Maren Splids sollte sich in kleinen, illustrativen Blöcken durch die gesamte Streitschrift ziehen. In groben Zügen standen auch die Themen des Buches. Heute hatte sie sich mit der Rolle der Experten und der Elite bei der Hexenjagd beschäftigt. Im Allgemeinen ging man davon aus, dass es sich bei der Hexenjagd um ein Pöbelphänomen handelte, doch sie würde aufzeigen, wie diese von oben gesteuert wurde. Dokumentieren, dass es oft die ersten Männer und Frauen des Reiches waren, die die Stimmung anheizten. Die die so genannten Underdogs einander jagen ließen, um selbst die Beute in Frieden genießen zu können.

Sie spürte, dass sie das Thema langsam in den Griff bekam. Deshalb ärgerte es sie auch ein wenig, dass sie mit der Pfarrerin ein Treffen vereinbart hatte. Aber sie musste die Artikel für die Zeitung vom Tisch bekommen, um sich voll und ganz auf das Buch konzentrieren zu können. Und der Versuch der Pfarrerin, die »Neureligiösen« auf dem Markt der Geister und Gespenster auszustechen, bot eine amüsante Perspektive, dachte sie.

Ist das so zu verstehen, dass die vielen geistigen Strömungen, mit denen wir es heute zu tun haben, auch Auswirkungen auf die Staatskirche haben?«, fragte sie neutral, als sie der Gemeindepfarrerin Anna Skov gegenüber saß, die sich vor kurzem der Gruppe dänischer Staatskirchenpfarrer angeschlossen hatte, die den Exorzismus befürworteten.

»Wir glauben an den heiligen Geist, vergessen aber hin und wieder, dass es auch unheilige Geister gibt«, leitete die Pfarrerin ihre mit Bibelstellen gespickte Erklärung über Geister, Teufel und Dämonen ein.

Karin schaltete ihr Tonbandgerät ein. Sie ließ das Tonbandgerät zuhören und studierte stattdessen die Pfarrerin.

Anna Skov war eine sehr schöne Frau in den Vierzigern, langbeinig, gepflegt und modern gekleidet mit einer kreideweißen Baumwollhose mit leichtem Schlag und einem eng anliegenden hellblauen T-Shirt. Doch der viereckige Pfarrerinnen-Pagenschnitt, die entrückten, fast schon heiligen Augen und die weich modulierende, eindringliche Stimme verrieten ihren Beruf.

»Deshalb bin ich der Auffassung, dass die Staatskirche zu dem Bösen als Geistesmacht, das in Menschen oder deren Heimen Wohnung beziehen kann, Stellung nehmen muss«, sagte Anna Skov.

»Es heißt, dass das Heiler-Kollektiv am südlichen Ende der Insel sich mit Geistern beschäftigt?«, sagte Karin fragend.

»Ja, ich glaube schon, dass sie ein wenig mit so etwas spielen ...«

»Haben sie sich zu Konkurrenten der Kirche entwickelt?«

»Absolut nicht. Heute Abend machen wir eine gemeinsame Veranstaltung über die Macht der Geister. In gewisser Weise sind wir zu Verbündeten geworden ...«

»Verbündeten?«

»Ja, im Kampf gegen Satan und seine Jünger stehen wir auf derselben Seite. Sie sind auf die Insel gekommen, das wissen Sie wahrscheinlich?«

Karin glich einem großen Fragezeichen und die Pfarrerin erklärte mit ernster Stimme: »Die Satanisten. Sie haben vor einigen Monaten die alte Galerie in Sønderby gekauft.«

»Die Satanisten – sind die nicht nur ein religiöser Witz?«, fragte Karin.

»Nicht für die, die die Macht der Dunkelheit kennen«, antwortete die Pfarrerin.

»Was Sie nicht sagen. Ich bin mehrere Male an der Galerie vorbeigekommen und mir ist nichts aufgefallen«, sagte Karin.

»Sie haben sich in der örtlichen Gemeinschaft nicht zu erkennen gegeben, aber Sie finden sie im Internet«, antwortete die Pfarrerin.

Nun gut, Satanisten auf Skejø im Internet. Ein lustiger Aspekt, dachte die Journalistin.

»Und was wollen Sie als Pfarrerin der Staatskirche dagegen tun?«

»Ich werde immer wieder den Vater, den Sohn und den heiligen Geist anrufen. Etwas anderes kann ich nicht tun.«

»Ja, aber diese Menschen, die Satanisten. Was machen sie auf Skejø? Wovon leben sie?«

»Sie ist Studentin und er macht im Altenheim sauber. Die Gemeinde hat ihm die Arbeit zugewiesen«, antwortete Anna Skov.

Dann klingelte das Telefon und die Pfarrerin sprach lange mit einem Familienforscher, der auf der Insel nach Ahnen suchte. Sie schlug in Kirchenbüchern und Registern nach, während Karin ihr Glas mit Holunderblütensaft leerte und in Gedanken einer ihrer Lieblingsthesen nachhing: dass Menschen ganz schön verrückt sind.

»Stammen Sie hier von der Insel?«, fragte sie später die Pfarrerin.

»Meine Mutter war von hier, aber ich bin in Kopenhagen aufgewachsen.« In der Stimme der Pfarrerin schwang ein deutlich abweisender Ton mit, aber Karin überhörte ihn.

»Und wann sind Sie zurückgekommen?«

»Vor drei Jahren als Pfarrerin.«

»Haben Sie noch an anderen Orten als Pfarrerin gearbeitet?«

»Nein, ich habe spät mit der Ausbildung begonnen. Ich war einige Jahre im Ausland, aber ich verstehe nicht ganz, was die Leser der Zeitung meine persönliche Geschichte angeht«, sagte Anna Skov.

»Natürlich, Sie haben recht«, antworte Karin und wechselte das Thema:

»Sie haben mich zu der Veranstaltung über die Macht der Geister eingeladen, die heute Abend stattfindet. Ich komme gern.«

»Das freut mich, aber machen Sie es nicht zu poppig. Kann ich den Artikel lesen, bevor er gedruckt wird?«

»Sie können die Stellen lesen, wo ich Sie zitiere.«

Karin war sehr an der Meinung der Pfarrerin zu Johannes Auftritt bei dem Begräbnis interessiert und versuchte vorsichtig, sich dem Thema zu nähern: »Soweit ich verstanden habe, gehörte der Mann, der am Montag beerdigt wurde, zu den großen, gestandenen Persönlichkeiten der Insel?«

Die Pfarrerin saß still da und Karin hatte das Gefühl, dass sie weit weg war.

»Ich meine, er hat bestimmt viele Generationen von Kindern geprägt«, fuhr Karin fort.

»Ja, so sagt man. Lehrer zu sein ist eine ernste Angelegenheit«, sagte die Pfarrerin geistesabwesend und begann in dem Kirchenbuch zu blättern, das sie in Zusammenhang mit der Anfrage des Familienforschers hervorgeholt hatte.

»War er ein guter Lehrer?«, fragte Karin.

»Über so etwas sind die Meinungen wohl immer geteilt«, antwortete die Pfarrerin und erhob sich, um deutlich zu machen, dass die Unterhaltung für sie beendet war.

»Ja, dann freue ich mich, Sie heute Abend zu sehen«, sagte sie dennoch freundlich, als sie gemeinsam durch den großen Pfarrgarten gingen.

Eine enorme Neugier war vor allem anderen die Triebkraft in Karin Sommers journalistischer Karriere gewesen. Sie konnte nur schwer mit offenen Fragen leben. Und gerade jetzt türmten sich eine ganze Menge davon vor ihr auf.

Warum wollte die Pfarrerin nicht über sich reden? Wer und was waren die Satanisten?

Auf die letzte Frage fand sie unmittelbar eine Antwort, als sie nach Hause kam und sich in die Homepage der Landesvereinigung der Satanisten einklickte, wo es Links zu den lokalen Satanisten gab. Auf der Homepage stellten sie ihre satanische Philosophie vor und luden alle Interessierten ein, eine E-Mail zu schicken oder zu Besuch zu kommen. Ihr übergeordnetes Ziel war die Anerkennung des Satanismus als Religion, wie aus dem Text hervorging.

Karin lächelte und freute sich über die Offenheit der Satanisten. Es dürfte amüsant werden, mit ihnen zu reden.

Mikael mit dem satanischen Namen Wolf baute gerade das alte Hühnerhaus im Hintergarten der Galerie zu einem Tempel für Luzifer um, während seine Freundin Lone mit dem satanischen Namen Belia ihn von einem Gartenstuhl aus, in dem sie saß und der vier Monate alten Lucy die Brust gab, verliebt ansah.

Bisher hatten sie ihre Mission nur über das Internet verbreitet, aber sie hatten Pläne für einen direkteren Kontakt zu den suchenden Seelen. Deshalb brauchten sie einen Tempel. Und der sollte möglichst bis zum Wochenende fertig sein, wo sie vornehmen Besuch von der Mutterkirche erwarteten.

»Haben wir noch mehr Reinigungsmittel? Der Hühnerschiss sitzt verdammt fest«, sagte Wolf.

»Ich glaube nicht. Meinst du nicht, dass es mit einem Schaber und Sandpapier besser geht?«, schlug Belia vor.

»Vielleicht. Ich habe für innen schwarze Farbe gekauft.«

»Und ich habe den Schädel aus Nepal gefunden und außerdem haben wir noch etwas Samt und schwarze Kerzen für die Ausschmückung«, sagte sie.

»Es wäre schön, einen Sarg oder ein Teil von einem Sarg im Tempel zu haben«, sagte er.

Wolf, Belia und die kleine Lucy sahen einer gewöhnlichen, jungen Familie zum Verwechseln ähnlich, wie sie dort saß und dem Kind unter dem Apfelbaum die Brust gab, während er daran arbeitete, den Hühnerstall in Stand zu setzen.

Nichts desto trotz hatten sie ihr Leben der Ausbreitung des Satanismus geweiht.

»Wir töten keine Kinder und wir schänden keine Kirchen. Aber wir haben uns von dem Joch des Christentums befreit, um dem Gott in uns zu dienen«, leitete Wolf seine Predigt im Internet ein, wo er auch als Webmaster für die Landesvereinigung der Satanisten fungierte. Eine unbezahlte Arbeit, die seine ganze Freizeit in Anspruch nahm.

Wolf war ein schöner 31-jähriger Mann mit empfindsamen Augen in einem markanten, viereckigen Gesicht. Er war in einem der Pfingstgemeinde angehörenden Haus aufgewachsen und seine Kindheit und Jugend waren geprägt von starkem Glauben, Sündenbewusstsein und Schuldgefühlen.

Von seinem fünften Lebensjahr an war ihm bewusst, dass er eine sündige Natur hatte, die er mit all seiner geistigen Energie bekämpfen musste. Als Kind und Jugendlicher lag er zusammen mit den Erwachsenen der Gemeinde auf den Knien und weinte und bat Gott um Hilfe, aber er wurde nicht erhört. Tag und Nacht riss und zerrte die Sünde an ihm und der Heilige Geist, Gottes Belohnung für die Auserwählten, wollte nicht in ihm Wohnung beziehen. Er hörte nicht einmal Gottes Stimme.

Mit Anfang zwanzig gab er auf. Hurte, trank und feierte in dem sicheren Bewusstsein, dass die Hölle ihn erwartete – bis er das Licht in Gestalt der satanischen Philosophie sah.

Zu einem Zeitpunkt, als es ihm so schlecht ging, dass er auch schnurstracks in die Hölle gegangen wäre, nahm ein Freund ihn mit in die Kirche des Satans. Doch das Gegenteil passierte. Die Hölle hörte auf zu existieren.

»Du bist kein Sünder. Du bist ein Mensch mit Bedürfnissen und Trieben, die gesund und nötig sind«, hatte die Predigerin zu ihm gesagt, während sie in der Ritualkammer den Reißverschluss seiner Hose herunterzog. Sie hatten sich in einem Sarg zu Heavymetal-Klängen geliebt. Und anschließend hatte er sich gereinigt und erleichtert gefühlt. Die große Befreiung vom christlichen Joch hatte stattgefunden.

In den darauf folgenden Jahren hatte er sich in die satanische Philosophie vertieft und große Arbeit für deren Ausbreitung und Anerkennung geleistet. Dabei hatte er auch Belia kennen gelernt, die vor zwei Jahren noch Lone hieß. Sie studierte Religionsgeschichte und sollte eine Arbeit über den Satanismus schreiben. An einem Sommerabend war sie in die Kirche des Satans gekommen. Sie hatte langes, blondes Haar und ein kleines, herzförmiges Gesicht mit Sommersprossen.

»Dein Name ist Belia«, hatte Wolf gesagt, behutsam ihre Hand genommen und sie in das Allerhelligste geführt, wo er ihr zuflüsterte, dass es keine Sünde gab und man sich nicht von der kleinbürgerlichen Moral bestimmen lassen durfte.

Letzteres – die kleinbürgerliche Moral – war Lones Kreuz. Was man darf und nicht darf und was die Nachbarn denken und nicht denken, waren in der kleinen Stadt vor Aarhus die verhaltensmäßigen Parameter ihrer Kindheit und Jugend gewesen. Und zu ihrer eigenen Irritation war es ihr schwer gefallen, sich davon zu befreien. Immer war da eine innere Stimme, die fragte: Darf man das?

»Ja, man darf«, flüsterte Wolf und ließ die Hand über ihren Rücken gleiten. »Das, was sich gut anfühlt, ist auch gut und richtig.«

So einfach war das. Belia und Wolf folgten ihren satanischen Gelüsten. Im ersten Monat standen sie nur auf, um Essen zu kaufen, da es wehtat, wenn ihre Körper getrennt waren.

Der Satanismus hatte sie befreit und zusammengeführt und sie waren sich einig, dass die satanische Botschaft verbreitet werden musste. Deshalb hatte Wolf mit seiner Net-Mission begonnen und die ließ sich von Skejø aus ebenso gut betreiben wie von Aarhus oder Kopenhagen. Dass die Wahl auf Skejø gefallen war, war ein Zufall. Sie wollten an einem schönen und billigen Ort wohnen und dann hatte Wolf im Internet die frühere Galerie auf der Insel entdeckt.

Belia schrieb an ihrer Diplomarbeit und passte auf Lucy auf. Wolf putzte tagsüber im Altenheim. Abends und nachts saß er am Computer, gestaltete die satanische Homepage und chattete mit den Besuchern der Seite. Die meisten waren nur neugierig, aber er hatte auch Kontakt zu drei oder vier wirklich Interessierten. Deshalb musste der Tempel fertig werden. Räume und Rituale waren wichtige Elemente der Religionsausübung.

Versuchen Sie, hier auf der Insel eine Gemeinde zu gründen?«, fragte Karin, die von den jungen Satanisten freundlich empfangen worden war.

»Nein, wir missionieren nicht persönlich. Wir bedienen uns des Internets und wenn jemand Interesse hat, kann er Kontakt zu uns aufnehmen. Von den Ortsansässigen hat sich bislang niemand an uns gewandt«, erklärte Wolf.

»Wie hat die Inselgemeinschaft sie aufgenommen?«

»Anfangs waren alle sehr freundlich und offen, aber jetzt hat sich das Gerücht wohl verbreitet. Und die meisten Menschen glauben, dass Satanisten das Böse anbeten und grausige Dinge tun. Aber das stimmt absolut nicht ...«

»Was stimmt denn?«, fragte Karin.

»Wir haben eine Philosophie, in deren Zentrum der Mensch, der physische Mensch steht. Wir betrachten den Menschen nicht als Sünder, sondern als wertvolles Individuum mit Bedürfnissen und Trieben, die nicht unterdrückt werden dürfen. Als Satanisten leben wir in Übereinstimmung mit unseren Lüsten, Trieben und Interessen und haben deswegen keine Schuldgefühle.«

»Das klingt nach etwas, das andere Selbstverwirklichung nennen«, sagte Karin und fuhr fort: »Aber die Särge, die Skelette und die Rituale, wozu sollen die gut sein?«

»Zur Reinigung und Befreiung. In der Ritualkammer können wir uns von Angst, Schuldgefühlen, Hass, Sorgen und verdrängten Aggressionen befreien.«

»Sehr praktisch«, entfuhr es Karin, aber Wolf und Belia entging die Ironie.

»Genau, da haben Sie Recht. Der Satanismus ist im Gegensatz zu all den anderen spirituellen Religionen eine praktische und materialistische Religion«, sagte Belia.

»Wir vertreten die Auffassung, dass der Mensch von Grund auf egoistisch ist und sein eigenes Vergnügen sucht und dass das dem Menschen nicht vorgeworfen werden darf«, ergänzte Wolf.

»Ich glaube, ich habe verstanden«, sagte Karin, die das kleine Satanistenkind, Lucy, auf dem Arm hielt, während die Mutter einige Bücher und Schriften holte, die sie Karin zu lesen empfehlen wollte.

»Gefällt Ihnen die Arbeit im Altenheim?«, wechselte Karin das Thema.

»Das ist nur eine Arbeit. Sie ist okay«, antwortete Wolf.

»Haben Sie von dem Begräbnis am Montag gehört?«

Das hatte Wolf, aber Belia nicht und Karin erzählte.

»Und dann rief Johanne: ›Er ist nicht zu Gott heimgerufen worden. Der Inselrat hat ihn abgewählt‹ «, endete sie.

Wolf sah nachdenklich aus.

»Kannten Sie Gustav Kwium?«, fragte Karin.

»Ja, er war ein zorniger, alter Mann«, antwortete Wolf. »Ich habe an dem Tag, an dem er starb, bei ihm Fenster geputzt.«

»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

»Nein, nichts, bis auf dass es am frühen Nachmittag zuging wie in einem Taubenschlag. Er war der fordernde Typ, der oft nach dem Pflegepersonal klingelte. Mich hat er auch angeraunzt, wenn es ihm in den Ecken nicht sauber genug war. Und der Sohn fing auch an sich einzumischen. So ein Stockfisch aus Kopenhagen, der ungeduldig auf sein Erbe wartete.«

»Warum glauben Sie das?«

»Weil er mich bei unserer ersten Begegnung für einen Arzt gehalten hat. Er hat mir erklärt, dass sein Vater starke Schmerzen hat und Morphium braucht. Ich weiß selbst, dass Morphium für einen alten Menschen mit einem schwachen Herzen gefährlich ist und Kwium hatte nicht über Schmerzen geklagt.«

»Wer hat ihn an seinem Todestag sonst noch besucht?«

»Die Pfarrerin, aber sie macht bei allen die Runde.«

»Es gibt Gerüchte, dass im Altenheim merkwürdige Dinge vor sich gehen. Haben Sie darüber etwas gehört?«, fragte Karin.

»Nein, wir sind wohl die Einzigen, denen nie irgendwelche Gerüchte zu Ohren kommen, weil die Leute so eine verdammte Angst vor uns haben, aber ich glaube, dass hier auf der Insel viele merkwürdige Dinge passieren. Wo sonst schleicht sich ein Pfarrer mitten in der Nacht zu einer Leiche ins Leichenhaus?«

»Wie bitte?«

»Ich sage, dass sich die Gemeindepfarrerin am Montag gegen 24 Uhr zu der Leiche von Gustav Kwium geschlichen hat, die im Leichenhaus aufgebahrt war.«

»Aha, und woher wissen Sie das?«

»Ich bin vorbeigekommen und habe es gesehen.«

»An so einem Ort kommt man doch nicht so einfach nachts vorbei«, sagte Karin zögernd und dachte an die einsame Lage unten am Wasser.

»Ja, aber ich bin es eben. Und wenn Sie glauben, dass wir Kirchenschänder sind oder Grabsteine umstoßen, dann irren Sie sich.«

»Ich habe keinen Grund, das zu glauben«, antwortete Karin.

Nein, Kirchenschänder waren sie wohl kaum, eher rührende, verwirrte, junge Menschen, die mitten in einem verspäteten pubertären Aufruhr gegen den großen, strengen Vater steckten, dachte Karin, während sie weit ausschritt, um rechtzeitig zu der Veranstaltung über die Macht der Geister zu kommen, die im Dorfgemeinschaftshaus stattfinden sollte.

Die Pfarrerin war also in der Nacht vor dem Begräbnis im Leichenhaus bei der Leiche von Gustav Kwium gewesen – was zum Teufel hatte das nun wieder zu bedeuten?

»Du hättest doch einfach sagen können, wie es gewesen ist. Sie hat einen sehr netten Eindruck gemacht«, sagte Belia.

»Nein, wenn es herauskommt, werden wir im Meer gesteinigt«, sagte Wolf und küsste sie.

»Vielleicht sollten wir doch nicht in so einem kleinen Ort wohnen, wo die Leute uns verabscheuen«, sagte sie.

»Das geht vorüber. Alle Menschen mit neuen Ideen sind Hohn und Verdächtigungen ausgesetzt. Das macht uns nur stärker«, antwortete Wolf.

Bei seltenen Gelegenheiten konnte es vorkommen, dass Wolf auf merkwürdige Weise von dem Christentum bestürmt wurde, das so schwer auf seiner Kindheit und Jugend gelastet hatte. Und wenn sich die christlichen Vorstellungen einschlichen, konnten ihn Zweifel an der allein gültigen Wahrheit des Satanismus befallen. Er hatte via Internet bei einem satanischen hohen Priester in den USA um Rat gesucht, was zu tun war, wenn ihn diese Anfechtungen befielen.

Der hohe Priester hatte ein Ritual als Gegengift gegen das Christentum empfohlen und zu diesem Ritual benötigte man geweihte Friedhofserde.

Die Friedhofserde musste um Mitternacht bei Vollmond geholt und in eine Opferschale in der Ritualkammer gefüllt werden. Dann musste die vom Christentum infizierte Person auf die Erde in der Schale urinieren. Wolf war auf dem Friedhof gewesen, um eine kleine Schaufel voll Erde zu genau diesem Zweck zu holen und hatte sich hinter einem großen Grabstein verstecken müssen, als die Pfarrerin angeradelt kam und sich ins Leichenhaus schlich, wo die Leiche von Gustav Kwium lag.

Die Bewohner von Skejø konnten nur raten, was für ein Verhältnis den Heiler-Franz mit seinen drei Frauen verband. Und das hatten sie getan. Einige meinten, ihn in einer intimen Situation mit der einen gesehen zu haben, während andere ihn mit der zweiten oder der dritten gesehen haben wollten. Vor allem in der ersten Zeit erzählte man sich viele Geschichten über Sexorgien auf dem Blomme-Hof. Und die Männer rätselten mit schlecht verborgenem Neid, was an diesem kleinen, kurzbeinigen Mann mit der Halbglatze so attraktiv sein mochte, dass gleich drei Frauen sich ihm zur Verfügung stellten.

Im Grunde genommen wusste niemand, wie es sich verhielt und mit den Jahren hatte die Sache an Interesse verloren. Die Vier wurden als »die Alternativen« akzeptiert, ja, sie waren sogar recht wohlgelitten, weil sie freundliche Menschen waren, die Unterhaltung und frischen Wind auf die Insel brachten und aktiv am Inselleben teilnahmen.

Sie wohnten am südlichen Ende der Insel, wo sie jetzt das »Blomme-Hof Therapeutenkollektiv« betrieben.

So war es nicht immer gewesen. Vor zehn Jahren waren sie aus Kopenhagen gekommen und hatten die größte Obstplantage der Insel gekauft, um sich als Obstbauer niederzulassen. Es hieß, dass die Frauen das Geld hatten und Franz die Ideen.

Bereits in der ersten Woche beriefen die vier Zugezogenen alle Obstanbauer Skejøs zu einem Treffen ein, auf dem sie vorschlugen, die gesamte Produktion der Insel auf ökologischen Obstanbau umzustellen. Franz hatte ein kleines Handbuch über ökologisch angebaute Äpfel mitgebracht, aus dem er laut vorlas.

Die Inselbewohner hörten ihm freundlich und interessiert zu, gingen jedoch nach Hause und bauten ihr Obst weiter so an, wie sie es seit Generationen getan hatten. Franz folgte den Ratschlägen aus seinem Handbuch und nach drei Jahren waren er und die drei Frauen pleite, weil Krankheiten und Ungeziefer ihre große Plantage befielen und sie praktisch nichts über Obstanbau wussten. Angeblich hatten sie vier Millionen Kronen verloren.

Es war ein netter Zug der Inselbewohner, dass sie sich nicht an dem Misserfolg der verrückten Kopenhagener weideten. Ganz im Gegenteil, sie unterstützten sie in vieler Hinsicht in der Krise und man kam überein, Franz und die Frauen auf dem Hof wohnen zu lassen, während die Plantage verkauft wurde.

Zum Glück zeigte es sich, dass die vier sowohl über unterschiedliche Begabungen als auch über interessante ausländische Diplome verfügten. Franz zum Beispiel war ein in Australien ausgebildeter Psychotherapeut und die Frauen hatten Diplome in Fußreflexzonen-Therapie, Schall-Therapie, Numerologie und einigem anderen. Und sie verstanden es, der Entwicklung auf dem alternativen Markt zu folgen. Als Geisterbeschwörungen in Mode kamen, reiste Franz nach Berlin und machte einen Schnellkurs bei einem der führenden europäischen Geisterbeschwörer, der feststellte, dass Franz ein ausgezeichnetes Medium war. Jetzt besaß er ein Zertifikat, das ihm bescheinigte, Kontakt zu den Geistern mehrerer berühmter verstorbener Deutscher gehabt zu haben.

Nach einer dänischen Fernsehserie über Geister, zeigten die luftigen Phänomene sich auch auf Skejø und Franz hatte einige Male ausrücken müssen, um Gespenster aus alten, mit Stroh gedeckten Fachwerkhöfen zu vertreiben.

Die Initiative zu der Veranstaltung über die »Macht der Geister« im Dorfgemeinschaftshaus war von Franz ausgegangen und er war froh, dass die Gemeindepfarrerin sich auch bereit erklärt hatte zu sprechen, weil das der Veranstaltung einen öffentlichen Anstrich gab. Er würde ihr die erste halbe Stunde überlassen, dann wollte er selbst über seine Erfahrungen mit Geistern berichten.

Den Höhepunkt des Abends sollte eine Seance bilden, wo er versuchen wollte, mit dem verstorbenen Gustav Kwium in Kontakt zu treten, da das hässliche Gerücht umging, dass der alte Lehrer keines natürlichen Todes gestorben war. Es war schon unheimlich, dass im Altenheim Satanisten beschäftigt wurden, hatte der Sohn des Verstorbenen, Sune Kwium, zu Franz gesagt, und sie hatten ein Abkommen getroffen.

Karin Sommer versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, die aus dem Mund der Gemeindepfarrerin kamen und schrieb zum Schein etwas in ihren Block. Aber ihre Gedanken gingen immer wieder auf Reisen, weil das Sammelsurium aus Bibelstellen, die die Pfarrerin zitierte und erklärte, weder Hand noch Fuß hatte.

Sie begann sich zu ärgern, dass sie einen Abend auf diesen Geisterschwachsinn verschwendete, statt an ihrem Buch zu arbeiten, aber schließlich kam Anna Skov zum Ende, woraufhin die Leute höflich zehn Sekunden lang klatschten und keine Fragen hatten.

Dann betrat der kleine, charismatische Mann, der Heiler-Franz, das Rednerpult. Er hatte eine wasoben-fehlt-muss-unten-ersetzt-werden-Frisur, einen kahlen Schädel mit einem Ring langen Haars, das in einem Pferdeschwanz gebündelt war, und seine ganze Person strahlte Energie aus.

Er erzählte begeistert, wie Deutschlands prominenteste Medien bei einer geschlossenen Seance in Berlin den Atem angehalten hatten, während er – Franz – in Kontakt mit dem Geist des verstorbenen Staatsmannes Willy Brandt getreten war. Der Geist hatte Dinge enthüllt, die so privat waren, dass Franz sie auf Grund seiner Berufsethik hier auf der Veranstaltung nicht erwähnen mochte, doch war die Richtigkeit der Informationen des Geistes von Leuten aus Brandts engstem Kreis bestätigt worden!

Wirkungsvolle Pause. –

Franz fuhr fort, indem er über weitere seiner Geisterheldentaten im Ausland berichtete, und auch auf Skejø hatte er ebenfalls erfolgreich einige Wohnungen von Höllenplagen befreit.

»Ich weiß nicht, woher die Fähigkeit kommt oder warum gerade mir diese Gabe gegeben wurde«, schloss er bescheiden und bekam erheblich mehr Applaus als die Pfarrerin.

Fragen?

Ja, es gab Fragen, und viele wollten das Gehörte kommentieren.

»Und Sie, Sune Kwium?«

»Ich möchte gerne mit meinem Vater sprechen«, sagte der Mann mit dem akkurat gescheitelten Haar.

Der Heiler-Franz sah nachdenklich aus:

»Das geht nicht einfach so auf Bestellung.«

»Können Sie es nicht wenigstens versuchen?«

»Das erfordert Konzentration und Kraft. Vielleicht gelingt es auch nicht.«

»Ein Versuch kann doch nicht schaden«, insistierte Sune Kwium.

»Wie viele von Ihnen sind der Meinung, dass ich hier und jetzt versuchen soll, Kontakt zu der Welt der Geister aufzunehmen?«, fragte Franz in den Saal.

Ungefähr die Hälfte zeigte auf.

»Ich will es gerne versuchen, doch diejenigen, die sich jetzt nicht darauf konzentrieren können, werden freundlichst gebeten, den Raum zu verlassen – 20 Minuten Pause für die, die nicht teilnehmen wollen.«

Nur eine Person stand auf, und das war die Pfarrerin.

Sie flüsterte Karin zu: »Ich möchte Sie bitten, sich zu notieren, dass ich den Raum während der spiritistischen Seance verlassen habe.«

Karin nickte. Mehrere Pfarrer der Staatskirche hatten wegen ihres Engagements auf dem spiritistischen Markt Ärger mit ihren Bischöfen bekommen.

Karin blickte in das ebenmäßig schöne, aber irgendwie ausdruckslose Gesicht der Pfarrerin. Was war ihr Geheimnis? Was tat sie mitten in der Nacht im Leichenhaus?

Kurz darauf nahm Einar, der Leichenbestatter, den Platz neben Karin ein, den die Pfarrerin freigemacht hatte.

»Das gibt Stoff für die Inselrevue«, flüsterte er mit einem breiten und erwartungsvollen Lächeln.

Karin lächelte zurück.

»Ist hier wer? Ist hier wer? Gustav Kwium, dein Sohn möchte in Kontakt mit dir treten! Bist du da? Ist hier wer?«

Der Heiler-Franz saß mitten im Raum auf einem Hocker und rief den Geist. Er saß vornüber gebeugt, die Ellenbogen auf den Knien und den Kopf in den Händen. Seine Augen waren in tiefer Konzentration geschlossen und das Publikum war der Aufforderung nachgekommen, einander bei den Händen zu fassen und sich auf den Kontakt zu der Welt der Geister zu konzentrieren.

»Ja? Du bist da? Du bist zornig? Warum bist du zornig? Ja, wir wissen, dass du in einem großen, roten Haus mit vielen Menschen gewohnt hast. Möchtest du etwas zu deinem Sohn sagen? Du sagst, dass du jetzt Frieden hast. Du sagst, dass du in dem roten Haus nicht glücklich warst. Du sagst, dass die Brut des Satans in dem Haus Wohnung bezogen hat. Du sagst, dass ein böser Mensch dich verletzt hat. Du sagst, dass es der Sohn des Satans war? Bist du noch da? Bist du da? Komm zurück zu uns! Da bist du wieder! Du sagst, dass du deinen Sohn liebst. Du bedankst dich bei deinem Sohn.«

Von einer der hintersten Stuhlreihen war Krach zu hören. Er kam von Britta, der Pflegehelferin, die in Ohnmacht gefallen war. Karin registrierte, dass man sie liegen ließ – ein wenig zu lange. Einige der neben ihr Sitzenden begnügten sich tatsächlich damit, irritiert auf den Boden zu sehen.

»So helft ihr doch«, rief Einar, der Leichenbestatter, und sprang auf.

Zwei Frauen sahen sich in stummer Verhandlung an, wer von ihnen sich hinunterbeugen sollte und taten es dann gleichzeitig. Britta wurde in eine sitzende Position gebracht und murmelte etwas Unverständliches. Wenig später war sie wieder so klar, dass Einar sie nach Hause fahren konnte. »Entschuldigung, nur eine Unpässlichkeit, Entschuldigung« wiederholte sie viele Male beim Verlassen des Dorfgemeinschaftshauses.

Die Ohnmacht hatte die Seancestimmung zerstört und der Heiler-Franz kehrte langsam in die Welt der Lebenden zurück. Er war leicht benebelt, aber das sei ganz normal, wenn man auf halbem Weg ins Reich der Geister gewesen sei, erklärte er.

Die Leute standen in dem Saal in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen: »Tja, tja, was soll man davon halten?«

»Irgendwann einmal konnte man sich auch kein Handy vorstellen.«

»Warum sollte nicht etwas dran sein?«

»Ein Art Energie, die zurückbleibt, wenn man tot ist.«

»Der Sohn des Satans, das kann doch nur der junge Mann aus der Galerie sein. Hast du seine Internetseite gesehen?«

»Irgendwo haben sie auch Menschenblut getrunken.«

»Hast du nicht Rosemary’s Baby gesehen?«

»In Deutschland hat es einen großen Mordprozess gegen Satanisten gegeben.«

»Aber sie haben Schwierigkeiten, Leute zu finden, die im Altenheim putzen.«

Sune Kwium steuerte direkt auf die Journalistin Karin Sommer zu: »Es ist ein Skandal, dass sie in einem Altenheim einen Satanisten beschäftigen, da dürfen Sie mich gerne zitieren. Sie schreiben doch darüber?«

»Ich glaube nicht. Er putzt dort nur und es ist nicht verboten, Satanist zu sein.«

»Aber Sie haben doch selbst gehört, dass er meinen Vater schlecht behandelt hat!«

»Wir zitieren keine Geister in der Zeitung«, antwortete Karin.

»Dann gehe ich zum ›Ekstra Bladet‹!«, sagte Sune Kwium.

»Ja, tun Sie das«, antwortete Karin, der Sune Kwium, ohne dass es einen spezieller Grund dafür gab, unsympathisch war. Irgendwo blinkte eine berufliche Warnlampe auf. Die Zeiten hatten sich geändert und der Journalismus mit ihnen. Ihr Redaktionsleiter konnte ruhig stinksauer werden, wenn das »Ekstra Bladet« eine Lokalstory über einen Geist brachte, der einen satanischen Putzmann beschuldigte, einem alten Menschen Leid zugefügt zu haben. Nein, beschloss sie, das war zu fantastisch. Das »Ekstra Bladet« konnte die Story ja bringen, wenn sie wollten.

Auf dem Nachhauseweg versuchte sie trotzdem, sich eine Verteidigungsstrategie zurechtzulegen:

»Hast du die Titelseite des ›Ekstra Bladet‹ gesehen, Karin? Warum zum Teufel ist uns die Geschichte durch die Lappen gegangen, obwohl du da draußen warst? Du hättest uns zumindest einen Tipp geben können«, würde Adam Lorentzen bei seinem Anruf sagen.

»Ich zitiere keine Geister als Quellen!«, würde sie antworten.

»Selbst die Polizei zieht hin und wieder hellsichtige Personen zu Rate und du weißt, wie beliebt diese Geistersachen zur Zeit sind. Die Leute sind wie besessen davon. Das ist verdammt noch mal eine gute Geschichte«, würde Adam insistieren.

»Der Meinung bin ich nicht.«

»Gut, dann setze ich einen anderen darauf an. Ich denke nur, wenn wir dir während deines Urlaubs schon das volle Gehalt zahlen, dann könntest du wenigstens ...«

Ja, genau so würde die Unterhaltung ablaufen und sie würde wieder einmal als eine alte Querulantin mit ziemlich antiquierten Berufsvorstellungen dastehen. Eine affektierte Ziege, die wie ein rohes Ei behandelt werden musste und die die harten Wettbewerbsbedingungen nicht begriffen hatte, denen die Medien heutzutage unterlagen.

Sie zählte an den Fingern ab. In vier Jahren konnte sie sich mit dem niedrigsten Satz pensionieren lassen oder in sechs mit dem mittleren. Wartete sie zehn Jahre, würde ihr Alter goldener sein, aber sie riskierte, an Stress und Wut zu sterben, bevor die Pension jemals zur Auszahlung gelangte.

»Geist beschuldigt Satanisten« – nein, verdammt noch mal, nein, sie würde die Geschichte nicht schreiben.

Zuhause im Fliederhaus überfielen sie Einsamkeitsgefühle und die Sehnsucht nach einer starken Schulter, sodass sie trotz der späten Stunde ihre Kollegin und Freundin Birgitte anrief.

»Ob ich mich langweile? Nee, hier gibt es eine Pfarrerin, die sich um Mitternacht ins Leichenhaus schleicht und ein Satanistenpaar, das im Hühnerhaus einen Tempel für Luzifer baut und einen Geist, der dieses Paar der Grausamkeit beschuldigt und eine Frau, die sich sterilisieren lassen hat, nachdem sie sich im Spiegel gesehen hat und einen Geisterbeschwörer mit drei Frauen und eine alte Dame, die sagt, dass die Leute im Altenheim umgebracht werden, einer nach dem anderen, und ...«

Birgitte lachte schallend.

»Du spinnst!«

»Ich übertreibe nicht im Geringsten!«

»Nein, aber du hast einen ausgeprägten Sinn für das Bizarre.«

»Ich bin offen – und ziehe offenbar Verrückte an.«

»Lass dich in nichts Unangenehmes hineinziehen.«

»Das tue ich nicht. Und mit dem Buch geht es vorwärts.«

Das nette Gespräch und das Lachen hatten ihr gut getan. Sie schenkte sich einen großen Calvados von Agnes’ bestem ein, ging ins Bett und fand einen TV-Kanal mit einem erträglichen Liebesfilm. Liebe, mein Gott, war das lange her.

Sie und Thomas hatten nie über Liebe gesprochen. Es hatte spürbar in der Luft gelegen, dass ihr Verhältnis kameradschaftlicher Art war – eine Bürogemeinschaft, die ein heimliches, pikantes Element bekommen hatte. Und sie hatte ihn nie mit den Gefühlen belästigt, die sich unvermeidlich eingestellt hatten. Wären sie gleichaltrig und ihr Verhältnis ausgewogener gewesen, hätte sie die Beziehung schon durch ein scheinbar beiläufiges: »Du, ich könnte mir verdammt gut vorstellen, mich in dich zu verlieben ...«, abgecheckt.

Doch dann passierten all die furchtbaren Dinge, bei denen sie ihre nächsten Verwandten verlor, und kurz darauf hatte Thomas sein Stipendium für den USA-Aufenthalt bekommen. Sie schrieben einander lustige Briefe und berufsbezogene Briefe. Nicht ein Wort über ihre Beziehung, über Sex oder Liebe. Und es war mindestens einen Monat her, seit er zuletzt geschrieben hatte.

»Seufz«, sagte sie laut, als der Held und die Heldin sich voller Leidenschaft die Kleider vom Leib rissen.

Vielleicht sollte sie Thomas morgen eine lustige und unterhaltsame Mail über ihre Erlebnisse auf Skejø schicken.

Nein, sollte sie nicht. Sie brauchte ihre Energie für das Buch und die paar Interviews, die ihr noch fehlten, um die Artikel für die »Sjaellandsposten« zu schreiben. Und morgen Abend musste sie Agnes abholen und zu einer Veranstaltung des Pensionärvereins bringen.

»Forget it!«, murmelte sie, bevor sie einschlief.

Die Robinson-Morde

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