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Dienstag, 28. Mai

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Die grundlegende Angst vor Not, Unglück, Leid und Tod bildet die Basis der Hexenjagd. Kann die Angst auf einzelne Personen oder Personengruppen gelenkt werden, lässt sie sich auch bekämpfen, indem man die betreffenden Menschen bekämpft.

Nein. Karin löschte den Text. Er war als Einleitung unbrauchbar. Vielleicht sollte sie besser einen Beispielsfall nehmen. Sie nippte an dem Ingwertee, der Gicht vorbeugen sollte, und blätterte in den historischen Dokumenten aus Ribe. Die Geschichte der Maren Splids wies viele Elemente der Hexenjagd auf und sie versuchte sich an einem Bericht – das Gerichtsprotokoll als Quelle:

Didrich Skraedder übergab sich, während er heulte und schrie. Tief aus Magen und Mund ergoss sich ein seltsam großer und schleimiger Klumpen. Noch nie hatten seine Frau und die fünf Nachbarsfrauen etwas Derartiges gesehen. Schien der große, schleimige Klumpen sich nicht in der Bettpfanne zu bewegen? Natürlich tat er das! Das konnte von keiner natürlichen Krankheit herrühren. Eine Hexe musste am Werk sein, und sie musste entlarvt werden. Die sechs Frauen beschlossen, die Bettpfanne samt Inhalt sofort zur obersten Autorität der Stadt, dem Lehnsmann in der Schloßburg zu Ribe, Albert Skeel, zu bringen.

Albert Skeel studierte interessiert den erbrochenen Klumpen und war einig: Eine Hexe musste am Werk sein und die Experten mussten angehört werden. Deshalb rief er alle Friester der Stadt zusammen, die mit Bischof Johan Borchardsen an der Spitze eintrafen. Der Bischof und die Priester nahmen die Bettpfanne mit dem Erbrochenen mit, um sie einem eingehenden Studium zu unterziehen und am nächsten Tag – dem 11. März 1637 – lag ihre Expertenmeinung vor:

Wenn diese »Materie« wirklich aus dem Schneider gekommen war, konnte von keiner natürlichen Krankheit die Rede sein. Es musste sich um ein »veneficium« (eine Vergiftung) handeln, die mit Satans Hilfe von bösen Menschen vorgenommen worden war.

Nein. Sie würde das Buch doch nicht mit einem historischen Fall beginnen. Damit würde sie den Eindruck erwecken, dass es sich bei der Hexenjagd um ein Phänomen der Vergangenheit handele, das auf Unwissenheit oder törichte Bauernvorstellungen zurückzuführen war.

Eine ihrer Hauptthesen war, dass der Bedarf der Gesellschaft an Feindbildern konstant war. Die historischen Beispiele konnten in ihrer überzeugenden Deutlichkeit pädagogisch wirkungsvoll sein, durften jedoch nicht die Erkenntnis verschleiern, dass Hexenjagd auch heute noch immer ein Thema war. Andererseits wollte sie nur ungern bereits am Anfang ein aktuelles Beispiel heranziehen, da das die generelle Problemstellung und die Debatte verzerren könnte, die das Buch anregen sollte. Darüber musste sie nachdenken.

Puh, es war sehr viel angenehmer, davon zu träumen, ein Buch zu schreiben, als es tatsächlich zu tun. Eigentlich müsste sie jetzt vor dem Computer sitzen bleiben, bis das Kapitel stand, aber sie konnte sich davon überzeugen, dass ihr Gehirn frische Luft brauchte.

Sie hatte eine indirekte Zusage für ein Interview mit Einar Nielsen – genannt Einar, der Leichenbestatter –, der auch Vorsitzender des Festausschusses der Insel war. Sie konnte einen Spaziergang am Strand entlang machen und sehen, ob er zu Hause in seiner Schreinerei war. Er war eine zentrale Person im sozialen Leben der Insel und genau der Richtige, um für die Inselartikel interviewt zu werden, doch gleichzeitig verfolgte sie ein mehr verborgenes Anliegen: Die Todesfälle im Altenheim, das surrealistisch anmutende Auftreten der alten Johanne bei dem Begräbnis, Tante Agnes’ Überzeugung, dass jemand den Alten und Todkranken Sterbehilfe leistete. Sie wusste nicht genau, wie sie sich dem Thema nähern sollte, aber der Leichenbestatter war genau der Richtige dafür. Sie rief sich den kurzen Ausdruck von Entsetzen ins Gedächtnis zurück, den sie in einem unbeobachteten Moment in seinen Augen gesehen hatte und musste an ein Buch über einen Feuerwehrmann denken, der zum Brandstifter wurde, weil er so gerne Brände löschte. Konnte man sich dementsprechend einen Leichenbestatter vorstellen, der zum Mörder wurde, weil er seine Arbeit liebte? Sie lächelte über ihre Fantasie.

Als sie aufstand, zog es in ihrem Knie. Eine beginnende Arthrose, meinte der Arzt. An der man nicht viel machen konnte. Sie war 56 und hatte, wie sie selbst sagte, das Alter erreicht, »in dem man tot ist, wenn man eines Morgens aufwacht und nirgendwo etwas weh tut.«

Sie nahm ein paar Paracetamol und eine Tablette zur Neutralisierung der Magensäure und schickte gleichzeitig ein kleines Gebet gen Himmel, mit der gleichen Würde alt zu werden wie Tante Agnes.

»Es ist mühsam, alt zu werden, aber die Alternative ist schlimmer«, pflegte ihre lebensfrohe Freundin Birgitte zu sagen. Birgitte veranstaltete jedes Mal ein großes Frühstück für ihre Freundinnen, wenn sie wieder ein Jahr zu der für weibliche Journalisten errechneten Durchschnittslebenszeit von 58 Jahren hinzurechnen konnte: »Jetzt haben wir die Statistik noch einmal an der Nase herumgeführt.«

Es klopfte an der Haustür. Es war Britta Olsen – die Pflegehelferin, neben der sie in der Kirche gesessen hatte.

»Hallo«, sagte sie. »Ich wohne gleich dahinten. Da drüben. Sie können die Ecke des Daches sehen. Und ich habe mir gedacht, dass Sie bestimmt ein paar frische Eier gebrauchen können. Ich hoffe, der Hahn stört sie morgens nicht.«

»Nein. Ganz im Gegenteil, er ist ein angenehmer Wecker. Vielen Dank, kommen Sie doch herein und trinken Sie eine Tasse Kaffee. Nein, Sie müssen die Schuhe nicht ausziehen.«

Karin fiel auf, dass Britta keinen so unsicheren und ängstlichen Eindruck machte wie bei der großen Beerdigung am Vortag.

»Ich habe Agnes immer Eier verkauft«, sagte sie.

»Ich möchte auch gerne Ihre Kundin werden. Ich liebe frische Landeier.«

»Wie lange werden Sie hier bleiben?«

»Noch zwei Monate und drei Wochen. Ich schreibe an einem Buch.«

Britta nickte und zupfte ihr dünnes, rotblondes Haar zurecht. Ihre hervorstehenden Augen hatten einen Glanz, den sie am Vortag nicht gehabt hatten und einen Augenblick lang überlegte Karin, ob sie sich vielleicht Mut angetrunken hatte.

»Ich weiß. Etwas über Hexen. Hier weiß man alles über einander. Sie haben bestimmt auch einiges über mich gehört?«

»Nein, überhaupt nichts, aber ich freue mich, Sie als Nachbarin zu haben und es ist lieb von Ihnen, mir Eier zu bringen.«

Britta blickte über die Kaffeetasse, die sie mit beiden Händen festhielt, und sagte: »Das muss man sich einmal vorstellen, Journalistin zu sein! Sie müssen ein sehr interessantes Leben führen und viele bekannte Menschen kennen gelernt haben. Haben Sie auch schon mal jemanden aus der königlichen Familie getroffen?«

»Nein, ich habe sie nur von weitem gesehen. Und es ist schon richtig, dass der Job abwechslungsreich ist, aber hin und wieder ist er auch mühsam und stressig.«

Karin gefiel der fast anbetende Blick der Frau nicht und sie fuhr fort:

»Ihr eigener Job muss doch auch sehr interessant sein ... und wichtig. Wirklich wichtig für die alten Menschen.«

»Ha!«, sagte Britta. »Pflegehelferin – wissen Sie was das heißt?«

Karin sah sie verwundert an und sie fuhr fort: »Das ist Zwangsarbeit für weibliche Verlierer!«

»Nein, jetzt hören Sie aber mal ...«

»Doch, die Gemeinde streicht einem die Sozialhilfe, wenn man nicht ...«

Karin unterbrach sie und fragte ernst:

»Halten Sie sich für eine Verliererin?«

»Haben Sie wirklich nichts über mich gehört?«

Karin schüttelte den Kopf und spürte eine leichte Gereiztheit. Die Frau gab, gelinde gesagt, ein unglückliches Bild ab und genoss wohl kaum einen hohen sozialen Status auf der Insel, doch überschätzte sie ganz offensichtlich das Interesse anderer an ihrer Person. Dieses Selbstmitleid war unwürdig. Andererseits war Karin neugierig.

»Nein, ich habe nichts über Sie gehört. Wohnen Sie alleine?«

»Ja, ich bin vor 10 Jahren Witwe geworden. Mein Mann war 32. Jahre älter als ich.«

»Aha.«

»Und es war keine Geschichte von dem schönen, jungen Mädchen und dem reichen, alten Mann. Es war die Geschichte von dem hässlichen, jungen Mädchen und dem armen, versoffenen, alten Mann. Man muss nehmen, was man kriegen kann.«

Britta sah Karin sehr direkt an. Ihr Wesen war viel offener als Karin bei ihrem ersten Zusammentreffen angenommen hatte, wo die Frau den Eindruck erweckt hatte, als wollte sie sich regelrecht für ihr Vorhandensein entschuldigen.

»Ja, da haben Sie Recht«, antwortete Karin, zögerte kurz und fuhr fort: »Haben Sie Kinder?«

»Kinder? Nein! Als ich 22 war, habe ich in den Spiegel geguckt – und mich sterilisieren lassen!«

Karin suchte verblüfft nach einer Antwort und Britta fuhr fort: »Diese Basedow-Augen, sind die etwas, das man weitergeben will? Und mein Haar und mein Kopf? Ich weiß ganz genau, dass ich Ähnlichkeit mit einer Kröte habe und mit diesem Aussehen wollte ich kein Kind belasten.«

Sie schlug ein leicht gekünsteltes Lachen an und Karin musste sich beherrschen: »Die Menschen sehen eben unterschiedlich aus und wenn nur Fotomodelle Kinder bekommen würden, würde die Menschheit bald aussterben ... Es ist ja auch das Innere, das ...«

»Ich bin Legasthenikerin«, unterbrach sie Britta. »Ich habe es kaum geschafft, lesen zu lernen und im Rechnen war ich auch nicht gut. Eigentlich war ich in gar nichts gut in der Schule. Dieses Erbe wollte ich niemandem mitgeben.«

Karin schenkte mehr Kaffee ein und dachte konzentriert über eine Antwort nach. War die Frau auf Sympathie aus oder litt sie an extremer Selbstverachtung?

»Auf mich machen Sie einen ganz alltäglichen Eindruck und ein bisschen genetische Lotterie ist wohl immer im Spiel, wenn man ein Kind in die Welt setzt. Ich habe selbst auch keine Kinder, aber das liegt eher daran, dass ich nie den richtigen Mann gefunden habe«, sagte sie und wechselte entschlossen das Thema: »Was für ein Auftritt gestern in der Kirche, aber beim Kaffee hat Johanne sich ja wieder beruhigt.«

»Sie ist senil und verwirrt«, sagte Britta und fügte wie beiläufig hinzu: »Und irgendwas denken sich die Alten immer aus und es gibt so viele Gerüchte.«

»Woran ist Gustav Kwium eigentlich gestorben?«, fragte Karin.

»Er war alt. Er war 86.«

»Aber was war die konkrete Todesursache?«

»Er hatte ein paar Blutgerinnsel im Herzen und schließlich hat es zu schlagen aufgehört.«

»War er bis zuletzt bei Bewusstsein?«

»Ja, das war er. Jedenfalls, als ich ihn zuletzt gesehen habe. Das war kurz vor 13 Uhr und kurz nach 16 Uhr wurde er tot aufgefunden.«

»Ging es ihm sehr schlecht?«

»Nicht besonders. Nicht schlechter als in den letzten Monaten.«

»Aber der Sohn war doch gekommen, weil er mit dem Tod des Vaters gerechnet hat?«

»Ja, das hat uns auch gewundert, denn in dem Stadium kann man nie wissen, wann sie sterben. Es kann Tage oder Wochen oder Monate dauern. Manche hängen sehr am Leben.«

»Gehörte Gustav Kwium auch zu ihnen?«

»Das ist schwer zu sagen. Anfangs – nach dem ersten Blutgerinnsel – hat er manchmal gesagt: »So alt und schwach, wie ich bin, könnt ihr mich auch gleich mit Morphium vollpumpen.« Aber dann ging es ihm wieder besser und er begann sein Protokoll zu führen.«

»Was hat er in das Protokoll geschrieben?«

»Er hat alle benotet und sich Notizen gemacht, als wären sie noch Schulkinder. Zum Beispiel: ›Inger-Margrethe, die sonst ein fleißiges Mädchen ist und gute Noten hat, war heute sehr unaufmerksame.‹ Ja, so etwas hat er über unsere Centerleiterin geschrieben«, sagte Britta und lachte zum ersten Mal von ganzem Herzen.

»Was hat er über Sie geschrieben?«

»Britta ist besser geworden, aber sie kann noch viel besser werden, wenn sie sich Mühe gibt« und derartige Ermahnungen. Das Protokoll lag offen da, sodass wir darin lesen konnten. Wir haben nur darüber gelacht.«

»Was ist mit dem Sohn – hatte er ein enges Verhältnis zu seinem Vater?«, fragte Karin.

»Sune? Das weiß ich nicht. Ich glaube nicht. Er hat ihn jeden ersten Sonntag im Monat besucht. Aber in dieser Familie sind sie sehr vornehm und wichtigtuerisch.«

Karin stutzte über die Charakteristik, meinte jedoch ihre Bedeutung zu verstehen.

»Zuletzt hatte er jedenfalls Mitleid mit seinem Vater. Er hat immer wieder darauf gedrängt, dass wir ihm schmerzstillende Medikamente geben. Aber Inger-Margrethe hat nein gesagt. Nach dem Pflegeheim-Fall sind wir alle viel vorsichtiger geworden. Unmittelbar nachdem sie die Altenpflegerin eingelocht und beschuldigt hatten, 22 Morde begangen zu haben, trauten wir uns kaum noch, den Alten eine Kopfschmerztablette zu geben. Wir ließen sie liegen und schreien. Das ist nicht einmal gelogen. Jetzt hat sich alles wieder normalisiert, aber wir passen gut auf und halten alle Regeln ein.«

»Hatte Gustav Kwium Schmerzen?«

»Irgendwelche Schmerzen hat man wohl immer, wenn man so alt und krank ist. Und oft drängt die Familie, dass wir ihnen mehr Morphium geben. Aber manchmal wartet sie auch nur darauf, dass sie sterben, weil das das Praktischste ist ... und in dem Fall sollte man ja nicht ... es geht schließlich um die Alten. Das sollte es jedenfalls.«

»Das Praktischste, wie denn das?«, fragte Karin.

»Nun, manchmal, wenn es so aussieht, als würden die Alten im Sterben liegen, kommt die Familie von weither angereist. Aber wie ich bereits gesagt habe, kann es Wochen dauern, und dann werden die Angehörigen ungeduldig. Sie haben möglicherweise woanders Verpflichtungen, denen sie nachkommen müssen. In anderen Fällen ist es schon so, dass die Alten Qualen leiden, denen man besser ein Ende bereiten würde, aber wir müssen uns an die Regeln halten.«

»Sie sind gegen aktive Sterbehilfe?«, sagte Karin in Gedanken an die Debatte, die vor einiger Zeit in den Medien geführt worden war.

Die Frau zuckte zusammen und Karin meinte sieher zu sehen, wie noch mehr Farbe aus dem grauen Gesicht wich.

»Ich meine nur, darüber wird ja zur Zeit viel diskutiert, weil Sterbehilfe in einigen Ländern mehr oder weniger legalisiert worden ist, in Holland zum Beispiel«, fuhr Karin erklärend fort.

»Ja, ich bin dagegen«, sagte Britta mit tonloser Stimme und unergründlichem Gesichtsausdruck. Gleichzeitig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her und sah auf die Uhr: »Ich muss sehen, dass ich zur Arbeit komme.«

»Vielen Dank für die Eier und den Besuch. Schauen Sie ruhig wieder einmal vorbei«, sagte Karin überschwänglich. Eigentlich meinte sie es nicht so, aber sie wollte ihr Versehen gerne wieder gutmachen. Denn die Frage nach aktiver Sterbehilfe war offensichtlich unpassend gewesen. Möglicherweise ein Tabuthema für das Personal des Altenheims, dachte sie und nahm ein undefinierbares Gefühl der Unruhe in sich wahr. Britta war sehr negativ aufgedreht gewesen und ihr Verhalten hatte unecht gewirkt. Was hatte das zu bedeuten?

Ein Satz blieb ihr im Gedächtnis haften: Ich habe mich im Spiegel gesehen und sterilisieren lassen.

Britta war schwindelig und sie fühlte sich unwohl, als sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fuhr. Schließlich musste sie absteigen und das Rad schieben. Sie hätte noch eine Tablette mehr nehmen sollen, bevor sie von zu Hause losgefahren war.

Panik begann sich breit zu machen. Hatte die Journalistin sie möglicherweise durchschaut? Sie blieb mit dem Fahrrad vor einer der eigenständigen Altenwohnungen stehen.

»Frau Carstensen«, sagte sie. »Ich bin auf dem Weg ins Center, kann ich vielleicht einmal ihre Toilette benutzen?«

Während das Wasser lief, öffnete sie vorsichtig Frau Carstensens Medizinschrank. Sie fand, was sie suchte, weil sie den Inhalt aller Medizinschränke der alten Leute kannte.

»Ja, es stimmt schon, dass wir an jedem zweiten Dienstag die Sicherheitsgurte anlegen, denn da kommt der Festlandpolizist auf die Insel herüber«, erklärte Einar, der Leichenbestatter, mit einem wissenden Blick in den grünen Augen. Er beeilte sich zu versichern, dass diese Aussage humorvoll zu verstehen war, denn außer an den genannten Dienstagen war er ja auch Gemeindevorsteher und somit lokaler Repräsentant der Ordnungsmacht, einer der wenigen noch verbliebenen Laienpolizisten Dänemarks.

Die Schreinerei und das Bestattungsunternehmen hatte er von seinem verstorbenen Vater übernommen. Die Arbeit als Gemeindevorsteher war später hinzugekommen und darüber hinaus war er noch der Musiker und Disc-Jockey der Insel. Er spielte bei den traditionellen Festen der Älteren auf der Elektro-Orgel und kam mit seiner Diskoanlage mit großen Verstärkern und blinkenden Lampen, wenn die Jungen und Wilden sich amüsieren wollten.

Er pflegte zu sagen: »Man soll nicht all seine Eier in ein und denselben Korb legen.«

Er muss einer von denen sein, die am meisten über die Leute auf der Insel wissen, dachte Karin und betrachtete den Mann, der alle Vorstellungen, wie ein Leichenbestatter auszusehen hatte, über den Haufen warf. Das blonde, lockige Haar stand wild vom Kopf ab und das schelmische Lachen war ihm ins Gesicht gemeißelt, das noch immer jungenhaft war, obwohl er um die 50 sein musste.

Ja, Karin würde ein paar Artikel über das Leben auf der Insel schreiben und er konnte ihr bestimmt mehr als eine Perspektive eröffnen.

Da war zunächst einmal das kulturelle Leben, wie er es im Spielmannszug und als Vorsitzender des Festkomitees erlebte.

Karins Interviewtechnik lebte zum Großteil davon, den Leuten ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, indem sie grundsätzlich mit unkontroversen Themen oder mit etwas anfing, von dem die zu interviewende Person ihrer Meinung nach gerne reden wollte.

Mit der Frage nach dem kulturellen Leben auf der Insel öffnete sie meist auch eine Schleuse für harmlose Geschichten und Anekdoten, die nur für die Betroffenen oder ihre Familien oder Freunde lustig waren. Und sie hörte von den Geschehnissen des Jahres: von den Weihnachtsfesten, dem traditionellen Pfingstball, der zur Obstbaumblüte stattfand, von den Herbstfesten und – nicht zuletzt – von Amateurtheater und Inselrevue, wo man mit Hilfe der Komik abweichendes Verhalten verdeutlichen, diskret korrigieren und aufgeblasene Personen eventuell auf den Boden der Tatsachen zurückholen konnte.

Dieses Jahr hatte es vor allem den neuen Polizisten, Steffen Jespersen, erwischt, der anfangs ein wenig zu eifrig gewesen war. An einem seiner ersten Dienstage auf der Insel hatte er einen Inselbewohner getroffen, der entgegen der Vorschriften seinen Hund am Strand frei laufen ließ. Hierauf hatte der Polizist dem Gesetzesbrecher resolut befohlen, das Tier auf dem Arm nach Hause zu tragen. Bevor die Sonne untergegangen war, hatten alle 600 Einwohner der Insel die Geschichte gehört und als die Szene bei der jährlichen Revue im Dorfgemeinschaftshaus aufgeführt wurde, wollte das Lachen kein Ende nehmen.

Ja, früher hatte es auch noch die Feste des Junggesellenklubs gegeben, zu denen man Mädchen von drüben einlud in der Hoffnung, dass Paare zueinander fanden und den Bestand der Inselbewohner sicherten. Heute erledigte man so etwas mit Hilfe der entsprechenden Internetseiten. Dafür war der Inselverein sehr aktiv, wenn es galt, Interesse an Zuzügen zu wecken. Er war mit Repräsentanten und Broschüren auf den Festen und Märkten vertreten und stand mit verlockenden Schilderungen der Vorteile des Insellebens und dem Angebot billiger Häuser hinter der Homepage der Insel.

»Aber darüber müssen Sie mit Inger-Margrethe sprechen, der Centerleiterin im Altenheim. Sie ist die Vorsitzende des Inselvereins«, sagte Einar.

»Darf ich Ihnen einen Calvados zum Kaffee anbieten?«, fuhr er fort und stellte eine Karaffe auf den Tisch. Der Apfelbranntwein wies eine unverkennbare Geschmacksgleichheit mit dem Selbstgebrannten auf, den es bei Tante Agnes gab.

Karin sah, dass seine Hände leicht zitterten, während er einschenkte. Sie hatte überhaupt das Gefühl, dass der Heiterkeit und Jovialität des Leichenbestatters etwas Angespanntes und Gewolltes anhaftete.

Dann redeten sie über das Bestattungsunternehmen.

»Viele Menschen finden diese Arbeit möglicherweise ein wenig ...«, begann Karin.

»Morbide und unangenehm?«, fuhr der Leichenbestatter mit einem Lächeln fort. »Aber ich sehe das anders. Eigentlich mag ich es, Leichen herzurichten. Die Menschen sind im Tod oft viel schöner. Alle Masken sind gefallen und ich kann den wahren Menschen sehen ...«

»Nur dass er vermutlich kein Mensch mehr ist?«

»Stimmt, wenn man es philosophisch betrachtet«, antwortete er und kratzte sich im Nacken.

Karin wechselte das Thema und erkundigte sich, was normalerweise bei einem Todesfall passierte.

»Also, wenn der Leichenbestatter von den Angehörigen oder dem Personal des Altenheims benachrichtigt worden ist, ruft er die Pfarrerin an und sie suchen gemeinsam das Haus oder Altenheim auf, um den Toten in den Sarg zu betten.«

»Warum die Pfarrerin?«, fragte Karin.

»Nun ja, sie möchte das gerne und sie ist gut darin. Bestimmt war sie früher Krankenschwester oder so etwas. Und dann hält sie eine Andacht und begleitet den Toten mit Gesang aus seinem Heim. Anschließend fahren wir den Sarg zum Leichenhaus, wo noch einmal eine kleine Andacht abgehalten wird – und dort bleibt der Sarg bis zur Beerdigung oder Beisetzung. Heute wollen die meisten verbrannt werden, was heißt, dass sie rüber müssen aufs Festland. Nach dem Beerdigungsgottesdienst fährt der Leichenzug langsam die Orte auf der Insel ab, die im Leben des Verstorbenen von Bedeutung waren und dann geht es zur Fähre, wo Familie und Angehörige Abschied nehmen, während ich mit dem Leichenwagen an Bord mitfahre.«

»Sie sind auch Gemeindevorsteher – haben Sie schon einmal bei einem Todesfall von Ihrer Dienstmütze Gebrauch machen müssen, um die Polizeibehörde zu vertreten?«, fragte Karin.

»Ja, wir hatten einen traurigen Selbstmord und in so einem Fall muss die Polizei gerufen werden. Auch wenn jüngere Menschen tot aufgefunden werden, ohne dass sich die Todesursache genau feststellen lässt, bedarf es einer Leichenschau und vielleicht einer Obduktion.«

»Wenn alte Menschen sterben und sich die Todesursache nicht mit Sicherheit feststellen lässt ...«, begann Karin

»Dann sind sie bestimmt nicht vom Inselrat abgewählt worden«, unterbrach sie Einar mit einem schiefen Lächeln. Karin fiel seine etwas zu hektische und schnelle Assoziation auf.

»Ich meine, wenn ein alter Mensch stirbt, ohne dass die Todesursache mit Sicherheit festgestellt werden kann, wird er dann auch obduziert?«

»Das liegt im Ermessen des Arztes, aber ich habe das noch nie erlebt. Meistens ist es wohl der natürliche Gang der Dinge und man wundert sich nicht, dass die Alten sterben. Wir alle müssen diesen Weg gehen. Zumindest als Leichenbestatter darf man das nicht vergessen.«

»In so einem kleinen Ort wird viel geredet. Diese Episode in der Kirche gestern, wird die Anlass zu Gerede geben?« Karin drückte sich bewusst vage aus.

»Ja, es wird viel geredet und Sie werden bestimmt von weiteren mysteriösen Todesfällen im Altenheim hören, weil diese Geschichte zur Zeit kursiert. Vermutlich weil es in der letzten Zeit ein bisschen häufig vorkam, aber es ist nichts Mysteriöses daran, wenn sehr alte und kranke Menschen sterben«, sagte der Leichenbestatter und schenkte ihnen beiden noch einen Calvados ein. »Doktor Wad hatte keine Bedenken, die Totenscheine auszustellen.«

»Und einem anderen Sachkundigen ist auch nichts Ungewöhnliches aufgefallen?«

Karin sah ihn direkt an und war sich sehr wohl im Klaren darüber, dass ihre Fragen aufdringlich waren.

Der Leichenbestatter mit den blonden Locken war schlecht im Lügen.

»Nee«, antwortete er und fokussierte scheinbar zerstreut ein Segelboot weit draußen auf dem Wasser. »Ist es nicht.«

Karin ging zu einem unverfänglicheren Thema über, wie schön beispielsweise die Insel im Mai war.

»Sie können damit rechnen, dass meine Frau Sie sicher bald zum Mittagessen einlädt. Sie wird sich ärgern, dass sie nicht zu Hause war, wenn sie hört, dass Sie hier gewesen sind. Sie sind in gewisser Weise Kolleginnen, wissen Sie«, sagte Einar.

»Okay«, sagte Karin, die nach drei Calvados vergessen hatte, dass sie sich eigenlich den Gebrauch dieses Wortes verboten hatte.

»Ja, Bente hat zwar eine Büroausbildung und arbeitet als Sekretärin für Doktor Wad, aber sie hat auch eine poetische Ader und schreibt Gedichte. Und sie hat oft davon gesprochen, dass sie jetzt, wo eine Autorin auf der Insel weilt, gerne die Meinung eines Profis hören möchte.«

»Ja, dann grüßen Sie sie und vielen Dank für die Hilfe«, sagte Karin, als sie an den vielen, durchdacht angelegten und gut gepflegten Staudenbeeten entlang den Garten verließen.

Einar, der Leichenbestatter, Gemeindevorsteher und somit Repräsentant der Ordnungsmacht kam an diesem Tag mit seiner Schreinerarbeit nicht weiter. Er dachte nach, dass es nur so rauchte. Diese Journalistin war an etwas dran, das ihm unter Umständen schaden konnte. Was sollte er tun? Fürs erste konnte er die Karaffe mit Calvados leeren, woraufhin er das Ganze schon etwas optimistischer sah.

Irgendwann erwog er, sich Bente anzuvertrauen, aber nein. Manchmal war sie so umständlich und gesetzestreu. Eine Haltung, mit der man nicht weit kam, wenn man in einer so kleinen Gesellschaft leben wollte. Nein, Anpassungsvermögen, Flexibilität, Diskretion und eine ausgeprägte Unbesonnenheit waren die Eigenschaften, die ihm eine der viel versprechenden Positionen auf der Insel gesichert hatten.

Gedichte waren nicht ihre starke Seite und Gedichte von Arztsekretärinnen aus Skejø schon gar nicht, dachte Karin, als sie am Strand entlang nach Hause ging. Doch das musste sie in Kauf nehmen – genau wie sie sich damit abfinden musste, dass jetzt jeder auf Skejø über ihre Anwesenheit und ihre Arbeit informiert war. Die Provinzstadt, in der sie normalerweise lebte, mochte einem eng vorkommen, aber die soziale Kontrolle dort war nichts gegen die, die hier auf der Insel herrschte. Von hier konnte man nicht einmal unbemerkt abhauen, weil der Reiseverkehr von der Bierbank in dem kleinen Fährhafen aus genau beobachtet und kommentiert wurde. Und falls die Pensionäre einmal einen Moment unaufmerksam waren, gab es noch immer den Fährmann und Connie vom Grill, die aufpassten. Man wusste immer, wer kam und wer die Insel verließ.

Es muss schwierig sein, hier einen heimlichen Geliebten zu haben, dachte Karin. Was für sie jedoch kein akutes Problem darstellte. Ihre kurze Affäre mit dem Praktikanten der »Sjaellandsposten«, Thomas, schien vorbei zu sein. Sie hatten ihr Verhältnis weder zu Anfang noch zu Ende der Affäre definiert, doch hatte Thomas im letzten halben Jahr an der Columbia University in den USA studiert und seine Mails waren immer kürzer und die Abstände zwischen ihnen immer länger geworden. Das war nur natürlich, dachte Karin resigniert. Thomas war 20 Jahre jünger als sie und sie litt unter Arthrose im Knie. Verdammt, wie unsexy! Denn die Frühlingsgefühle machten auch vor ihr nicht halt. Die warme Sonne und die schöne Umgebung riefen Erinnerungen wach.

Der Mai war der schönste Monat auf der Insel, sagten alle. Die Obstbäume in den Obstplantagen blühten in ordentlichen Reihen, die wilden Hecken wurden von blühendem Weißdorn dominiert, während Grabenränder und Brachäcker vor Doldenpflanzen und Löwenzahn weiß leuchteten, die von weitem den Eindruck erweckten, als hätte man einen Brautschleier über alles Grüne geworfen. Den Brautschleier schmückte ein dicker Goldschmuck aus Butterblumen und Sumpfdotterblumen. Am Rand des Wassers schlugen Schwäne zwischen Schilfrohr und Gras mit den Flügeln und weiter im Landesinneren mühten sich die Menschen mit ihren Gärten und Häuserfassaden ab. Flieder und Goldregen färbten die Raine und viele Grundstücksecken wurden von einem in Blüte stehenden Kastanienbaum markiert.

Karin betrachtete die alten Ehepaare, die an gut gedeckten Kaffeetischen unter Sonnenschirmen in den Gärten und auf den Terrassen saßen und fragte sich, ob sie neidisch war. Warum lief sie hier alleine herum? Sie wusste es nicht. Es hatte sich einfach so ergeben und sie wollte sich nicht beklagen. Im Großen und Ganzen war sie ein Genussmensch. Es hatte viele Männer und viele starke emotionale und sexuelle Erlebnisse in ihrem Leben gegeben, aber die richtige Situation oder Kombination war nie aufgetaucht. Die, bei der alles stimmte: Du liebst mich und ich liebe dich. Ich kann und will und du kannst und willst, dass wir unsere Schicksale miteinander verbinden.

Es war ihr, ehrlich gesagt, ein Rätsel, dass im Leben der meisten Menschen diese Situation einmal auftauchte.

»Das tut sie gar nicht«, sagte ihre alte Freundin und Kollegin Birgitte. »Aber wir anderen schließen Kompromisse und resignieren.«

In ihren dunkelsten Stunden konnte Karin vor Einsamkeit und Angst vor dem auf sie wartenden Alter ganz kalt werden, aber diese Stunden waren glücklicherweise selten, denn in der Regel war sie recht gut darin, ihren Missstimmungen Paroli zu bieten.

Die Robinson-Morde

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