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Bodensee

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Am Bodensee liegt der Ort, an dem sich meine Eltern bei einer Party im Keller des Hauses der Familie meines Vaters zum ersten Mal begegneten. Meine Mutter war damals sechzehn und hatte ein Gipsbein, mein Vater war zweiundzwanzig und erlag sofort ihrer Ausstrahlung. Die Sommer am Bodensee gehören zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Wenn ich jemals so etwas wie ein geografisches Heimatgefühl gehabt habe, dann für diese Region. Hier wurde meine Mutter 1947 in Weingarten geboren, und mein Vater zog mit seinen Eltern, seinem jüngeren Bruder Christian und seiner noch jüngeren Schwester Barbara als Teenager an den Bodensee, wo mein Großvater Wilhelm Voss in Wasserburg das Haus Roseneck gekauft hatte. Es war ein wunderschönes, herrschaftliches weißes Haus, von Duftrosen und Weinbergpfirsichen umrankt, und stand in einem parkähnlichen alten Garten, durch den sogar ein kleiner Bach floss. Dort lebten, als ich geboren wurde, Marion, die Mutter meines Vaters, ihre Mutter, genannt Großmutter Scheinhütte, und ihre Schwiegermutter, genannt Großmutter Voss, die sie wie zuvor auch ihren Mann aufopfernd bis zu ihrem Tod pflegte. Dann gab es noch eine sehr herzliche Haushälterin namens Frau Schwärzler, die immer beim Bügeln sang, und später die beiden Pudel Huschi (cognacfarben) und Goldi (weiß). Goldi, der hochsensibel war und sich sofort auf den Rücken warf, wenn man seinen Namen etwas strenger sagte, war mein Liebling. Von ihm lernte ich, mich auf der Stelle zu ergeben, wenn jemand auch nur den Anschein erweckte, als wolle er mich angreifen.


Ansicht von Wasserburg


Mit Großmutter Marion


Meine Eltern und ich vor Haus Roseneck


Mit meiner Urgroßmutter, genannt »Großmutter Voss«


»Großmutter Scheinhütte«, eigentlich meine Urgroßmutter

In Wasserburg verbrachten wir – anfangs aus Geldmangel – immer die gesamten Sommerferien, also zwei Monate. Dann, als ich etwas älter war und wir kleine Italienreisen, etwa nach Elba oder Sardinien, machen konnten, zumindest den Großteil des Sommers. Der geheimnisvolle Garten war einer meiner Lieblingsaufenthaltsorte, gerne auch an der Hand von Großmutter Scheinhütte, die täglich frische Rosen für den Esstisch schnitt. Sie war eine zierliche, weißhaarige Dame von Welt, immer im Twinset oder Seidenkleid, mit Perlohrringen und Perlenkette, und beeindruckte mich über alle Maßen. Sie wirkte Respekt einflößend, war aber unglaublich gütig.

Großmutter Scheinhütte war gemeinsam mit ihrem Mann in ihren frühen Zwanzigern nach China ausgewandert, sprach fließend Chinesisch und vermittelte mir viel von der chinesischen Lebensphilosophie. Eines der Dinge, die ich bis heute von ihr verinnerlicht habe, ist das Gebot, dass man einen Menschen niemals sein Gesicht verlieren lassen darf, weil das unverzeihlich ist. Dazu erzählte sie mir, wie sie in Nanking im Gesandtenviertel in einem großen Haus mit Bediensteten gelebt hatte. Eines Tages war das gesamte Tischsilber verschwunden gewesen. Sie hatte gewusst, dass es ein ganz bestimmtes Dienstmädchen entwendet hatte. Statt dieses jedoch direkt darauf anzusprechen, hatte sie alle Bediensteten im Salon versammelt und verkündet, dass sie mit großem Bedauern festgestellt habe, dass das Tischsilber fehle, jedoch davon überzeugt sei, dass es bis zum nächsten Morgen wieder seinen Weg zurück in die Schublade finden würde. So war es dann auch gewesen …

Großmutter Scheinhütte brachte mir auch bei, vor Blumen, die ich in meiner Begeisterung für ihren betörenden Duft immer gierig in meinen Mund stopfte, Respekt zu haben, nur an ihnen zu riechen und höchstens vorsichtig eine Blüte mit der Hand zu liebkosen.


Rosenmahlzeit im Garten von Haus Roseneck

Im Garten gab es riesige alte Bäume, darunter eine Weide, die direkt am Bach stand. Darunter war es dunkel. Ich war einerseits magisch von dem glitzernden Rinnsal des Baches angezogen, dem feucht-modrigen Geruch nach Moos und der Hoffnung, einen Feuersalamander zu finden, hatte jedoch auch immer Angst davor, von irgendetwas aus dem Dunkel der Blätter gepackt zu werden. Der Großteil des Gartens bestand aus wunderschön gepflegtem Rasen mit vereinzelten Rosenbeeten, atemberaubend duftenden Flieder-, Jasmin- und Buddleja- (Schmetterlingsflieder-)Büschen, einem Kirschbaum, einem Klarapfelbaum mit köstlich säuerlichen, hellgrünen Früchten und einem gigantischen Nussbaum. Die Einfahrt war mit kleinen weißen Steinen bestreut, die immer herrlich knirschten, wenn ein Auto darüberfuhr, man darauf hin- und herrannte oder sich mit dem Fahrrad seinen Weg bahnte. Sie kündigten stets jede Ankunft im Haus Roseneck an.

Eine kleine Treppe führte zum Eingang des Hauses hinauf. Unten ging es von einem langen Gang gleich links in die gemütliche Küche, danach kam das Esszimmer mit einem großen runden Tisch, am Ende des Gangs stand eine alte dunkle Holzbank, auf der oft Großmutter Scheinhütte saß und Zeitung las, die Times. Oft schlief auch der kleinere orange Pudel Huschi unter der Bank und wartete, bis ich vorbeirannte und er mich in die Knöchel zwicken konnte. Rechts lag der Wohnsalon und davor führte noch eine steile Steintreppe hinunter in den Keller, der aus einer Waschküche bestand, wo es immer frisch duftete und stets warm und hell war. Von hier aus gab es auch einen Aufgang zum Garten. Rechts um die Ecke waren zwei weitere große Räume, in denen allerhand gelagert wurde und wo mein Vater und sein Bruder früher immer wilde Partys veranstaltet hatten. An den Wänden standen Regale mit Geschirr, Einmachgläsern, Hunderten Gläsern Marmelade, ganz hinten im schon sehr dunklen, feuchtkalten Teil war so ziemlich alles zu finden, von altem Spielzeug bis hin zu Gartengeräten, Fahrradreifen und zahllosen, bedrohlich wirkenden Riesenspinnen, die in jeder Ecke auf mich lauerten. Zu manchen Zeiten war meine Spinnenangst oder besser -hysterie so groß, dass ich schon beim sanften Kitzeln eines Grashalms aus einem Blumenstrauß in meiner Hand diesen schreiend in die Luft schleuderte und kopflos davonrannte. Eine Angst, die meinen Vater immer wieder dazu verführte, mich mit großen Spinnen, die er mit der Hand fing, zu erschrecken. (Als mittlerweile alleinerziehende Mutter habe ich mir mühsam antrainieren müssen, große Spinnen selber und ohne Schrei mit Glas und Papier zu fangen und aus dem Fenster zu befördern, damit mich mein Sohn nicht für einen Schwächling hält.)

Gleich rechts vom Hauseingang führte eine Holztreppe hinauf in den ersten Stock, wo sich die Schlafzimmer der beiden Urgroßmütter befanden, alle mit eigenem Waschbecken. Dann kamen das Bügelzimmer und das große Schlafzimmer, das ursprünglich meine Großmutter Marion mit meinem Großvater Wilhelm, der noch vor meiner Geburt an den Folgen eines Blutgerinnsels im Hirn gestorben war, bewohnten. Daran schloss sich ein luxuriöses Bad an. Eine weitere Holztreppe führte auf den sogenannten Dachboden, wo früher mein Vater und sein Bruder Christian ihre Zimmer hatten. Sie wurden von einem Gang getrennt, in dem sich geheimnisvolle Nischen und zwei Holztruhen, die voll mit alten Kleidern waren, befanden. Das waren meine Verkleidungskisten, und in einer fand ich einen prachtvoll bestickten chinesischen Hausmantel – mein Lieblingsstück. Ebenso machte ich mich hier oben auch immer wieder auf Schatzsuche, weil es hieß, die Vorbesitzer hätten im Krieg all ihre Wertgegenstände irgendwo in einem Geheimfach versteckt.

Am liebsten mochte ich das alte Zimmer meines Vaters. Es war ganz mit hellem Holz ausgekleidet, sehr verwinkelt und an den Wänden standen Hunderte von schwarzroten Krimis, die ich später alle verschlang. Es war sehr warm hier oben und aus dem kleinen Fenster hatte ich einen hervorragenden Blick über das Geschehen im Eingangsbereich des Gartens. Vom anderen Zimmer sah man auf den hinteren Teil des Gartens. Es wirkte immer ein wenig düster. Auch hier befanden sich allerhand kleine Schätze in einem weißen Wandschrank, wie etwa eine Schachtel mit Zinnsoldaten. Immer wieder versuchte ich, alleine in einem der beiden Zimmer zu übernachten, gab aber meistens mitten in der Nacht auf, weil ich zu große Angst hatte. In dem weniger hellen der beiden Zimmer veranstaltete mein Zauberonkel Christian, wie ich ihn in meiner grenzenlosen Faszination nannte, mit mir äußerst merkwürdige Spielchen oder Zaubertricks. Unter anderem nahm er mich auf den Schoß, spielte den bösen Räuber, der mich gefangen hatte, und rammte mir mehrfach ein Schnappmesser in den Bauch. Ich erschrak jedes Mal zu Tode, weil ich der Mechanik nicht vertraute. Christian hatte wunderschöne, große, hypnotische, grünblaue Augen, dunkles Haar, eine große Nase und eine sehr angenehme Stimme. Er sah meinem Großvater Wilhelm Voss sehr ähnlich. Aus der Brusttasche seines Hemdes schaute immer ein bisschen rotbraunes Fell heraus. Das sei Jimmy, erklärte er mir, eine Art Koboldwesen, das ihn immer begleitete und sich unsichtbar machen konnte. Es gelang mir nie, Jimmy zu fangen und dazu zu bringen, sich zu zeigen. Leider. Ich war meinem Onkel vollkommen verfallen und liebte ihn abgöttisch, weil er so geheimnisvoll war.

Ein weiteres kleines Experiment, das er mit mir machte, bestand darin, mich mit dem Kopf nach unten an eine Schaukelstange zu hängen und mir mit dem Löffel brühheißen Kakao einzuflößen, weil er sehen wollte, ob ich auch mit dem Kopf nach unten trinken könnte. Ich konnte es nicht, verschluckte mich furchtbar und wäre beinahe abgestürzt. Onkel Christian konnte auch Geldmünzen in seiner Hand verschwinden lassen oder Löffel durch Bananen zaubern.

Seit vielen Jahren schon ist mein Zauberonkel Christian verschwunden und wird sogar von Interpol gesucht. Er war spielsüchtig und hatte als Anwalt von den falschen Leuten, sprich der russischen Mafia, Geld veruntreut. Irgendwann tauchte eine Schachtel mit ein paar persönlichen Sachen von ihm auf. Es hieß, er sei wahrscheinlich nicht mehr am Leben, aber das glaube ich nicht.

Bei unseren Aufenthalten in Haus Roseneck fragte ich mich immer, wo eigentlich das Kinderzimmer meiner Tante Barbara gewesen war, die ich sehr mochte. Mein Eindruck war, dass sie es nicht so leicht gehabt hatte in dieser sehr männerverherrlichenden Familie. Es hieß, wenn mein Großvater Wilhelm zu Hause war, mussten ihm alle ergeben lauschen. Barbara war sechs Jahre jünger als mein Vater und erzählte, mein Vater habe sie ein wenig links liegen gelassen. Sie sah für mich wie eine echte Prinzessin aus, mit weißblonden leuchtenden Locken und großen blauen Augen.


Meine Tante Barbara, ihr Mann Beppo und ich

Sie war ein wenig schüchtern und lachte viel, insgesamt war sie zeitlebens sehr mädchenhaft. Ihr Mann, mein Onkel Beppo, war ein ziemlicher Angeber. Als er meine Tante kennenlernte, fuhr er ein rotes Sportcabrio. Marion erzählte, Beppo habe Barbara geheiratet, weil er dachte, sie käme aus einer wohlhabenden Familie – wegen des Hauses Roseneck. Als er merkte, dass es außer dem Haus keinen weiteren Reichtum gab, fing er an, sie schlecht zu behandeln. Sie erzählte, er habe Barbara geschlagen und die Treppe hinuntergestoßen. Barbara hatte zwei Kinder von ihm bekommen, was sowohl Marion als auch meine Eltern für Wahnsinn gehalten hatten, weil die Ehe damals eigentlich schon kaputt gewesen war. Barbara war, glaube ich, ein sehr unsicherer Mensch, konnte sich nicht wehren und hat wohl viel Leid in ihrem Leben erduldet. Ich hatte großes Mitleid mit ihr, aber auch mit meiner Cousine und meinem Cousin.

Das ganze Haus Roseneck zeugte von den vielen Jahren, die meine Familie väterlicherseits in China gelebt hatte. Überall hingen alte chinesische Stiche, standen Statuen und Vasen und im Wohnsalon befand sich ein leider immer verschlossener Vitrinenschrank voller kleiner Schätze wie Elfenbeinelefanten in allen Größen, winziger chinesischer Masken und Döschen. Ganz selten schloss meine Großmutter Marion ihn für mich auf, und ich durfte kurz die zerbrechlichen Kostbarkeiten in die Hand nehmen und aus der Nähe bewundern. China war allgegenwärtig, sowohl Marion als auch mein Vater kochten oft und hervorragend Chinesisch, und ich lernte sehr bald, mit Stäbchen zu essen. All dies erzeugte in mir schon früh ein Gefühl der tiefen Verbundenheit mit allem Asiatischen, den Menschen, ihrer Kultur und ihrem Essen.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren

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