Читать книгу Wer nicht kämpft, hat schon verloren - Grischka Voss - Страница 12

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Natürlich wollte ich nach diesem Einstand erst einmal raus aus dem Rampenlicht, was sich als schwierig herausstellte, da ich damals eines der wenigen Einzelkinder war, und das an einer Waldorfschule, wo die Durchschnittsfamilie vier bis fünf Kinder hatte. Einzelkinder waren dort eine suspekte, als bösartige Egoschweine verschriene Minderheit. Folglich antwortete ich auf die Frage meiner Mitschüler, ob ich noch Geschwister hätte, mit: »Ja, aber meine beiden älteren Brüder sind gerade bei einem schweren Verkehrsunfall gestorben!« Daraufhin wurde meine Mutter mit zahllosen Beileidsanrufen bombardiert. Meine kleine Geschichte flog auf und ich galt von da an nicht nur als Schulschwänzerin, sondern auch noch als Lügnerin.

Auch wenn ich kaum die Fähigkeit besaß, mich selbst zu verteidigen, war mein Bedürfnis, anderen zu helfen und sie zu beschützen, sehr groß. Kurz gesagt, ich hatte einen ausgeprägten Messiaskomplex. Stets kümmerte ich mich aufopfernd um jedes welke Pflänzchen, jedes verwundete Tier oder unbeliebte Kind – später kamen dann noch Männer dazu … Meine besten Freunde waren stets sehr schüchterne, skeletthaft dünne Mädchen oder Jungen, die sonst keine Freunde hatten, oder Brillenträger mit chronischem Mundgeruch, Sommersprossen und roten Haaren, im besten Fall waren sie auch noch Vollwaisen, die bei ganz strengen Zieheltern lebten.

Ich werde nie den stoischen Gesichtsausdruck des entführten Industriellen Hanns Martin Schleyer vergessen (1977 ). In regelmäßigen Abständen wurden in den Nachrichten Fotos von ihm gezeigt, mit einem demütigenden Schild um den Hals, auf dem die Anzahl der Tage seiner RAF-Gefangenschaft stand. Die Gefasstheit, mit der Schleyer in einer Videobotschaft den Staat anklagte, ihn einfach zu opfern, wühlte mich entsetzlich auf. Drei Tage vor seiner Ermordung richtete sein ältester Sohn einen verzweifelten Appell an Helmut Schmidt und die Regierung, den Forderungen der Geiselnehmer doch nachzugeben. Es zerriss mir beinahe das Herz vor Mitleid.

Das Gefühl der Ohnmacht im Angesicht einer derart dramatischen sozialen und politischen Entwicklung, die in einer Katastrophe zu enden drohte, gehört sicher zu den prägendsten Erfahrungen meiner Kindheit. 1972 waren die Anführer der Roten Armee Fraktion, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Holger Meins und Jan-Carl Raspe, wegen mehrfachen Mordes und Bombenanschlägen in Kaufhäusern und auf das Axel-Springer-Hochhaus verhaftet worden. Überall an den Stuttgarter Hauswänden prangte das RAF-Symbol und verbreitete eine angstvolle und aufgebrachte Stimmung unter der Bevölkerung. Die Stuttgarter schienen in zwei Lager gespalten zu sein, und es fanden regelrechte Generationenschlachten statt zwischen Studenten und jungen Leuten wie auch meinen Eltern und deren Eltern, die mit Vergangenheitsbewältigung beziehungsweise mit der Verdrängung derselben kämpften und sich in ihrem konservativen, materialistischen Weltbild bedroht sahen.

In den Nachrichten wurde über den Bau des neuen Gerichtsgebäudes berichtet, das extra für den Baader-Meinhof-Prozess neben dem Gefängnis in Stuttgart Stammheim errichtet worden war. Der Gerichtssaal hatte keine Fenster und Wände aus rohem Beton, er wurde mit Neonlicht beleuchtet, über den Hof war ein Stahlnetz gezogen worden, weil man Angst vor Befreiungsversuchen aus der Luft hatte. Immer wieder hörte man von unwürdigen Haftbedingungen. Holger Meins, einer der angeklagten Terroristen, trat in den Hungerstreik und starb noch vor Prozessbeginn an den Folgen. Das Bild seines bis aufs Skelett abgemagerten Körpers hat sich tief in meine Erinnerung eingegraben. Es hieß, die Inhaftierten würden durch Isolationshaft gequält und gedemütigt. Gleichzeitig begingen die RAF-Mitglieder der sogenannten zweiten Generation ein Terrorverbrechen nach dem anderen, um die Gefangenen freizupressen. Vertreter des Staates und der Wirtschaft, etwa Siegfried Buback und Jürgen Ponto, wurden regelrecht hingerichtet, Bombenanschläge folgten und das Flugzeug Landshut wurde entführt. Beinahe täglich waren die Menschen – so auch ich – hin- und hergerissen zwischen Mitleid mit den Terroristen, Entsetzen über ihre brutalen Morde und tiefem Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer.

Nach dem Sandmännchen um 19 Uhr setzte sich mein Vater jeden Abend zu mir vor den Fernseher in Erwartung der Tagesschau. Wir hatten uns dafür ein nervenaufreibendes Ritual zurechtgelegt: Beide zogen wir die schlimmsten Grimassen, und zwar bis kurz vor dem Gong, mit dem die Tagesschau um 20 Uhr begann. Wenn man die Grimasse bis über den Gong hinaus beibehielt, blieb sie für immer und ewig im Gesicht haften – behauptete mein Vater zumindest …

Im Jahr 1975 begann der Stammheim-Prozess. Man sah eine Heerschar von Polizisten auf dem Gelände des Gerichtsgebäudes, das an eine Festung erinnerte. Die Richter ließen sich von den Beschimpfungen seitens der Angeklagten provozieren, das Verfahren selbst hatte eine Art polizeistaatlichen Charakter, was den Vorwurf der Angeklagten diesem Staat und seiner Justiz gegenüber nur bestätigte, angefangen von den sogenannten Zwangsverteidigern und haftbedingten Gesundheitsschäden. Ein Jahr nach Prozessbeginn erhängte sich Ulrike Meinhof in ihrer Zelle. Es wurde bekannt, dass Briefe zu den anderen Gefangenen durchgelassen worden waren, die Stricke enthielten und die Aufforderung, das Gleiche zu tun.

Der Rechtsanwalt und spätere Politiker Otto Schily bezeichnete das Verfahren damals als »systematische Zerstörung aller rechtsstaatlichen Garantien«.

Im Deutschen Herbst 1977 überschlugen sich die Katastrophen und gipfelten in der Befreiung des entführten Flugzeugs Landshut in Mogadischu durch ein Kommando der GSG9, einer Spezialeinheit der deutschen Bundespolizei. Noch in derselben Nacht nahmen sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe das Leben – ein bis heute von Mordtheorien umranktes Ereignis – und das Entführungsopfer Hanns Martin Schleyer wurde erschossen. Nur wenige Tage danach sah man Bilder von Helmut Schmidt bei seiner Trauerfeier. Schmidt, der Mann, der hart geblieben war und sich von den Terroristen nicht in die Knie hatte zwingen lassen. So charismatisch ich den kettenrauchenden Politiker auch immer gefunden habe, so sehr hasste ich ihn damals – als Achtjährige – für seine Härte.

Die Folge all dieser Ereignisse war eine regelrechte Hetzjagd nach geistigen Helfern des Terrors und seinen Sympathisanten. Die machte naturgemäß auch nicht vor dem Theater halt, dem Ort, wo ja angeblich Menschen ohne Moral ihr Unwesen trieben, Orgien feierten, dem Alkohol und Drogen frönten, provozierten und politisch verdächtig waren. Aus diesem Grund wurde ich als Kind übrigens so gut wie nie zu Geburtstagspartys eingeladen. Claus Peymann war wegen seines politisch engagierten Spielplans ohnehin suspekt, zusätzlich hatte er aus Mitleid einhundert D-Mark für die Zahnbehandlung der inhaftierten Terroristen gespendet. Sein Kopf wurde als einer der ersten gefordert, er blieb jedoch, wie damals auch Helmut Schmidt, hart und war bis zum Ende seiner Spielzeit im Jahr 1979 Intendant des Stuttgarter Staatstheaters. Dennoch nahmen ihn diese Anfeindungen, glaube ich zumindest, sehr mit: Ich erinnere mich an ihn in dieser Zeit als einen an ein trauriges Walross gemahnenden, schnurrbärtigen Mann, der sich ab und an auf dem Schoß von Frauen sitzend – ich kannte es bis dato nur umgekehrt – trösten ließ. Jedenfalls tat er mir sehr leid.

Mit einem Mal waren alle, die mit dem Theater zu tun hatten, verdächtig. Meine Mutter und ich wurden einmal, nachdem wir meinen Vater ins Theater begleitet hatten, beim Spaziergang über den Rasen des Stuttgarter Schlossparks plötzlich von zwei bedrohlich wirkenden Männern, die wie aus dem Nichts aufgetaucht waren, flankiert. Sie drängten sich zwischen meine Mutter und mich und wollten von meiner Mutter wissen, woher sie käme, wohin sie wolle, und forderten ihren Ausweis. Wir waren beide furchtbar erschrocken und hatten Angst. Meine Mutter begann aggressiv zu werden, fragte, wer die Herren seien und was das solle. Die Männer behaupteten, Polizisten in Zivil zu sein. Meine Mutter forderte sie dazu auf, ihr erst einmal ihre Polizeiausweise zu zeigen, was sie nicht taten. Meine Mutter selbst hatte keinen Pass bei sich, nur ihren Studentenausweis. Der gelte nicht, sagten die Männer und packten sie rechts und links am Arm. Sie schrie, man solle sie gefälligst loslassen. Die Männer antworteten, sie müsse mit aufs Revier, bis jemand mit ihrem Pass dorthin käme. Meine Mutter wiederum schrie, dass das gänzlich unmöglich sei, und bat sie, wenigstens das Kind in Ruhe zu lassen. Als die Männer infrage stellten, ob ich überhaupt ihr Kind sei und nicht vielleicht eine Tarnung, geriet ich in Panik und bekam Angst, die Männer würden meine Mutter einfach verschleppen und mich alleine im dämmrigen Park zurücklassen. Ich fing an zu weinen und rief laut: »Hilfe, die nehmen meine Mama mit!« Das wurde den Herren rasch unangenehm, weil nun auch erste Spaziergänger stehen blieben. Sie ließen meine Mutter los. Einer der Spaziergänger kam näher und fragte, was da los sei. Ich schluchzte und erklärte ihm, dass sie meine Mutter wegbringen wollten. Auch meine Mutter fing an zu weinen. Der Spaziergänger forderte die Männer daraufhin auf, sich auszuweisen, und fragte, was sie denn von meiner Mutter wollten. Ihm zeigten die Männer ihren Polizeiausweis sofort und antworteten, meine Mutter sei wahrscheinlich eine gesuchte Terroristin und leiste Widerstand gegen die Staatsgewalt, man müsse sie daher mitnehmen und ihre Personalien überprüfen. Ich weinte vor Angst und Empörung, dass meine Mutter eine Verbrecherin sein sollte und eingesperrt würde, noch lauter. Unangenehm berührt von meinem Geheule, lenkten die Männer etwas ein und fragten, ob meine Mutter freiwillig mitkommen würde auf die Wache. Sie dürfe dann auch jemanden anrufen, der sie legitimieren könne. Ich packte ganz fest die Hand meiner Mutter und war mir in diesem Moment ganz sicher, dass ich sie gerettet hatte.

Die Eltern meiner Mutter waren gerade bei uns zu Besuch, und als schließlich mein Opa mit dem Pass und seiner Aura als Berufssoldat in beigem Kurzarmhemd, Bügelfalten-Shorts, weißen Socken und beigen Leisetretern (meine Bezeichnung für unerotische Kreppsohlenschuhe) in Erscheinung trat, galten wir sofort wieder als ordentliche Staatsbürger und durften gehen.

Ich mochte meinen Opa nicht besonders, weil er ein Grapscher war, und hätte ihm am liebsten gegen das Schienbein getreten, als er meiner Mutter vorwarf, man gehe auch nicht einfach so verlottert gekleidet – sie trug Jeans, Stiefel, ein altes Hemd meines Vaters, eine Schafwollweste und eine Kassenbrille – über einen Rasen, noch dazu ohne Handtasche!

Kurz darauf konnte ich auch meinen Vater aus einer ähnlich prekären Situation retten. Wiederum weinte ich lauthals … Wir waren gerade in der Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses einkaufen oder besser gesagt klaufen, wie es familienintern genannt wurde. Da meine Eltern fast kein Geld hatten, war es absolut üblich, dass das eine oder andere Lebensmittel einfach geklauft wurde, meine Lieblingswurst, die Gelbwurst, etwa. Ich war darauf trainiert, sie in Windeseile auf dem Weg zur Kasse hinunterzuschlingen und den Wurstzettel dezent verschwinden zu lassen. Auch für meine Versorgung mit Süßigkeiten war ich selbst verantwortlich. Meine Spezialität waren gezuckerte Erdbeeren, die innen aus einer Art Marshmallowteig bestanden. Nach dem Vertilgen der ganzen Tüte war mir regelmäßig kotzübel. Auch Spielsachen wie zum Beispiel klitzekleine Gabeln und Messer für meine Puppenstube oder ähnliche Accessoires fanden ihren Weg in meine Hosentasche. Meine Technik war zwar extrem auffällig, aber immer erfolgreich. Ich stellte mich vor das Objekt der Begierde, betrachtete es lange, nahm es in die Hand, legte es wieder zurück, schaute wieder, nahm es erneut in die Hand und wiederholte diesen Vorgang etliche Male. Irgendwann ließ ich es dann einfach in der Hand und tat nur so, als würde ich es zurücklegen. Das heißt also, meine Technik bestand im langsamen Ermüden eines etwaigen Beobachters, bis dieser irgendwann gelangweilt wegschaute … Meine Mutter hingegen steckte die geklauften Sachen einfach in ihre riesige Handtasche, mein Vater ließ die Beute durch die stets löchrigen Taschen seiner Jacken oder seines braunen Plüschmantels ins Futter gleiten.

Es war kurz vor Weihnachten. Mein Vater hatte das Bedürfnis, ein paar Schweinereien, wie er sagte, für Weihnachten zu klaufen, die selbstverständlich nicht im Budget waren, wie eine kleine Entenleberpastete oder – noch kurz vor der Kasse – ein Döschen Billig-Kaviar. Plötzlich trat ein Mann an uns heran, sagte leise zu meinem Vater, er sei Ladendetektiv und hätte ein paar Fragen an ihn. Wir sollten ihm bitte folgen, er könne jedoch auch gleich die Polizei rufen, wenn mein Vater das wolle. Das war ein überzeugendes Argument und wir trotteten bedrückt hinter dem Ladendetektiv her. Ich nahm die Hand meines Vaters, um ihm zu zeigen, dass ich bei ihm war. Wir nahmen in einem kleinen Büro im Lagerbereich der Lebensmittelabteilung an einem grauen Tisch Platz. Der Mann betrachtete uns beide. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass ein Kind anwesend war. Mit leiser Stimme erklärte er, er habe genau gesehen, dass mein Vater eine kleine Kaviardose eingesteckt hatte. Mein Vater blickte zu Boden und seufzte. Ich spürte, jetzt war der Moment, um mit dem Weinen anzufangen. Das tat ich auch, und es fiel mir nicht schwer, denn mir war wirklich zum Weinen zumute, schließlich wusste ich ja bereits, dass man ins Gefängnis kam, wenn man seine Schulden nicht bezahlen konnte. Nun blickte der Ladendetektiv zu Boden. Ich drückte noch fester die Hand meines Vaters und sah ihn an. Er versuchte zu lächeln, was ihm nicht besonders gut gelang. Dann fixierte ich mit zitternder Unterlippe den Detektiv. Schließlich zog er scharf die Luft ein und murmelte: »Also sagen wir, Sie geben mir jetzt 20 D-Mark bar auf die Hand und wir vergessen die Sache – wegen dem Kind!« Mein Vater sagte leise ja, kramte aus der Brusttasche einen zerknitterten Zwanzig-Mark-Schein, legte ihn auf den Tisch – und dann passierte das unfassbar Schreckliche. Mein Vater stand abrupt auf und alle geklauften Waren im Futter seines braunen Plüschmantels purzelten durcheinander. Es machte ein ohrenbetäubendes Klonk! Wir erstarrten alle drei. Geschockte Blicke wanderten zwischen mir, meinem Vater und dem Ladendetektiv hin und her. Eine gefühlte Ewigkeit bewegte sich keiner. Dann sog der Detektiv ganz viel Luft durch die Nase ein und ließ sie mit einem scharfen Geräusch wieder entweichen. »Gehen Sie einfach – jetzt – auf der Stelle!«, zischte er uns an. Wir marschierten schnurstracks aus dem Büro, grußlos, ohne uns auch nur ein einziges Mal umzusehen bis hinaus auf die Straße. Ich hielt immer noch die Hand meines Vaters fest umklammert, drehte langsam den Kopf zu ihm und lächelte triumphierend. Er sagte nur »Mensch, Grischi!« und drückte meine Hand. Seit diesen beiden Erlebnissen fühlte ich mich als die Retterin meiner Eltern aus allen Lebenslagen. Dieses Gefühl hat mich bis zu ihrem Tod nie wieder verlassen.

Meine Mutter hatte die Angewohnheit, Rechnungen auf einen Haufen zu legen, über den sie dann, verschmitzt lächelnd, andere Papiere stapelte, mit dem Satz: »So, jetzt sieht man sie nicht mehr und muss sie auch nicht bezahlen!« Einmal kam ein Polizist zu uns nach Hause. Es ging um einen Strafzettel und um etliche Mahnungen. Meine Mutter, die etwas cholerisch veranlagt war, fing sofort einen Streit mit dem Polizisten an, sagte, es sei einfach eine Unverschämtheit, Strafzettel auszustellen, sie werde sie aus Prinzip nicht bezahlen. Ich hatte wieder einmal Sorge, dass wir in Schwierigkeiten kämen. Der Polizist drohte mit Gerichtsvollzieher und Pfändung oder Gefängnis. Irgendwie dachte ich, dass Weinen diesmal nicht das Richtige wäre, und rannte in mein Zimmer, wo meine erst ein paar Wochen alte graue Katze Micky schlief. Behutsam trug ich sie ins Esszimmer, wo meine Mutter und der Polizist immer heftiger stritten. Der Polizist hatte seine Mütze vor sich auf dem Tisch liegen. Ich setzte meine Katze in die Mütze, woraufhin sie sich sofort gemütlich einrollte. Der Polizist betrachtete die kleine Katze, dann blickte er zu mir. Ich warf ihm einen flehentlichen Blick zu, nahm seine Hand und legte sie auf die kleine Katze. Micky schmiegte sich sofort an ihn und begann freudig, ihr Köpfchen an seinen Fingern zu reiben. Der Polizist musste kapitulieren und schmolz dahin. Er sah meine Mutter an und sagte: »Gut, dann vergessen wir die Mahnungen, und Sie bezahlen mir jetzt auf der Stelle den Strafzettel!« Zu meinem größten Entsetzen entgegnete meine Mutter bockig: »Ich habe aber kein Bargeld!« Schnell schob ich meinen Stuhl neben den Polizisten, setzte mich dicht neben ihn, streichelte meine Katze und sah ihn mit großen, um Verständnis bittenden Augen an. Schließlich schickte er meine Mutter zur Bank, und ich beantwortete brav seine infantilen Fragen, bis meine Mutter mit dem Geld zurückkam.

Die ständig drohenden Existenzsorgen bewirkten, dass ich an den absurdesten Stellen in meinem Zimmer Ersparnisse versteckte, stets sämtliche Geldgeschenke von Verwandten hortete und mit Freunden auf der Straße durch den Verkauf von selbst gepflückten Blumensträußchen oder bemalten Steinen Geld verdiente, um im Notfall meine Familie auslösen zu können. Auch versuchte ich, meinen Eltern, die nicht und nicht auf mich hören wollten, das Rauchen abzugewöhnen – einerseits aus gesundheitlichen Gründen, aber auch, weil ich Zigaretten als verzichtbare Ausgabe betrachtete. Aus jeder neuen Schachtel entwendete ich fünf Zigaretten und sammelte sie in einem kleinen Picknickkorb, den ich unter meinem Bett versteckt hatte. Eines Tages, als mein Vater nahe an der Verzweiflung war, weil ihm ausgerechnet an einem Sonntag die Zigaretten ausgegangen waren und der Zigarettenautomat kaputt war – er konnte nur mit Zigarette im Mund Text lernen –, zeigte ich ihm stolz meinen Vorrat. Zu meiner großen Überraschung waren meine Eltern keineswegs gerührt und dankbar über meinen Abgewöhnungsplan, vielmehr bezeichneten sie meine Aktion als blöde Idee und beschlagnahmten den gesamten Koffer. Als besessene Optimistin, die niemals aufgab, war mir sofort klar, dass ich zu drastischeren Mitteln greifen musste. Als meine Mutter einmal ihre brennende Zigarette im Aschenbecher liegen ließ und telefonierend mit dem Apparat in der Hand das Zimmer verließ, schnappte ich mir die Zigarette, steckte sie in den Mund und setzte mich lässig in ihren Sessel. Als meine Mutter zurückkam, sog ich gierig an der Zigarette. Es schmeckte ekelhaft und ich musste furchtbar husten. Meine Mutter fing an herumzufuchteln und deutete mir, ich solle das lassen. Ich fixierte sie, zog wieder an der Zigarette und marschierte provokant rauchend um den Sessel herum, bis sie auflegte und mich durch die Wohnung jagte. Ich fand das sehr lustig. Schließlich erwischte sie mich, nahm mir die Zigarette weg und sah mich besorgt an. Ich verstand erst nicht warum, muss zu diesem Zeitpunkt aber bereits sehr blass gewesen sein, weil ich mich kurz darauf, zuerst noch triumphierend lachend, mehrfach übergab. Trotz meines Einsatzes schafften es meine Eltern noch lange nicht, mit dem Rauchen aufzuhören, aber sie zogen es zumindest in Erwägung.

Wenige Wochen später wurde ich von einem Auto erfasst und entging das erste Mal nur knapp dem Tod. Ich war ohne zu schauen über die Straße gerannt, wurde von einem weißen Pkw angefahren und in die Luft geschleudert. Wie durch ein Wunder landete ich auf dem grasbewachsenen Hang der Böschung und kam mit ein paar Prellungen davon. Dieses Erlebnis versetzte mir zwar einen ordentlichen Schock – bis heute habe ich derartige Angst, eine Straße zu überqueren, dass ich oft ewig warte, bis wirklich kein einziges Auto mehr in Sicht ist –, gleichzeitig bestärkte es mich jedoch in dem Gefühl, im letzten Moment immer irgendwie Glück zu haben und noch einmal mit dem Leben davonzukommen. Davon bin ich nach wie vor überzeugt!

Zu Beginn der Intendanz von Peymann war mein Vater oft verzweifelt und frustriert. Bei den Proben zu Die Räuber stolperte er, weil er sehr kurzsichtig war, über einen Stock und bohrte sich diesen in den Hals. Von da an bekam er von der Krankenkasse Kontaktlinsen bezahlt und auch für meine Mutter gab es endlich Linsen. Bis dahin mussten beide hässliche Kassenbrillen mit Gläsern, die dick wie Aschenbecher waren und furchtbar drückten, tragen. Komischerweise bekam ich trotz der erblichen Vorbelastung nie eine Brille, obwohl ich gerne eine gehabt hätte, schon, um besser zu meinen Eltern zu passen. Fasziniert beobachtete ich immer, wie sie die Linsen in den Mund steckten, ablutschten, dann auf den Finger legten und sich ins Auge fassten. Wenn einer von beiden eine Linse verlor, war ich immer diejenige, die sie erfolgreich aufspürte.

Der Unfall mit dem Stock blieb bei Weitem nicht der einzige. Mein Vater war ein regelrechter Verunfaller. Ich bin nie wieder jemandem begegnet, der so oft verunglückt ist wie mein Vater, und zwar nicht nur auf der Bühne. Selbst im Urlaub passierte es ihm. Einmal tauchte er mit seinem Schauspielkollegen Peter Sattmann nach der schönsten Muschel um die Wette. Mein Vater tauchte dabei so tief, dass ihm anschließend Blut aus den Ohren lief. Peter Sattmann und mein Vater machten zur großen Freude von mir und Sattmanns Tochter, die in meinem Alter war, immer ziemlich viel Blödsinn miteinander.


Mein Vater und der Tintenfisch, Elba 1974

Gemeinsam mit den Sattmanns, Manfred Zapatka, Regine Vergeen und ihren beiden Kindern verbrachten wir einmal zwei Wochen auf Elba. Mein Vater trug dort stets ein verknotetes Stofftaschentuch auf dem Kopf, ein altes T-Shirt, weil er extrem zu Sonnenbrand neigte – Doktor Puter, wie wir ihn nannten –, und Stoffturnschuhe. Das sah an ihm besonders lustig aus, weil er sehr dünne Beine hatte. Einmal stocherte er dort, im Wasser stehend, so lange mit einem Stock nach einem Tintenfisch, der sich unter einem Felsen versteckt hatte, bis ihn dieser plötzlich packte und unter Wasser riss. Mein Vater gewann und kochte den hart erkämpften Tintenfisch anschließend. Ich weigerte mich, auch nur davon zu kosten, und war später sehr froh darüber, denn der Tintenfisch hatte die Konsistenz von Gummi, und mein Vater, der ihn unbedingt trotzdem essen wollte, bekam wenig später furchtbare Bauchkrämpfe, die fast zwei Tage anhielten.

Viele meiner Kindheitserlebnisse sind unmittelbar mit dem Theater verbunden. Als ich das Käthchen von Heilbronn sah, war ich tief beeindruckt von der Hauptdarstellerin Lore Brunner und verliebte mich Hals über Kopf in Martin Lüttge, der den Grafen Wetter vom Strahl spielte. Er blieb über Jahre hinweg mein heimlicher Schwarm, bis mich mein Vater eines Tages in der Kantine vor ihm outete. Das war mir derart peinlich, dass ich ihn mir wieder aus dem Herzen riss. Zu dieser Peymann-Inszenierung gab es noch ein Beiprogramm, einen Liederabend mit dem Titel O, Liebste, wie nenn ich dich? Das war das erste und einzige Mal, dass mein Vater auf der Bühne gesungen hat. Das Lied handelte von einem Mädchen, das mit einem Vergissmeinnicht verglichen wird. Ich fand es wunderschön und liebte diesen Abend ganz besonders.

Mit Edith Heerdegen, einer sehr zarten, weißhaarigen Schauspielerin, die mich an meine Urgroßmutter erinnerte, sang er gemeinsam Brechts Erinnerung an die Marie A. Die Stimme von Edith Heerdegen war schon sehr brüchig damals, aber die Art, wie sie sang, diese feine alte Dame, im Duett mit meinem sehr jungen Vater, berührte mich sehr. Es gab durchaus auch Anspielungen und erotische Zwischentöne, die mir nicht verborgen blieben und mich innerlich entflammten, obwohl ich noch nicht wirklich sagen konnte, warum das so war. Von diesem Liederabend wurde auch eine Schallplattenaufnahme gemacht, die man kaufen konnte. Ich war ungemein stolz, dass es eine Platte mit meinem Vater gab, konnte bald alle Lieder auswendig und imitierte genau die Interpretation jedes einzelnen Künstlers.


Die erste Schallplatte mit meinem Vater, Stuttgart 1976

Eine der schönsten Produktionen, bei denen ich dabei war, war für mich lange Der Sommernachtstraum aus dem Jahr 1977 mit meinem weiblichen Idol Anneliese Römer. Diese Inszenierung von Alfred Kirchner faszinierte mich ungemein, auch weil ein Steg durch den Zuschauerraum gebaut war, auf dem die Schauspieler in ihren prächtigen Kostümen an den Köpfen der Zuseher vorbeiflanierten. Die Bühnenbilder in Stuttgart waren von Künstlern wie Achim und Ilona Freyer oder Jan Peter Tripp. Sie verzauberten mich und versetzten mich in unbekannte Welten. Mein Vater spielte den Puck im Sommer nachtstraum. Ich musste sehr über ihn lachen – zumindest so lange, bis er auch hier verunglückte: Er war so ungestüm in einen herabhängenden Sack gesprungen, dass er sich überschlug und sich ein Loch im Kopf zuzog. Er musste von einem Arzt aus dem Publikum genäht werden.

Bei der Premierenfeier nahm mich ein Kollege meines Vaters an der Hand und fragte mich, ob er mich zu Anneliese Römer führen solle, da ich ja so ein Fan von ihr sei und immer gerne mit ihr plaudere. Freudig nickte ich und ging mit. Mein Idol saß in einem Sessel und war vollkommen betrunken. Sie nahm meine Hand und hauchte lallend meinen Namen. Ihr Alkoholatem verursachte mir beinahe Übelkeit. Ich empfand eine Mischung aus tiefem Ekel, Verachtung, Schmerz und Trauer. Mein Idol war zerbrochen. In dieser Nacht beschloss ich, niemals zum Theater zu gehen, wo großartige Künstler und Menschen zu unwürdigen Alkoholikern und Kantinengestalten mit großporiger, geröteter Gesichtshaut verkamen. Ich würde Schwarzweißfilmstar werden! Von der Filmleidenschaft meines Vaters angesteckt, war ich geradezu besessen von Schwarzweißfilmen, liebte die Ästhetik und Reinheit unberührbarer Filmschauspieler wie Cary Grant, Gregory Peck, Humphrey Bogart, Ingrid Bergman, Joan Crawford und Katherine Hepburn. Mein Vater ging eher selten in die Kantine und trank höchstens einmal ein Bier oder ein Gläschen Wein. Er hasste die sogenannte typische Kantinenatmosphäre und das frustrierte Geschimpfe von Kollegen, das sich mit zunehmendem Alkoholpegel zu regelrechten Schreiorgien steigern konnte.

Während der Proben zu dem Mammutprojekt Faust, Erster Teil und Zweiter Teil unter der Regie von Claus Peymann durfte ich in der Theaterschneiderei beim Nähen von riesigen Pimmeln für die Hexenszene mithelfen. Es war eine wilde, bacchantische Szene mit Branko Samarovski als Mephistopheles. Ich mochte Branko sehr, musste aber dauernd auf sein Glasauge starren, was mir furchtbar unangenehm war. Lüstern jagte er die Hexen, von denen eine, wenn ich mich recht erinnere, Urs Hefti mit Gummibrüsten war. Branko selber hatte, glaube ich, den größten Penis – jedenfalls fesselte mich diese Szene ungemein, löste im Publikum jedoch Empörung aus.

Dementsprechend fixiert, brachte ich regelmäßig Kollegen meines Vaters, die bei uns übernachteten und nackt durch mein Zimmer liefen, um ins Bad zu gelangen, anschließend beim Frühstück in Verlegenheit, weil ich die Form ihrer Penisse mit absurden Gegenständen verglich und auch über die unterschiedlichen Größen sinnierte. Durch die Übergriffe meines Großvaters, die sich bis in meine Zwanziger fortsetzten, war ich sehr früh sexualisiert. Ein Mädchen zu sein, war für mich ein Fluch. Als mich zwei der Töchter von Traugott Buhre, mit denen ich in den Leichtathletikverein ging, kichernd darauf aufmerksam machten, dass ich bereits einen Busen bekäme – ich war damals neun Jahre alt – brach ich weinend zusammen und hasste sie dafür.

Sehr viel Spaß machte es mir, meinen Vater in die Zoohandlung zu begleiten, wo er einen Graupapagei für die Rolle des Papageis in Thomas Bernhards Immanuel Kant studierte. Der Vogel war das Haustier des Zoohändlers, konnte sprechen und fragte mich jedes Mal in breitem Schwäbisch: »Bisch du ä Mädele?« Mein Vater litt ein wenig unter der Tatsache, dass er in dieser Inszenierung nur als Stimme vorkam, und fand es auch nicht sonderlich witzig, als ihm jemand zur Premiere Sprechperlen für Papageien schenkte. Ich nahm sie freudig an mich und kochte in meiner Puppenküche ein übel riechendes Süppchen daraus.

Bei der Premiere von Die Blume von Hawaii im Jahr 1976 erlebte ich zum ersten und extremsten Mal die totale Verwandlung meines Vaters. Er und Peter Sattmann standen im Gang vor ihrer Garderobe in Netzstrümpfen, schwarzen Stilettos, Paillettenbodys und mit blonden Perücken, künstlichen Wimpern und rot lackierten Lippen vor mir und sprachen mich an – sehr tuntig. Ich fragte meine Mutter irritiert, wo denn nun Papi sei. »Direkt vor dir!«, bekam ich zur Antwort. »Das ist doch nicht Papi!«, erwiderte ich ärgerlich. Langsam wurden mir die zwei langbeinigen Frauen unheimlich. Schließlich sagte mein Vater in seiner normalen Stimme: »Grischi, ich bin’s, der Papi!« Das war verstörend für mich. Ich konnte nicht glauben, dass diese blonde Frau mein Vater war, dass das, was ich mit den Augen sah, nicht mit dem übereinstimmte, was ich hörte, sich Information und Wissen nicht deckten. Insofern passierte hier die sicher gelungenste Täuschung einer sehr kleinen Betrachterin. Die absolute Verwandlung war von da an der Anspruch, den ich an meinen Vater als Schauspieler stellte, er musste sich so verändern, dass ich ihn nicht wiedererkannte. Die Blume von Hawaii brachte zugleich aber auch meine erste tiefe Enttäuschung von meinem Vater. Vor dem Beginn der Proben wurde ein kleines Mädchen für diese Produktion gesucht und man fragte unter anderen auch meinen Vater, ob nicht seine Tochter mitspielen wolle. Er sagte einfach nein, ohne mich auch nur zu fragen. Ich habe mir das Stück etliche Male angesehen – nicht nur wegen der Zuckerwatte, die man in der Pause bekam – und stellte mir jedes Mal dabei vor, wie ich die Rolle gespielt hätte …

Spielen war schon immer mein tiefstes Bedürfnis und meine Leidenschaft. Es ging mir dabei um die pure Lust am Spiel, um das Sich-Selbst-Vergessen. Da ich ja keine Geschwister hatte und meine Mutter eher eine Intellektuelle war, verbrachte ich viel Zeit alleine mit mir und meiner grenzenlosen Fantasie, einer Gabe, die ich als mein größtes Lebensgeschenk empfinde. Ich konnte mir schon immer alles vorstellen und stundenlang in Fantasiewelten versinken und darin glücklich sein. Dabei redete ich unentwegt leise vor mich hin – in verschiedenen Stimmen – und imitierte leidenschaftlich gerne Sprachen, die ich im Radio hörte. Wenn ich in meinen Malbüchern Bilder ausmalte, stellte ich mir vor, die Tiere und Menschen litten alle an der sogenannten Weißheitskrankheit. Während ich die Figuren durch das Ausmalen mit Farbe wieder heilte, beruhigte ich sie. Wenn ich eine Gemüsesuppe aß, stellte ich mir vor, dass die darin schwimmenden Gemüsestückchen Ertrinkende nach einem Schiffbruch wären. Die Karottenstücke mochte ich nicht so gerne, sie waren jedoch die Kinder und Frauen und mussten zuerst gerettet werden, danach erst kamen die Kartoffel-Männer.

Im Wald setzte ich mich gerne zwischen die Wurzeln eines Baumes und legte dort winzig kleine Gärten aus Moos, Eicheln, Bucheckern und Blumen an, mit einem Häuschen aus Rinde. Ich sprach mit den unsichtbaren Bewohnern, meistens Trollen und Zwergen. Als Waldorfkind begleiten einen die Zwerge, besser Zwerglein, Reh lein und Häuschen immer und überall … Manchmal verkleidete ich mich auch und experimentierte vor dem Spiegel mit meiner Mimik und Körperlichkeit oder begann zu tanzen, was meine zweite große Leidenschaft war. Dazu entledigte ich mich stets sofort meiner Unterhose, stieg im Unterhemd auf einen kleinen Hocker und tanzte mit winzigen Schritten in einem irren Tempo zu kratzenden Singles wie Hey Leute, kauft beim Trödler Abraham oder den rhythmischen Trommelklängen von Los Incas. Später gewöhnte ich mir dann an, mit Unterhose zu tanzen.


Tanzen »unten ohne«, München 1971

Mit diesen Fantasiereisen trieb ich manchmal meine Mutter in den Wahnsinn. Einmal spielte ich zum Beispiel Frau Holle nach, schlitzte alle Kissen auf und schüttelte sie aus dem Fenster in den regennassen Vorgarten des Mehrparteienhauses, in dem wir wohnten. Meine Mutter wurde von der schwäbischen Hausmeisterin gezwungen, alle Federn, die in sämtlichen Büschen und Bäumen klebten, wieder einzusammeln. Oder ich spielte reiches Kind, lief ins Bad und begann, in den Zahnputzbechern Wasser zu holen und auf den rauen, hässlichen Spannteppich meines Zimmers zu schütten. Meine Ausdauer war, wenn ich etwas wollte, schon damals sehr groß. Nach circa einer Stunde fleißigen Schüttens stand ungefähr zwei Zentimeter hoch das Wasser auf dem Boden und die kinderhassende Hausbesitzerin, die genau unter uns wohnte, rief an. Meine Mutter, die mit Grippe im Bett lag, rief laut: »Was machst du denn schon wieder?« Ich antwortete begeistert: »Ich baue in meinem Zimmer einen Swimmingpool!« Sie war, milde gesagt, wenig begeistert.

Ich war das einzige Kind im gesamten Haus. Die Hausbesitzerin, Frau Lehmann, stand den ganzen Tag am Fenster und beobachtete mich mit Argusaugen, wenn ich voller Sehnsucht am Zaun ihres großen Gartens, der übervoll mit Blumen und Obstbäumen war, entlangstrich. Niemand durfte ihn betreten. Für mein Leben gerne hätte ich einen Garten gehabt. Gärtnerin zu werden, war, glaube ich, auch mein allererster Berufswunsch, dann wollte ich Seiltänzerin, Clown, Forscherin werden, und schließlich Darstellerin von Geschichten, die ich erfinden würde, um Menschen zu helfen …

Wenn ich im Hof mit kleinen Steinchen spielte, klopfte Frau Lehmann sofort wütend ans Fenster. Auch wenn ich ein paar Nachbarskinder einlud, zu mir zu kommen, und wir fröhlich die Treppen hinaufrannten, riss sie sofort die Tür auf und zischte uns an, wir sollten gefälligst nicht solchen Lärm machen. Insgeheim äfften wir sie nach und schnitten furchtbare Grimassen, wenn wir den Namen Lehmann aussprachen.

Ansonsten habe ich die grenzenlose Freiheit und Ungestörtheit, mit der Kinder damals spielen konnten, sehr genossen. Wir verbrachten oft den gesamten Tag alleine draußen, spielten auf dem Gehsteig, legten in Gebüschen kleine Tierfriedhöfe an, erschreckten einander, indem wir schrien »Die Russen kommen!«, oder schlichen heimlich zu einem verlassenen Grundstück, auf dem eine zerbombte Villa stand, und erforschten sie. Aus heutiger Sicht undenkbar – dennoch ist keinem von uns jemals wirklich etwas passiert. Im Gegenteil, wir genossen die Selbstverantwortung und passten aufeinander auf.

Wenn mein Vater einmal keine Proben hatte, spielten wir stundenlang Filme oder Fernsehserien nach. Daktari war unser Favorit. Die Serie spielte in Afrika und handelte von einem heldenhaften Tierarzt, der mit seiner Tochter eine Tierstation führte und oft aufregende Kämpfe gegen Wilderer ausfechten musste. Mein Vater spielte Dr. Marsh, ferner den schielenden Löwen Clarence, die Schimpansin Judy, ihren von uns erfundenen Sohn Toto und diverse Wilderer. Ich war Paula, die Tochter von Marsh. Clarence, Judy und Toto hatte ich als Plüschtiere, ebenso einen Tiger mit Augen, die im Dunkeln leuchten konnten, namens Shirkan. Ihn hatten wir aus dem Dschungelbuch in unser Daktari-Spiel integriert. Die Spiele waren immer hoch dramatisch und ich steigerte mich regelmäßig dermaßen hinein, dass ich vor Aufregung furchtbar weinen musste. Meine Mutter schritt dann meistens genervt ein und beendete sie.

Ein weiteres Highlight war, wenn mein Vater und ich Kaspi und Grete spielten. Anfangs verwendete er dabei noch die Holzköpfe meiner Kasperlefiguren, mit denen ich oft vor meinen Freunden kleine Vorstellungen gab, später reichten ihm dazu nur noch seine zwei nackten Zeigefinger. Kaspi und Grete waren zwei furchtbar freche Kinder, ich spielte ihre Mutter und mein Vater zusätzlich zu den Kindern auch noch ihren Vater, der aber fast nie Zeit für sie hatte. Die Mutter musste sich immer wahnsinnig ärgern und mit den Kindern schimpfen. Auch hier steigerte ich mich regelmäßig derart in das Spiel hinein, dass ich wirklich fuchsteufelswild wurde und wir uns richtig in die Haare bekamen. Oft fing ich in meiner Wut an, Kaspi und Grete zu schlagen, und tat meinem Vater dabei weh. Es endete immer damit, dass er furchtbar beleidigt war und ich heulte.


Mein Vater und ich spielen »Kaspi und Grete«

Meine Mutter fand Spielen langweilig, insofern wartete ich stets ungeduldig, bis mein Vater endlich Zeit für mich hatte. Brettspiele und dergleichen waren ebenso ein sehr faszinierender, wenn auch nervenaufreibender Zeitvertreib mit meinem Vater. Er verstand es, jedes Spiel zu einem wahnwitzig spannenden Kampf zu gestalten, bei dem es um alles ging. Er gewann jedes Mal. Es trieb mich zur Weißglut, wenn er bei Mensch ärgere dich nicht oder Fang den Hut den Würfel mit seiner Faust umschloss und siegessicher die Zahl, die er würfeln wollte, zwischen die Finger flüsterte und sie dann tatsächlich auch würfelte. Die Art und Weise, wie er sich über seine Siege freute, die Überschwänglichkeit, mit der er lachend herumhüpfte und unzählige Male »Gewonnen!« schrie, machten mich wahnsinnig, sie provozierten mich zu regelrechten Tobsuchtsanfällen. Auch bei Wettrennen ließ mich mein Vater nie gewinnen, trotzdem versuchte ich jedes Mal verbissen, ihn zu besiegen.


Wettrennen mit meinem Vater in der Bretagne

Eine Zeit lang war ich eine sehr gute Kurzstreckenläuferin und eines Tages gelang es mir tatsächlich, ihn zu überholen! Dennoch bewirkten diese andauernden Niederlagen bei mir, dass ich mir jahrelang einbildete, ich könne überhaupt nicht gewinnen. Konsequenterweise machte ich auch viele Erfahrungen, die meine Theorie bestätigten. Es gelang mir zum Beispiel in der Schule bei einem Fahrradgeschicklichkeitstest, unter fünfundvierzig Schülern den allerletzten Platz zu ergattern, ebenso blieb ich auch immer beim Kopfrechenwettbewerb eisern bis zum Schluss stehen, weil ich meine Finger zum Nachrechnen brauchte und sie unter dem Stress wie gelähmt waren.

Mein Vater kochte leidenschaftlich gerne, es war seine Art sich zu entspannen. Meine Mutter konnte zwar auch gut kochen, aber er war definitiv der Hauptkoch in unserer Familie. Ich begleitete ihn immer in die Küche und begann parallel zu seinen kulinarischen Experimenten, bei denen er jedes Mal eine unfassbare Sauerei veranstaltete, an meinem kleinen Puppenherd, der zwei funktionierende Herdplatten und sogar ein kleines Backrohr hatte, eigene Kreationen zu erfinden. Der Grundtenor war jedes Mal, dass ich eine arme Frau war, die mit nichts etwas für ihre Kinder zum Essen machen musste, aus trockenem Brot und eventuell noch aus einem Stückchen Wurst. Gleichzeitig spielte ich die armen Kinder, die sich ihre spärlichen Mahlzeiten teilen mussten. Es war eine Art Fortführung von Hänsel und Gretel. Gretel war natürlich immer die Vernünftige und Hänsel aß immer alles gleich auf. Einmal flambierte mein Vater Fleisch und eine meterhohe Stichflamme versengte die gesamte Küchendecke. Danach strichen wir sie orange.

Zu Weihnachten kamen immer die Eltern meiner Mutter und die Mutter meines Vaters vom Bodensee angereist und blieben dann im Schnitt zwei bis drei Wochen. Das führte zu Spannungen. Melli, die Mutter meiner Mutter, war eine geschäftige Hausfrau, die gerne alle übertrieben betüdelte, dauernd hysterisch lachte und mir mit ihrem hohen Singsang und ihrem dauernden Herumgenestel an mir teilweise wahnsinnig auf die Nerven ging. Sie überschüttete mich mit Schweizer Schokolade – stapelweise –, und ich verschenkte die Tafeln heimlich immer an meine Schokofreunde und erfreute mich demgemäß äußerster Beliebtheit in der Klasse. Melli trug immer selbst genähte Hauskittel, natürlich aus Resten, war putzsüchtig und duldete in der Küche keinen Widerspruch. Das führte natürlich zu heftigen Konflikten mit meinem Vater bei den Vorbereitungen der Weihnachtsmenüs. Zwei Alphaköche liefen zur Hochform auf. Im Halbstundentakt verließ einer von beiden beleidigt die Küche und beklagte sich bei meiner Mutter. Ich werde nie vergessen, wie mein Vater und Melli einmal wütend über der Weihnachtsgans stritten – es ging darum, womit man sie am besten füllte –, und jeder abwechselnd energisch immer noch eine Zutat hineinstopfte, bis die Gans fast platzte und meine Oma ihr dann mit verbissenen Lippen den Hintern zunähte. Ich war total fasziniert und fragte mich insgeheim, ob das wirklich notwendig war oder ob sie es nur aus Wut tat, weil die Gans überstopft war. Die Mutter meines Vaters, zu der ich nur Marion sagen durfte, hielt sich aus all dem heraus, lachte viel, war ein absoluter Genussmensch und meine Favoritin.

Am Weihnachtstag durfte ich das Wohn- und Esszimmer nicht mehr betreten und beobachtete gespannt vom Kleiderschrank aus – ich kletterte andauernd auf Schränke –, wie mein Vater mit verschmitztem Lächeln immer wieder darin verschwand. Für den Heiligen Abend mussten sich alle etwas Schönes anziehen. Voller Ungeduld und Sehnsucht wartete ich auf das leise Klingeln des Glöckchens, bis ich endlich ins Zimmer durfte, und wie jedes Mal war ich vom Glanz und Schein des strahlenden Weihnachtsbaums überwältigt. Das ist und war für mich immer der schönste Moment, pure Magie: der geschmückte Baum mit den brennenden Kerzen, die eine unglaubliche Wärme ausstrahlen, der betörende Duft der Tannennadeln, die vielen glitzernden Kugeln und bezaubernden Kleinodien …

Anschließend wurde, von meiner Oma Melli auf dem Akkordeon begleitet, wie immer viel zu lange gesungen, dann endlich gab es die Bescherung. Dabei musste man immer warten, bis jeder Einzelne sein Geschenk ausgepackt und es allen anderen gezeigt hatte. Ich kam immer erst ganz zum Schluss dran, am Höhepunkt der Spannung sozusagen. Danach folgte das feierliche Weihnachtsmahl, bei dem sich mein Opa Jupp (mütterlicherseits) sein Hemd bekleckerte, was ihn in seiner militärischen Ordnungssucht zutiefst verärgerte. Ansonsten hörte man nur Ahs und Ohs oder: »Wie lecker! Mmmmh! Köstlich!« – und die orangeweißen Synthetikvorhänge neben dem Weihnachtsbaum gingen in Flammen auf. Sekundenlang waren alle wie hypnotisiert von dem nun wirklich alles überstrahlenden Licht des brennenden Weihnachtsbaums. Irgendetwas ging bei uns immer in Flammen auf, was dazu führte, dass aus mir eine leidenschaftliche Pyromanin mit einem großen Faible für Feuerwerkskörper geworden ist.

Wer nicht kämpft, hat schon verloren

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