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Donnerstag, 30. Mai

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Inger-Margrethe Jörgensen, Krankenschwester und Leiterin des Seniorenservicecenters sowie Vorsitzende des Inselvereins, der eifrig versuchte, Skejø zu vermarkten, war allgemein als pflichtbewusste, gesetzestreue und ziemlich fantasielose Frau bekannt. Der Typ, der nie bei Rot über die Straße geht, selbst wenn es zwei Uhr nachts ist und sie verlassen daliegt.

Sie war groß, kräftig und ein wenig maskulin im Auftreten. Ihr Leben war im Großen und Ganzen unkompliziert verlaufen oder, wie sie selbst scherzhaft zu sagen pflegte, »wie im Bilderbuch«. Sie war auf dem einen der beiden großen Höfe der Insel geboren und hatte sich als Achtzehnjährige mit dem Sohn des anderen verlobt. Sie hatten geheiratet, als Johan seine landwirtschaftliche Ausbildung beendet hatte und sie Krankenschwester geworden war, sie hatten zwei wohlgeratene Kinder bekommen, die sie wohl bald zu Großeltern machen würden.

Der bislang größte Skandal in ihrem sozialen Leben war, als der Wein bei der Silberhochzeit zu schnell ausgegangen war, weil sie den Durst der Gesellschaft unterschätzt hatte. Das hatte zu einer Reihe gutmütiger Frotzeleien geführt und die Inselrevue hatte ein Lied davon erzählt, wie ihre Gäste mit trockenen Gaumen dasaßen.

Von außen betrachtet war sie eine ausgeglichene, tüchtige und ordentliche Person, die in jeder Hinsicht der Rolle einer weiblichen Stütze der Gesellschaft entsprach. Sie hatte eine ansehnliche Karriere in der Pflegebranche gemacht und war zugleich Hausfrau und Mutter in einem Haus, in dem man nie die Tür verschließen oder sich verstecken oder so tun hatte müssen, als sei niemand zu Hause, wenn es an der Tür klingelte.

Doch in letzter Zeit nagten an ihr Zweifel. Sie hatte versehentlich eine Unterhaltung ihrer erwachsenen Kinder mit angehört, die erklärt hatten, dass es einfach zu langweilig war, die Eltern länger als einen Tag zu besuchen.

Gleichzeitig begann sie das Ende am Horizont zu ahnen und die Frage tauchte auf: War das schon alles? War das das wahre Leben, das einzige, was sie hatte?

Würde sie in 25 Jahren wie Johanne herumlaufen und mit dem Leben abrechnen: »Ich bereue, dass ich zuviel Zeit mit Fenster putzen verbracht habe – und mit dem Einberufen von Personalversammlungen und dem Abwischen von anderer Leute Hintern, dem Austeilen von Medikamenten, mit Einkaufen und Kochen und ...«

Als junges Mädchen hatte sie einmal bei einer Charterreise eine wilde Woche auf Mallorca verbracht und bei ihrer Rückkehr nach Skejø beschlossen, Reiseleiterin zu werden. Aber Mutter und Vater hatten protestiert. So ein Unsinn hätte doch keine Zukunft. Das sah sie selbst genauso, als die Orgie ihres Lebens allmählich in Vergessenheit geriet.

Die letzten zehn Jahre hatten sie und Johan die Ferien immer an demselben Ort auf Kreta verbracht, weil Johan am liebsten dorthin zurückkehrte, wo er sich auskannte.

Sie selbst spürte eine wachsende Sehnsucht nach dem Unbekannten und Gefährlichen, nach dem, das einem das Gefühl gab, lebendig zu sein.

»Wenn du Veränderung brauchst, können wir dieses Jahr nach Malta fliegen«, hatte Johan vorgeschlagen und sie erstaunt angesehen.

Sie brauchte wirklich Veränderung, aber das war keine Frage von Kreta oder Malta.

Johan und ihre langjährige Ehe waren ein Teil des Problems. Die Arbeit mit den Alten und Sterbenden im Center ein anderes. Sie fühlte, wie die Verzweiflung wuchs und da sie in vieler Hinsicht eine nüchterne und tatkräftige Frau war, hatte sie beschlossen, dass etwas passieren musste. Sie hatte angefangen, die Tür zu ihrem Büro abzuschließen. Sie wollte ungestört arbeiten, sagte sie dem Personal. Hinter der verschlossenen Tür begann sie jedoch, die Möglichkeiten des Internet zu erforschen.

Es gab keine Bestimmungen über die Beschäftigung von Satanisten, weshalb Inger-Margrethe, als sie zum ersten Mal mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass der nette, junge Mann, der die Böden im Center putzte, Satanist war, sich damit begnügte, mit den Schultern zu zucken und sich zu wundern, auf was die Jugend heute alles kamen. Sie persönlich hatte ein sehr entspanntes Verhältnis zur Religion. Für sie war die Kirche eine Institution, die für Weihnachten, Kindstaufen, Hochzeiten und Begräbnisse zuständig war.

Doch als Sune Kwium ihr jetzt glattweg eine Beschwerde auf den Tisch legte, sah sie ein, dass es vermutlich nicht so günstig war, einen erklärten Satanisten zwischen den Alten und Sterbenden herumlaufen zu lassen, von denen viele sehr christliche Menschen waren. Vor allem nicht, nachdem diese Gerüchte über das vorzeitige Ableben der Alten zu kursieren begonnen hatten. Gerüchte, die sie mehr bekümmerten als irgendjemand ahnte.

Deshalb rief sie an diesem Morgen Mikael mit dem satanischen Namen Wolf in ihr Büro und sagte ihm, dass er seine Arbeit tadellos gemacht hatte, einige der Alten jedoch wegen des Satanismus beunruhigt waren und er sich deshalb nach einem neuen Job umsehen musste.

»Es tut mit Leid, aber für die meisten Menschen ist der Satanismus eben etwas sehr Grenzüberschreitendes«, sagte sie.

Er sah sie ruhig an, in seinem Blick lag fast etwas Hypnotisches. Sie bemerkte die kleinen grünen Splitter in der braunen Iris und spürte einen seltsamen Schauder entlang ihres Rückgrats und ein Ziehen in der Beckengegend.

»Ja, er ist grenzüberschreitend«, antwortete er. »Es ist Teil meines Glaubens, dass wir die Grenzen der christlichen Kultur überschreiten müssen, um ein natürliches Leben leben zu können. Und wir werden uns keine Scham über unsere Natur einreden lassen.«

»Nun gut, mit diesen Dingen kenne ich mich nicht aus«, antwortete Inger-Margrethe scheinbar unbeeindruckt, aber in Wirklichkeit verstand sie sehr gut und seine Worte machten Eindruck.

»Das sollten Sie aber. Sie leben nur einmal«, sagte Wolf und stand auf.

Sie blieb mit dem Gefühl sitzen, dass er gewonnen und sie verloren hatte.

Wolf hätte sich einerseits gut vorstellen können, die Frage der Grenzen der Religionsfreiheit vor dem Arbeitsgericht klären zu lassen, doch war er andererseits sehr zufrieden, gefeuert zu werden, sich voll seiner Internet-Mission widmen zu können und noch dazu Arbeitslosengeld zu kassieren. Deshalb nahm er die Kündigung einfach zur Kenntnis und ging unbekümmert nach Hause zu Belia und Lucy.

Sune Kwium war so zufrieden über die Kündigung, dass er davon Abstand nahm, sich beim »Ekstra Bladet« zu beklagen. Außerdem war er vollauf damit beschäftigt, die Besitztümer des Vaters verkaufsklar zu machen. Er steckte nämlich in einer unangenehmen finanziellen Klemme.

Wenig später am Tag wusste fast jeder auf der Insel, dass der Satanist gefeuert worden war und die meisten empfanden, was die Alten anging, eine gewisse Erleichterung.

Da Didrich Skraedder und seine Nachbarn, der Lehnsmann und der Bischof nun überzeugt waren, dass in Ribe eine Hexe ihr Spiel trieb, galt es nur noch, die Schuldige zu finden. Man fragte den Schreiner, ob er irgendwelche weiblichen Feinde habe. Am 16. März 1637 – sechs Tage nach dem Erbrechen – erinnerte Didrich sich plötzlich an eine alte Begebenheit: Vor 13 Jahren hatte er sich mit Maren Splids gestritten und bei dieser Gelegenheit hatte sie ihm Unglück gewünscht.

Das erzählte er allen und bevor die Sonne unterging, war Stadtgespräch, dass Maren Splids Didrich Skraedder verhext hatte.

Das war der kleine historische Vorspann zu Karins Kapitel über Volksstimmungen, Beschuldigungen, Gerüchte, Medien und Hetze.

Die Arbeit ging ihr so gut von der Hand, dass sie sich über die Termine ärgerte, die sie für die Interviews gemacht hatte, aber es führte kein Weg daran vorbei.

Sie zog ein körperbetonendes Top an, eine lose Jacke und eine gut sitzende Caprihose. Wegen ihres schmerzenden Knies konnte sie nur flache Schuhe und Sandalen tragen und danach musste sie ihre Garderobe ausrichten.

An erster Stelle auf ihrer Liste stand die Vorsitzende des Inselvereins, Inger-Margrethe Jörgensen. Sie war eine Schlüsselfigur, da sie hinter dem beharrlichen und erfolgreichen Versuch stand, die Insel als attraktiven Lebensraum für Zuzügler zu vermarkten. Danach stand Doktor Wad auf dem Programm, für den die Arztpraxis auf der Insel bestimmt nicht mehr als ein Pensionärsjob war.

Wenn sie die Inselproblematik mit ihnen durchgesprochen hatte, wollte sie vorsichtig auf den ungewöhnlichen Zwischenfall bei Gustav Kwiums Begräbnis zu sprechen kommen sowie auf die Gerüchte, die dieser ins Leben gerufen hatte. Diese Geschichte beschäftigte sie am meisten, auch wenn sie nur eine vage Vorstellung davon hatte, wozu sie sie gebrauchen konnte.

In den Gängen des Altenheims war es vorbildlich sauber und für eine derartige Institution eigentlich recht gemütlich – mit den Vasen mit Blumen und den guten Reproduktionen an den Wänden, doch trotzdem stieg Karin schnell der undefinierbare Geruch nach Alter und menschlichem Verfall in die Nase: Ein wenig säuerlich? Ein wenig süßlich? Ein wenig muffig? Ein wenig nach Verwesung?

Auf dem Weg zum Büro der Centerleiterin schauderte sie innerlich.

»Nein, zwischen den auf der Insel Geborenen und den Zugezogenen besteht ganz sicher keine Kluft«, stellte Inger-Margrethe Jörgensen fest. »Ohne die Zuzügler wäre die Insel mehr oder weniger entvölkert. Im Schnitt kommen wir jährlich auf eine Kindstaufe und fünfzehn Begräbnisse. Über ein Drittel der Inselbewohner sind Pensionäre. Wir veranstalten Willkommensfeste und bemühen uns, die Zuzügler bei allem, woran sie Interesse haben, sofort einzubeziehen. Nein, Integrationsprobleme haben wir keine.«

Außer den Kampagnen, die sich an potentielle Zuzügler richteten, kämpfte der Inselverein auch für die erneute Aufstockung der Schule auf sieben Klassen. Und um die Insel für das Wirtschaftsleben interessant zu machen: »Die Aussichten für Nischenproduktionen sind ausgezeichnet. Außerdem haben wir eine Liste über Möglichkeiten finanzieller Unterstützung von Unternehmensgründungen ausgearbeitet.«

Karin wolle auch etwas über die ureigene Inselkultur hören?

»Es stimmt, dass es sich um ein kleines Gemeinwesen handelt, dass viel geredet wird und wir viel über einander wissen. Andererseits sind wir sehr tolerant. Wir haben alle das Recht, hier zu sein. Es gehört schon viel dazu, dass jemand hier nicht akzeptiert wird.«

»Man muss zum Beispiel Satanist sein«, warf Karin ein, die noch nicht wusste, dass Wolf am Vormittag gefeuert worden war.

»Werden Sie darüber schreiben? Ich glaube, er war mit der Kündigung ganz zufrieden.«

Inger-Margrethes Stimme war ein wenig schärfer geworden.

»Kündigung?«

»Ach so, Sie haben es offensichtlich noch nicht gehört. Aber unter den Alten, von denen viele überzeugte Christen sind, hatte sich eine gewisse Unruhe breit gemacht, und ein Angehöriger hatte sich beschwert. Deshalb haben wir das Beschäftigungsverhältnis heute aufgelöst.«

»Aha. Steht die Kündigung in irgendeinem Zusammenhang mit dem Zwischenfall bei dem Begräbnis neulich?«

»Überhaupt nicht, und zu diesem Zwischenfall gebe ich auch keinen Kommentar«, sagte Inger-Margrethe Jörgensen bestimmt.

Was für eine sonderbare Reaktion, dachte Karin. Tante Agnes hatte erzählt, dass gerade Inger-Margrethe Jörgensen sich über den Todesfall gewundert hatte. Das konnte loses Institutionsgerede sein, doch fasste Karin ihr allzu schnelles »kein Kommentar« als Bestätigung auf, dass irgendetwas nicht stimmte.

Sie wechselte das Thema. Wollte auch etwas über die verschiedenen sozialen Schichten auf der Insel hören – gab es irgendwelche Spannungen zwischen ihnen?

»Klassenunterschiede hat es hier auf der Insel nie gegeben!«, antwortete Inger-Margrethe Jörgensen mit Nachdruck.

»Aber es besteht doch wohl ein Unterschied zwischen einem Sozialhilfeempfänger und einem Großbauern?«, wandte Karin ein.

»Nun ja, so viele Bauern gibt es heute nicht mehr. Eigentlich gibt es nur noch drei größere Höfe und niemand von uns spinnt Gold. Sicher bestehen Unterschiede im steuerpflichtigen Einkommen der Leute, aber wenn es um das allgemeine Ansehen geht, das hängt ausschließlich von der Persönlichkeit ab.«

»Ein gutes Prinzip«, kommentierte Karin, die gerne ein wenig Entgegenkommen zeigen wollte.

Als Vorsitzende ist es ihre Pflicht, das Inselleben so rosig wie möglich zu zeichnen, dachte Karin auf dem Weg nach Sönderby, wo der Arzt weit draußen auf der Landspitze eine Villa bewohnte. Keine Klassenunterschiede, Skejø, das Paradies auf Erden, leck mich am Arsch!

Die längliche, leicht nierenförmige Insel war an der längsten Stelle nur sechs Kilometer lang und ihre 600 Einwohner konnten sich auf 16 Quadratkilometern ausbreiten. Die meisten wohnten in Nordby und Sönderby oder an der Hauptstraße, die beide Städte miteinander verband und von Norden nach Süden von einem Ende der Insel zum anderen führte. Der Rest wohnte an Seitenstraßen, die von der Hauptstraße abzweigten und zum Wasser führten. Es hieß, dass niemand mehr als 1000 Meter vom Wasser entfernt wohnte.

Der Fährhafen lag in Nordby, ebenso wie das Fliederhaus von Tante Agnes. Das Altenheim, wo auch der Arzt seine Sprechstunde hatte, lag mitten auf der Insel und auf der anderen Seite der Straße war die Grundschule mit ihren drei Klassen und dem Heimatmuseum im Keller.

Als Karin an der Schule vorbeikam, fiel ihr ein, dass sie eigentlich auch mit dem Lehrer sprechen und das Museum besuchen musste, bevor sie ihre Artikel schrieb. Ja, Recherchen hatten grundsätzlich die Tendenz, an Umfang zuzunehmen, aber noch hatte sie reichlich Zeit.

Der Arzt Jörgen Wad war viermal verheiratet gewesen und hatte mit jeder Frau zwei Kinder. Er war kein Don Juan im eigentlichen Sinne, sondern nur ein freundlicher Mann, der tat, was die Frauen ihm sagten. Was ihm die Hochzeiten ebenso wie die Scheidungen eingebracht hatten. Mit den Jahren war sein Privatleben unglaublich kompliziert geworden und von seinen Finanzen ließ sich das Gleiche sagen.

Mit 48 war er nach Grönland geflohen, von wo aus er Geld für die Versorgung und Ausbildung der acht Kinder nach Hause schickte. Mit 67 kam er schuldenfrei wieder nach Hause, doch fiel es ihm schwer, seinen Ruhestand zu genießen. Deshalb war es ihm auch nur recht gewesen, dass sich außer ihm niemand um die ärztliche Vertretung auf Skejø beworben hatte, die jetzt das dritte Jahr andauerte.

Er näherte sich den 70, verfügte jedoch über eine tadellose Gesundheit und unterhielt ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zu einer seiner früheren Frauen sowie zu dreien seiner Kinder, die ihn hin und wieder auf Skejø besuchten. Die anderen hassten ihn für sein Versagen. Er verstand sie, hatte sich entschuldigt und drängte sich nicht auf.

Es ging ihm gut mit seiner Arbeit, seinen Büchern, seinem Boot, ein paar guten Freunden und dem Teil der Familie, mit dem er Umgang pflegte. Er hatte nicht die Absicht, sich irgendwann einmal wieder mit einer Frau einzulassen. Deshalb wunderte er sich nicht schlecht, als er sich plötzlich die Journalistin zu einem Segeltörn und einem Grillabend mit Meeresblick einladen hörte. Und eigentlich war er erleichtert, als sie ablehnte. Doch dann sagte sie: »Ich muss nämlich meine Tante zum Kartenspielen im Pensionärsverband fahren, aber vielleicht ein anderes Mal?«

»Ja«, antwortete er schnell. »Wie wäre es mit morgen Abend?«

»Schön, abgemacht«, sagte sie und schüttelte die silberweiße, volle Haarpracht zurecht.

Er fand sie äußerst anziehend.

Karin ihrerseits machte die seltene Erfahrung, einem fremden Menschen zu begegnen, der ihr das Gefühl gab, ihn schon immer zu kennen. Sie hatten leicht und unbeschwert miteinander geredet, einander bereits verstanden, wenn erst die Hälfte eines Satzes ausgesprochen war, gleichzeitig die Stirn gerunzelt, über dasselbe gelacht.

Er hatte sich an seine Schweigepflicht als Arzt gehalten, ansonsten jedoch nicht mit Informationen und Kommentaren gegeizt.

Ja, auch er hatte von den Gerüchten gehört, dass bei Gustav Kwium Sterbehilfe geleistet worden war, sah jedoch keinen Grund, ihnen Glauben zu schenken: »Kwiums Herzkapazität war sehr begrenzt, er war 86 und hatte Schmerzen. Ich habe ihm Morphium nach Bedarf verschrieben und das Pflegepersonal ist äußerst verantwortungsbewusst damit umgegangen. Alles wird in Patientenjournalen und Medikamentenlisten festgehalten und aus diesen geht klar hervor, dass er vor Todeseintritt kein Morphium bekommen hat.«

»Die Gerüchte wollen auch von einem Mann wissen, der vor einem Monat gestorben ist?«, hatte Karin gesagt.

»Eigil Andersen, ja. Stark behindert nach Blutgerinnseln im Gehirn, ein früherer Suchtpatient. Selbstmord durch eine Überdosis, aber so etwas posaunen wir nicht hinaus. Deshalb ist das Gerücht wohl entstanden.«

»Und es bestand kein Zweifel, dass es Selbstmord war?«

»Nein. Wie ich bereits gesagt habe: Schwer behindert, an den Rollstuhl gefesselt, keine Angehörigen, keine Freunde, keine Liebschaften, kein Geld. Wer zum Teufel sollte an seinem Tod ein Interesse haben?«

Karin hatte Arnold Klausen nicht erwähnen wollen, den früheren Bürgermeister. Der Tante zufolge war er mit 91 gestorben und Agnes hatte ihr Misstrauen in keinster Weise begründet.

»Tja«, hatte Karin gesagt. »Ich werde wohl kaum darüber schreiben, aber die Gerüchte haben die alten Leute wirklich etwas ängstlich gemacht, wie ich von meiner Tante gehört habe. Hat Kwiums Sohn Sie um Morphium für den Vater gebeten?«

»Genau das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht«, hatte Wad geantwortet, gleichzeitig jedoch so warm gelächelt, dass es nicht wie eine Zurechtweisung klang. Und er war mit dem fortgefahren, was er unter einer »ganz abstrakten Betrachtung« verstand: »Es gibt Menschen, die schwer behindert sind und im Sterben liegen. Es besteht keine Hoffnung und sie leiden unter ihrer Existenz. Sollen wir eine Leichenschau anordnen und sie obduzieren und darin herumstochern, wie ihre Leiden ein Ende gefunden haben? Ob ein geliebter Verwandter oder ein beherzter Fachmann ein bisschen nachgeholfen hat?«

»Ja, das müssen wir wohl, solange es ein Gesetz gibt, das aktive Sterbehilfe verbietet«, hatte Karin gesagt.

»Das Gesetz steht über allem anderen, meinen Sie?«

»Nein, das meine ich nicht, aber man soll sich im Alter noch sicher fühlen können. Und wenn es nach dem freien persönlichen Ermessen anderer Menschen geht, ob man sterben soll ...«

»Da haben Sie Recht. Die Problemstellung ist ungeheuer schwierig. Eigentlich glaube ich nicht, dass sich das gesetzlich regeln lässt, aber man könnte ein wenig ... pragmatisch sein«, hatte Wad gesagt.

Karin hatte ihm Recht geben müssen, doch als sie auf dem Weg zu der Tante das Gespräch analysierte, kam sie zu dem Schluss, dass Jörgen Wad in Wirklichkeit gesagt hatte, dass er einen Verdacht auf Sterbehilfe gehabt, doch, so wie die Situation nun einmal war, keinen Grund zu Nachforschungen gehabt hatte.

Und hatte er nicht Recht? Warum kreiste sie um diesen banalen Todesfall? War sie dabei, den Sinn für das Angemessene zu verlieren?

Auf dem Parkplatz des Altenheims standen Sune Kwium und Inger-Margrethe Jörgensen.

»Und, haben Sie das Inselleben studiert?«, fragte Kwium.

Karin nickte und er fuhr fort: »Sie sollten wissen, dass alles wieder seine Ordnung hat. Inger-Margrethe hat den Satanisten gefeuert.«

»Ich weiß.«

»Werden Sie darüber schreiben?«, fragte die Centerleiterin.

»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Karin, nur um sich abzusichern.

»Dazu besteht kein Grund. Alle sind zufrieden«, sagte Kwium und wandte sich an Inger-Margrethe: »Ja, dann komme ich Montagabend mit dem Umzugswagen und räume Vaters Wohnung.«

Sie sagte: »Und du hast nichts dagegen, dass ich in seinem Protokoll lese? Es ist ja eine Art Beurteilung des Personals und wir können bestimmt etwas daraus lernen.«

»Natürlich nicht, Inger-Margrethe.«

Und wie um die Intimität zwischen ihnen zu erklären, wandte er sich an Karin: »Wir sind alte Klassenkameraden, Inger-Margrethe und ich. Vater war unser Lehrer.«

»Ein richtig guter Lehrer, dem wir viel zu verdanken haben«, sagte Inger-Margrethe.

»Streng, aber gerecht«, fügte Sune Kwium hinzu.

»Schön, ich muss zu Tante Agnes. Sie will Karten spielen«, sagte Karin.

Sie haben den Knaben gefeuert, der sauber gemacht hat. Er stand mit dem Satan im Bunde, heißt es.«

Agnes kaute nachdenklich auf ihrem Zigarillo.

»Ja, das ist jetzt modern«, antwortete Karin und erzählte von ihrem Besuch bei den Satanisten und der Geisterbeschwörung, bei der man den Satanisten beschuldigt hatte.

»Mir fällt es schwer zu glauben, dass er das gewesen sein soll«, sagte Agnes.

»Glaubst du immer noch, dass Gustav Kwium ermordet worden ist?«, fragte Karin.

Agnes nickte.

»Und unsere Centerleiterin Inger-Margrethe glaubt das auch. Sie hat den ganzen Tag seine Wohnung durchstöbert und jedes einzelne Blatt Papier umgedreht. Ich weiß es von Johanne und Kaj, die auf demselben Gang wohnen.«

»Er war doch ein sehr alter und sehr kranker Mann«, warf Karin ein, aber Agnes überhörte es und fuhr fort: »Und man stellt so seine Vermutungen an, wer der Nächste sein wird.«

»Wer stellt Vermutungen an?«

»Johanne und Kaj.«

»Also Agnes, hier wird niemand umgebracht!«

»Ja, das sagst du«, murmelte Agnes. »Aber irgendjemand weiß es scheinbar besser.«

»So, und jetzt packst du die Spielkarten ein, Agnes«, sagte Karin resolut. »Wie lange spielt ihr normalerweise?«

»Bis die Flasche leer ist.« Agnes lachte. »Es wird wohl nach Mitternacht werden, aber darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Jens Lyn ist einer der Mitspieler, er kann mich nach Hause fahren.«

»Doktor Wad hat mich für morgen Abend zum Abendessen eingeladen«, erzählte Karin, während sie den Rollstuhl zusammenklappte, damit er ins Auto passte.

»Hat er das? Ja, amüsier dich nur, aber pass auf. Man erzählt sich, dass er ein Schürzenjäger ist. Ich habe gehört, dass er siebenmal verheiratet war und 13 Kinder hat!«

»Aber das spricht doch nur für ihn. Ich freue mich richtig!«, antwortete Karin. Und fügte, als sie hinter dem Steuer saß, hinzu: »Steht er auch im Verdacht, die Leute im Altenheim umzubringen?«

»Jedenfalls spart er nicht an Medikamenten. Er hat mir alles Möglichen angeboten, Paracetamol und Gichtpillen und so.«

Im Büro der Centerleiterin Inger-Margrethe Jörgensen brannte Licht. Die halbe Nacht las sie in Gustav Kwiums hinterlassenen Aufzeichnungen über das Altenheim und dessen Personal. Alle hatten Noten bekommen, sie selbst inklusive, und in vielen Beziehungen hatten die Texte Ähnlichkeit mit den Ermahnungen, die während der Schulzeit in ihren Mitteilungsheften gestanden hatten.

Darüber hinaus enthielt das Buch Zitate und Bibelstellen, die er sich offenbar hatte merken wollen, sowie kurze Betrachtungen und Gedächtnishilfen. Eine Reihe kleiner Notizen, in denen es um Strafe ging, erregte ihre Aufmerksamkeit. Hatte der religiöse Lehrer sich schließlich doch vor der Hölle gefürchtet? Die allerletzte Eintragung im Protokoll lautete: »Heute kommt die Strafe«. Aber es hatte schon ungefähr einen Monat vor seinem Tod angefangen: »Ich hatte die Strafe vollkommen vergessen«. »Ich fürchte die Strafe trotz allem« und: »Ich hoffe, dass das nicht der Tag der Strafe ist.«

Er war schwächlich gewesen, aber nicht im eigentlichen Sinne dement. Es war seltsam, dass das Thema Strafe schließlich zu einer Art fixen Idee bei ihm geworden war. Sune hatte auch nicht verstehen können, was sich im Gemüt des Vaters gerührt hatte. Gustav Kwium war ein Mann gewesen, den im Himmel eher Belohnung als Strafe erwarteten sollte.

Die Centerleiterin teilte die Abendmedikamente selbst aus. Gleichzeitig legte sie ein paar Fallen aus. Sie hatte nämlich entdeckt, dass aus den verschlossenen Depots der alten Leute Medikamente verschwanden. Die Täterin musste unter den beschäftigten Helferinnen sein und sie wollte versuchen, die Schuldige zu entlarven. Sie notierte sich, wer auf den verschiedenen Abteilungen Dienst hatte und wo die verlockenden Medikamente deponiert waren.

Draußen auf dem Gang schlurfte die senile Johanne in Unterwäsche mit ihrer Gehhilfe herum. Sie guckte in alle Zimmer und schien nach etwas oder nach jemandem zu suchen.

Als sie Inger-Margrethe erblickte, steuerte sie auf sie zu und fragte: »Wer bist du?«

»Das weißt du doch. Ich bin’s, Inger-Margrethe, ich bin die Krankenschwester und du weißt genau, dass du nachts nicht herumlaufen und die anderen stören sollst. Jetzt bringe ich dich in dein Zimmer und ins Bett.«

»Nein, vielen Dank, ich will nicht die Zähne in den Hals geschoben bekommen!«

»Ja, aber liebe Johanne. Das bekommst du doch auch nicht. Ich lege sie in dein Zahnglas.«

»Ihr habt Gustav die Zähne ganz tief in den Hals geschoben. Wenn ich sie nicht wieder zurechtgeschoben hätte, wäre er bestimmt keine schöne Leiche gewesen!«

»Hast du Gustavs Zähne zurecht geschoben? Das war gut. Kannst du mir nicht ein bisschen mehr darüber erzählen? Wann hast du Gustavs Zähne zurecht geschoben?«

Inger-Margrethe Jörgensen nahm Johannes Hand und führte sie zu einem der hochlehnigen Stühle, die im Gang standen.

»Nimm die knochige Hand weg! Du bist nicht die, für die du dich ausgibst. Du wirst mich nicht beerben!«

»Nein, warum sollte ich das auch. Wir sind nicht miteinander verwandt, Johanne.«

»In Wirklichkeit bist du die Tochter des Holzschuhmachers aus Naestved, aber du glaubst, du bist die Königin von Saba«, knurrte Johanne.

Inger-Margrethe Jörgensen gab auf. Johanne glitt aus dem geistigen Dunkel hinaus und wieder hinein und jetzt befand sie sich außerhalb jeder intellektuellen Reichweite.

Karin Sommer erwachte schweißgebadet und wusste, dass jemand gelogen hatte. Oder dass alle logen. Oder dass eine große Lüge alle kleinen Lügen überdeckte. Eine große Lüge, die wie eine Nebelbank über Skejø lag. Woher kam dieses Gefühl? War es ein Traum, den sie schon wieder vergessen hatte? Oder war es das schleichende Gefühl, außen vor zu stehen? Außerhalb der Geschichte dieses Ortes und der kollektiven Geheimnisse seiner Bewohner?

Sie schaltete das Licht ein und sah auf die Uhr. Es war erst drei und sie war hellwach und müde zugleich. Das sah ganz nach einer dieser unfreiwilligen, wachen Nachtstunden mit Gedankenchaos, Angst und Selbstvorwürfen aus. Warum also nicht gleich aufstehen und arbeiten? Sie schaltete den PC ein und stöberte in ihren Büchern herum. Sie lagen in meterhohen Stapeln auf Tante Agnes’ Kacheltisch mit Hunderten von gelben Klebezetteln, die herausguckten, und überall auf dem Boden stapelten sich Ausdrucke und Kopien, die nach Themen und Kapiteln geordnet waren.

Die Idee zu dem Buch über das Wesen der Hexenjagd war ihr vor ein paar Jahren bei der Feier ihres 30-jährigen Berufsjubiläums als Kriminalreporterin gekommen, als einer ihrer Kollegen in seiner Rede auf all die Jagden zu sprechen gekommen war, an denen sie teilgehabt hatte: Die Jagd auf Schmuggler, die Jagd auf Rauschgifthändler, die Jagd auf Hintermänner, die Jagd auf Rocker, die Jagd auf Pädophile, die Jagd auf die Leute der alternativen Tvind-Schule, die in Verbindung mit Sektenwesen in Verruf geraten war, die Jagd auf Menschenschmuggler, die Jagd auf Terroristen – und was immer als Nächstes gekommen war.

Sie hatte gesehen, wie eine Welle der Hysterie die nächste ablöste, wenn die Feinde der Gesellschaft identifiziert waren. Sie hatte gesehen wie Sondergesetze entstanden und allgemeine Rechtsgrundsätze zerfielen und sie hatte begonnen, Ablaufmuster festzustellen – die Anatomie zu skizzieren, wie sie es ausdrückte. Hatte gesehen, wie Stimmungen gemacht wurden und welche Auswirkungen es auf den Rechtsstaat hatte, wenn man einem reellen oder einem eingebildeten Feind gegenüberstand.

Wenn wir kollektiv wissen, dass der Feind böse ist, können wir bei der Beweisführung Abstriche machen. Und wenn sich keine Beweise finden, ist das nur ein verschärfender Umstand, der auf die Schuld des Feindes hinweist. Er ist so durchtrieben, gerissen und böse, dass man weder Beweise noch Zeugen aus der Erde stampfen kann.

Bei ihrer täglichen journalistischen Arbeit nützte ihr diese Einsicht nicht viel. Sie konnte versuchen, dem entgegenzusteuern und ab und zu einen Kommentar darüber zu schreiben, dass die Gesetze gerade diejenigen schützen sollten, denen die schlimmsten Verbrechen zur Last gelegt wurden. Aber das ließ ihre Aktien in der Chefetage nicht gerade steigen und im Redaktionssekretariat stand sie in dem Ruf, pingelig und schwierig zu sein, wenn sie zu kaltem Blut und kühlem Kopf riet.

Mit dem Kampf für die Rechtssicherheit von Rockern lassen sich nun mal keine Zeitungen verkaufen – darin konnte man Adam Lorentzen nur Recht geben.

So war die Idee zu dem Buch entstanden und die Verabschiedung des Terrorpakts durch die Regierung hatte den letzten Anstoß gegeben. Eine neue internationale Hexenjagd hatte begonnen.

Es war schwer, denn wer war nicht gegen den Terror? Wer war nicht gegen Verbrechen, Tod und Leiden? Wie sollte sie ihren Kernpunkt verständlich machen, dass es bei der Jagd auf das Böse um Spielregeln und Fairness ging? Dass der Rechtsstaat einen kühlen Kopf bewahren musste, wenn die Gefühle kochten.

Nein, damit ließen sich keine Zeitungen verkaufen – und Bücher wahrscheinlich auch nicht. Aber sie musste das Buch schreiben – um ihrer selbst willen, um das Bedürfnis, diese Einsicht weiterzugeben, zu befriedigen. Ein Ausdruck gewaltiger Egozentrik oder Missionierungsdrang? Das spielte keine Rolle. Mochte man sie ruhig als politisch korrekt oder kulturradikal bezeichnen. Das Buch musste geschrieben werden.

Die Robinson-Morde

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