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I Frühe Kindheit

München

Ich habe die Siebzigerjahre als eine Zeit wahrgenommen, in der alle Erwachsenen zutiefst politisch waren, ständig diskutierten, viel lasen, demonstrierten und sehr aufgeregt waren. Meine früheste Erinnerung: Als fast Dreijährige wurde ich auf dem Balkon vom Enthusiasmus der vorbeiziehenden Demonstranten mitgerissen und stimmte, so laut ich konnte, begeistert in das Ho-Ho-Ho-Chi-Minh unten auf der Straße ein. Schon sehr früh interessierte ich mich auch für Bücher. Ich war leidenschaftliche Daumenlutscherin, und wenn mein Böti, eine alte zerfetzte Stoffwindel, in der Wäsche war, räumte ich großflächig die Bücherregale meiner lesebegeisterten Eltern leer und wählte meine nächste Lektüre, indem ich eine Seite aufschlug, eine Ecke abriss, über meinen Daumen faltete und sie las, respektive abnuckelte.


Beim »Lesen«

Mein Vater fristete nach Engagements in Konstanz und Braunschweig relativ frustriert eine Spielzeit am Residenztheater in München. Während draußen beinahe täglich gegen die Vietnampolitik demonstriert wurde, fanden im Theater hitzige Auseinandersetzungen zwischen Bühne und Zuschauerraum statt. Das Publikum forderte progressives Theater.

Eines Tages brachte mein Vater eine Schachtel mit einem Hundebaby nach Hause. Jemand hatte sie einfach im Garderobengang abgestellt, mit einem Zettel, auf dem »Bitte mitnehmen!« stand. Sofort nahm ich mich des Hundebabys an und taufte es auf den Namen Übü. Im Prinzip nannte ich zu dieser Zeit alles Übü, weil ich das Wort Rüssel noch nicht sagen konnte und geradezu besessen von Elefantenrüsseln war …

Durch Übü bekam ich zumindest für ein Jahr – danach wurde er zu meiner größten Empörung von meinen Eltern weggegeben, weil in der nächsten Wohnung, die wir im Begriff waren zu beziehen, Hunde verboten waren – einen Eindruck, wie sich das Leben mit einem Geschwisterchen anfühlen würde. Übü, eine wilde Mischung aus Chow-Chow, Schäferhund und noch einigem mehr, brachte regelmäßig meine mühevoll errichteten und fein ausbalancierten Holzklötzchentürme zum Einsturz, woraufhin ich als Vergeltungsmaßnahme stets sein gesamtes Feuchtfutter herunterwürgte. Ich knabberte übrigens auch mit Begeisterung die säuerlich schmeckenden Schwefelköpfe von Streichhölzern ab – ganze Schachteln voll, mit Übü unter dem Tisch sitzend, während die Erwachsenen über uns langweilige Sachen diskutierten.

Nicht selten brachte Übü meine Mutter und mich in Situationen, in denen wir von aggressiven Passanten beinahe körperlich angegriffen wurden. Er hatte die Angewohnheit, mit einem extralangen Stock im Maul zwischen den Beinen der Fußgänger hindurchzurennen und sie mit gezielten Stockschlägen in die Kniekehle reihenweise zu Fall zu bringen. Nicht gerade sehr höfliche Bayern schrien uns »Sie Wühdsau!« hinterher. Wurden wir zusätzlich auch noch verfolgt, schnappte mich meine Mutter schnell und rannte mit uns in den schützenden Englischen Garten. Während meine Mutter einmal versuchte, Übü den Stock zu entreißen, nützte ich die Zeit dazu, mir so viele Vogelbeeren wie nur irgend möglich in die Nase zu stopfen. Der Ausflug endete mit meiner ersten Blaulichtfahrt ins Krankenhaus …


Meine Eltern und Übü, München 1971

Stuttgart

1972 zogen wir nach Stuttgart um. Übü kam auf einen Bauernhof, wo ihm ein Jahr später eine Kuh das Genick brach.

Mein Vater war vom umstrittenen, weil als zu unpolitisch geltenden Hans Peter Doll engagiert worden, und ich machte die Bekanntschaft mit für mich zutiefst beeindruckenden Schauspielerpersönlichkeiten wie Kirsten Dene, Lore Brunner, Therese Affolter, Branko Samarovski, Peter Sattmann, Traugott Buhre, Edith Heerdegen und Martin Schwab, der mich mit seinen weißen Synthetikrollkragenpullovern irgendwie immer an Cary Grant erinnerte …

Komischerweise wurde ich ausgerechnet in einen katholischen Nonnenkindergarten geschickt, obwohl meine Mutter Nonnen hasste und, wie sie mir am Höhepunkt meiner Engelverehrungsphase mitteilte, eine erklärte Atheistin war und an Engel schon gar nicht glaubte. Sie hatte selber eine katholische Nonnenschule besucht und einschlägige Erfahrungen gesammelt. Aber der Kindergarten war zu Fuß von unserer Wohnung leicht zu erreichen, man musste einfach nur die Treppen hinunterlaufen – in Stuttgart befand sich alles entweder oben auf einem Berg oder unten im Tal.

Bereits an meinem ersten Kindergartentag beschloss ich kurz vor dem Mittagessen, dass dies nicht der passende Ort für mich war. Die seltsamen Kopfbedeckungen der Nonnen, die nicht nur die Haare verhüllten, sondern auch das Gesicht nur eingeschränkt freigaben, waren mir suspekt, außerdem fand ich, dass die Pinguinfrauen gemein funkelnde, kleine Äuglein hatten. Lächelnd, aber bestimmt nahmen sie mir das Spielzeug, mit dem ich gerade beschäftigt war, aus der Hand, da sie befanden, dass nun Zeit für das Mittagsgebet und das Mittagessen war. Die freundliche Art, mit der sie das sagten, war für mich leicht zu durchschauende Verlogenheit, hinter der ich das Schlimmste vermutete. Abgesehen davon beteten wir zu Hause nie und Hunger hatte ich auch gerade nicht. Ich lächelte genauso verlogen zurück, gab ihnen die Spielsachen und teilte ihnen freundlich mit, ich müsse noch auf die Toilette, um meine schmutzigen Hände zu waschen. Immer noch lächelnd, zog ich mich langsam in den Vorraum zurück, wo sich die Toiletten befanden, wartete, bis ich nicht mehr beobachtet wurde, schlüpfte geräuschlos durch die Eingangstür in den Garten und kletterte beherzt und unbemerkt über den Zaun und marschierte nach Hause. Meine Mutter war sehr überrascht, als ich plötzlich klingelte und freudig »Bin da-a!« durch die Gegensprechanlage piepste. Sie fragte, was denn geschehen sei. Nach meiner dramatischen Schilderung der empörenden Ereignisse wurde sie furchtbar wütend, nahm mich an der Hand und wir gingen zurück zum Nonnenkindergarten. Ich wurde erstmals Zeuge, wie meine Mutter jemanden wegen mir regelrecht zur Sau machte, wie man so schön sagt. Sie schrie sich, glaube ich, ihren ganzen Kindheitsärger über katholische Nonnen, gepaart mit der Wut, weil man ihr Kind nicht gut betreut hatte, von der Seele. Die Pinguinfrauen blickten mit verschreckten Maulwurfsäuglein zu Boden und machten verbissen lächelnde Mündchen.

Daraufhin kamen meine Eltern zu der Ansicht, ich sei hochsensibel, und meldeten mich in einem Waldorfkindergarten an. Dort blieb ich freiwillig.

Kabale und Liebe (1973) war mein erster Theaterbesuch. Ich war vier Jahre alt und derart begeistert, meinen Vater auf der Bühne zu sehen, dass ich mich nach nur wenigen Minuten auf den Klappstuhl stellte, in Windeseile splitternackt auszog und meine Kleider ins Publikum schleuderte, weil mir vor Aufregung so heiß geworden war.

Im Herbst 1975 übernahm Claus Peymann die Intendanz am Staatstheater Stuttgart, und ich kam in die Freie Waldorfschule am Kräherwald, gewissermaßen also in den Adlerhorst der Waldorfschulen. Auch hier machte ich bereits am ersten Tag einen Abgang. Nach der Begrüßungsfeier, bei der jeder Erstklässler eine Sonnenblume von einem Abiturienten überreicht bekam, beschloss ich, dass es nun genug mit der Schule war und trottete nicht brav mit den anderen Schulanfängern in die erste Klasse, sondern überredete ein kleines Mädchen, mit mir abzuhauen und ein Eis essen zu gehen. Als wir eineinhalb Stunden später mit eisverschmierten Gesichtern zur Schule zurückschlenderten, weil wir dort von den Eltern abgeholt werden sollten, erwarteten uns vier Polizeibusse und ein Suchtrupp mit Hunden. Im benachbarten Kräherwald waren des Öfteren Kinder verschwunden. Wir blickten in eine Runde von etlichen besorgten Lehrern, Mitschülern und völlig aufgelösten Eltern.

Als Initiatorin dieser Missetat musste ich zum Schulleiter. Gemeinsam mit meiner Mutter stieg ich die knarzende Holztreppe des alten ehrwürdigen Schulgebäudes für die Oberstufe hinauf, wo sich – logischerweise ganz oben – das Büro des Direktors befand. Er wirkte sehr ausgezehrt, blickte mich ernst an und begann mir ins Gewissen zu reden. Wie immer, wenn mich etwas emotional überforderte, senkte sich in meinem Inneren ein dickes Eisentor. Ich hörte zwar peripher zu, war aber innerlich vollkommen distanziert und zog mich in eine meiner Fantasiewelten zurück. Erholt und gestärkt kehrte ich daraus zurück, als mich meine Mutter mit dem Ellbogen anstieß. Lächelnd schüttelte ich die knochige Hand des Direktors und nickte. Das schien mir in diesem Moment angebracht. Im Treppenhaus blieb meine Mutter plötzlich stehen, zog die Augenbrauen nach oben und sah mich fragend an. Ich grinste, senkte den Blick und sagte: »Tut mir leid …!« Ich dachte, wir könnten jetzt endlich nach Hause gehen, aber weit gefehlt. Da ich dem Direktor ja nicht zugehört hatte, wurde ich nun von meiner Mutter über den nächsten Programmpunkt aufgeklärt. Ich musste mich bei jedem meiner neuen Lehrer vorstellen, ihm die Hand geben – ein geradezu exzessiv betriebenes Ritual aller Anthroposophen – und mich entschuldigen. Das Ganze in einem unvergesslichen Outfit, einem schwarzen Samthosenanzug, der mir eigentlich schon zu klein war. Meine Omi mütterlicherseits, die wegen Geldmangels meine gesamte Garderobe strickte und nähte und dabei immer nur Reste verarbeitete, was gelegentlich zu äußerst gewagten Farbkombinationen führte, hatte an den zu kurz gewordenen Ärmeln und Beinen meines Hosenanzugs rotweiß geblümten Stoff angestückelt.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren

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